Eigentlich ist es schade, dass so großartige Bücher wie der „Rasende Roland“ auch bei mir zwölf Jahre im Regal stehen, bevor sie gelesen werden. Was für ein Fest an Gedanken, Farben, Leben, Wahnsinn und Freude! Was für ein irrer Ritt durch ganz Europa! Was für eine Lust am Fabulieren und Sprache zu formen. Kaum ist das Buch zu Ende gelesen, kommt schon Wehmut auf, weil das nächste mit Sicherheit nicht so viel Kraft haben kann. Und die Erkenntnis, dass es sich eben doch lohnt, alte Texte zu lesen. Dass es ein Vergnügen ist, sich in die Gedanken- und Fabelwelten anderer Zeiten hineinzuversetzen und den Wahnsinn der Gegenwart in einem 500 Jahre alten Text zu spiegeln.
Das Besondere an der Ausgabe des „Rasenden Roland“, die ich zur Hand hatte, war die Mischung aus Original-Passagen und Nacherzählung von Italo Calvino. Die bringt den teils auch sperrigen Text elegant, belesen und immer gut verständlich jedem Leser nahe. Aber sie gibt dem Versepos auch genug Raum, um die ihm innewohnende Faszination entfalten zu können. Der Stoff des strahlenden Ritters, der dem Wahnsinn verfällt, weil sich seine Liebe zu einer chinesischen Prinzessin nicht erfüllen kann, stammt schon aus dem Mittelalter. Er geht auf Karl den Großen zurück, der im „Rasenden Roland“ Krieg gegen die Sarazenen und deren König Agramante führt. Roland ist einer der wichtigsten Ritter Karls und für das Kriegsglück extrem wichtig. Aber die Liebe kostet ihn erst den Verstand, dann fast das Leben und zu guter Letzt dann beides doch nicht.
Bis dahin erlebt der Leser eine Reise auf den Mond, er durchreist ganz Europa zu Fuß, auf dem Pferd und per Schiff. Und immer wieder nimmt ihn Ariost mit auf die Schlachtfelder Karls und Agramantes. Da wird Paris gestürmt und gebrandschatzt, da werden Klöster und Burgen gestürmt, gebaut, geschliffen. Und da treffen Männer und Frauen aufeinander, die sich lieben, die sich hassen, die sich nicht finden dürfen oder die sich wie der rasende Roland im Wahnsinn hinterherlaufen. Da ist das ganze Panorama menschlichen Lebens zu bestaunen. Und umwerfend viel Phantasie, die den Geist des Lesers neue Welten öffnet. Das ist viel besser als all diese Phantasy-Romane, die sich ja doch nur an den alten Stoffen bedienen.
Ein Glück gibt es immer mal wieder Urlaub – und damit Zeit und Muße, sich auf solche Texte einlassen zu können!