Er heißt nur der Krutzler. Niemand spricht anders von dem Mann, der die Wiener Unterwelt zusammen mit seinen Freunden in den Jahren nach dem 2. Weltkrieg beherrscht. Der Krutzler ist der, um den sich alles dreht. Er selbst hat so schwere Knochen, dass Leichtigkeit gar nicht zu ihm passt. Deshalb ist er auch im Zentrum – und seine Freunde, seine Geschäfte, seine Opfer drehen sich alle um ihn. Der Krutzler hat zwar Menschen auf dem Gewissen, aber vom Mordvorwurf wird er immer frei gesprochen. Denn er handelt nur aus Notwehr – selbst wenn die Notwehr gar keine ist.
Schlagwort: Kiepenheuer & Witsch
Angelika Klüssendorf beendet mit „Jahre später“ die Trilogie über April
Die literarische Aufarbeitung ihres Lebens geht weiter. Mit „Jahre später“ nimmt Angelika Klüssendorf die Schilderung der Lebensgeschichte Aprils wieder auf. Nach Kindheit, Jugend und dem Erwachsen-Werden ist jetzt das Leben als Frau, Mutter und Ehefrau im Blick. Wie schon in „Das Mädchen“ und dem namensgebenden zweiten Roman „April“ geht es um die Schwierigkeiten dieser Frau, das Leben zu meistern und Halt zu finden. „Jahre später“ beendet eine Trilogie, in der Klüssendorf mit radikaler Reduktion der Worte die maximale Ausdruckskraft findet, um von seelischen Qualen zu erzählen.
Sven Regener lässt Herrn Lehmann keine Ruh
Dieser Humor läuft sich nicht tot. Wer schon nach „Herr Lehmann“ dachte, so etwas amüsantes lässt sich nicht fortsetzen, wurde schon mit „Neue Vahr Süd“ eines besseren gelehrt. „Der kleine Bruder“ war auch köstlich. Und jetzt das: „Wiener Straße“. Ein Roman über die Zeit, die zwischen Herrn Lehmanns Zeit in Bremen und Ende der 1980er-Jahre liegt.
Sven Regener hat sich seine Helden noch einmal angeschaut und überlegt, was sie so in der Zeit dazwischen getrieben haben könnten. Wir erleben sie in der Wiener Straße, natürlich in Kreuzberg, wo Herr Lehmann und Chrissie eine WG mit Karl Schmidt und H.R.Ledigt begründen wollen. Und auf der Suche nach Geld sind. Herr Lehmann putzt dafür. Chrissie will unbedingt bei Onkel Erwin Kächele in der Kneipe bedienen. Karl Schmidt tut das schon und will das verhindern. H.R.Ledigt widmet sich seiner Kunst. Im November 1980 rücken sie in die Wohnung über dem Café ein – und sehen nichts. Denn die Wohnung ist vollkommen schwarz gestrichen. Der Vormieter war wohl lichtscheu. Die Nachmieter aber sind eher arbeitsscheu.
Mit Schlump durch den 1. Weltkrieg – das ist große Literatur
Emil Schulz hat einen Spitznamen. Er wird Schlump genannt. Das klingt ein bisschen wie Lump und etwas wie Schussel. Wie letzteres bewegt sich Schlump durch den 1. Weltkrieg. Er ist der einfache Soldat, der in der Etappe und im Schützengraben den gesamten Krieg an der Westfront erlebt. Hans Herbert Grimm hat den Roman „Schlump“ 1928 veröffentlicht. Gegen Remarques „Im Westen nichts Neues“ konnte er sich nicht durchsetzen, obwohl er vielfach sehr positiv rezensiert worden war. Im Mai 1933 landete „Schlump“ auf den Scheiterhaufen der Nazis. Und anschließend wurde das Buch vergessen.
Angelika Klüssendorf begleitet April in den Westen
„Das Mädchen“ hat jetzt einen Namen. April nennt sie sich. Und genauso heißt der Roman von Angelika Klüssendorf, mit dem sie es auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis geschafft hat. April, diese Wort klingt nach Frühling und nach Extremen, nach Schnee und Badewetter in einem, nach Frieren und Schwitzen, nach Unzuverlässigkeit und Überraschungen. Insofern passt dieser Name sehr gut zur Hauptperson des aktuellen Romans von Angelika Klüssendorf, in dem sie „Das Mädchen“ fortsetzt.
„Das Mädchen“ von Angelika Klüssendorf ist ein Meisterwerk der Reduktion
Das Mädchen hat keinen Namen. Nur ein „Ich“ der Erzählerin. Die Geschwister und die Freunde des Mädchens dagegen haben Namen. und damit etwas ganz entscheidendes für die Definition von Individualität. Angelika Klüssendorf arbeitet sich in ihrem Roman „Das Mädchen“ am Schicksal dieses Mädchens ab. Kein Wunder, ist das Leben des Mädchens doch die autobiografische Vorlage für das Buch.
Jens Sparschuh sucht Nabokovs Datsche
Ein Roman, der den Sommer schon im Titel hat, verspricht eine gute Sommerlektüre zu sein. Wenn es dann noch von Jens Sparschuh ist, dann sind Witz und Präzision eigentlich garantiert. Und wenn das Buch dann auch noch in der unmittelbaren Nachbarschaft spielt, dann ist meine Neugier natürlich groß. „Das Ende der Sommerzeit“ lohnt sich dann auch tatsächlich.
Der neue Roman von Jens Sparschuh, der sich mit Romanen wie „Der Zimmerspringbrunnen“ fest in unser Gedächtnis geschrieben hat, erzählt von einem Berliner Schriftsteller, der bei einer Gastprofessur in den USA auf Nabokovs Berliner Jahre gestoßen wird. Für einen Kollegen übernimmt er nach seiner Rückkehr die Recherche nach der Datsche Nabokovs, die im Südosten Berlins lag. Und deren Umgebung offenbar die Gegend ist, in der einer seiner Romane spielt. Bei dieser Recherche verfällt der Ich-Erzähler nicht nur Nabokov, sondern auch seinen eigenen Erinnerungen an seine Jugend, die sich in teilweise ebenfalls an den Dahmeseen südlich und östlich von Königs Wusterhausen und Friedersdorf ereignete.
Sparschuh schreibt wunderbar über unsere Seen und Wälder, wenn der Erzähler mit dem Fahrrad von der Datsche in Bestensee die Gegend erkundet. Er schreibt von verpassten Chancen und dem ersten Kuss, an den sich der Erzähler erinnert. Denn den bekam er von einem Mädchen, dessen Eltern 1968 aus Prag fliehen mussten, ausgerechnet an einem Dahme-See. Und er schreibt von Nabokov, der Sigmund Freud verachtete, den er selbst aber wegen einer zarten Liebe neu entdeckt. All diese Ebenen habe ihren eigenen Reiz. Aber keine setzt ein großes Vorwissen voraus, ohne das sich das Buch nicht genießen ließe. Darauf hat Sparschuh offenbar großen Wert gelegt. Wer aber Nobokov kennt, bekommt noch mehr Lesevergnügen geschenkt. Denn der erkennt in etlichen Formulierungen Zitate wieder. Und damit noch weitere Ebenen.
Dieses Lesevergnügen von Jens Sparschuh ist bei Kiepenheuer & Witsch erschienen. Der Roman „Am Ende der Sommerzeit“ kostet 19,99 Euro.
Christian Kracht beschreibt den Untergang des Imperiums
August Engelhardt ist einer von diesen extremen Menschen, die vor lauter Prinzipien das lebenswerte Mittelmaß vergessen. Er ist Vegetarier. Er ist Nudist. Und weil das noch nicht reicht, entwickelt er eine Lehre, in der die Kokosnuss zum Fetisch der Welterlösung wird. Aber nur, wenn man sich komplett auf die Kokosnuss verlässt, nur sie zu sich nimmt und auf jede andere Nahrung verzichtet. Bei August Engelhardt hat sich etwas verrückt. So wie bei vielen anderen Sektenführeren und Sektierern auch.
Christian Kracht hat sich diesen August Engelhardt, den es tatsächlich gab, genauer angeschaut und in ihm einen wunderbaren Romanstoff gefunden. Denn das Leben dieses schrägen Helden der Kokosnuss bietet sich an, um eine Geschichte des Niedergangs zu schreiben. Der radikale Vegetarier siedelt vor dem Ersten Weltkrieg auf die Insel Kabakon in Deutsch-Neuguinea über, um dort seinen Orden der Sonnenanbeter zu gründen und die Kokosnuss anzubauen. Da sitzt der Sonderling, dem nur begrenzte Aufgeschlossenheit entgegen schlägt. Seite um Seite wird aus dem Sonderling ein vom Wahn gezeichneter, der sich vom Bücherfreund zum Bilderstürmer, vom Vegetarismus zum Kannibalismus, vom kraftvoll gesunden Mann zur von Geschwüren übersäten Männlein verkommt. Und so wird dieser August Engelhardt zum Sinnbild einer Kultur, eines Imperiums, das sich auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges mit Giftgas entmenschlichen und massenhaft morden wird.
Christian Kracht ist vom Spiegel Rassismus unterstellt worden. Ein absurder Vorwurf, wenn man den Roman mit seinem distanzierten Ton liest. Denn der Erzähler ist Teil der Zeit zwischen 1900 und 1914. Er nähert sich seiner Figur an, hält aber Abstand. Aber eben nicht so viel, dass er den Rassismus des frühen 20. Jahrhunderts mit dem Wissen des 21. Jahrhunderts reflektiert, sondern ihn in der Zeit der Geschichte zu Wort kommen lässt. Das ist richtig, weil nur so die Figur des Asketen, der vom aufgeklärten Demokraten zum verbiesterten Antisemiten degeneriert, glaubhaft wird. Denn auch dieser Aspekt des Niedergangs ist Teil des Buches, das vor allem davon erzählt, wie die Fluchten aus einer satten und zufriedenen Gesellschaft in extreme, letztlich ungesunde und unmenschliche Experimente alles nur noch schlimmer machen.
Julian Barnes erlaubt uns „Unbefugtes Betreten“
Keines seiner Bücher hat mich bisher enttäuscht. Inzwischen sind es schon fast 30 Jahre, in denen ich mich auf jede Neuerscheinung von Julian Barnes freue. „Unbefugtes Betreten“ ist ein weiterer Band mit Erzählungen rund um das Leben und das Scheitern als Paar. Ein Stoff also, zudem eigentlich alles geschrieben sein sollte. Und doch ist der spezielle Blick und der leichte, nur etwas ironische Ton von Julian Barnes auch diesmal wieder neu und unverbraucht.
Jede der 14 Geschichten ist kurzweilig. Jede ist in einem anderen Ton geschrieben. Jede befasst sich mit Menschen anderen Alters. Bis auf die vier Folgen von „Bei Phil & Joanna“, die fast ausschließlich Dialoge einer Gruppe von Pärchen sind, die sich regelmäßig bei den beiden zum Essen und Trinken treffen. Da geht es dann dank des Alkohols auch schon mal deftiger zu. Etwa wenn es um die Frage geht, ob man als Paar nach einem solchen Abend zuhause gleich einschläft oder doch noch miteinander schläft?
Ansonsten ist Julian Barnes in den Erzählungen auch auf der Suche danach, wie man nach dem Verlust eines geliebten Menschen weiterleben kann. Dazu geht er in die Geschichte zurück, wenn er die erste Ehe Garibaldis beobachtet oder eine Arzt-Patientin-Geschichte aus dem Wien des späten 18. Jahrhunderts. Er ist aber auch ganz nah im jetzt, wenn er in Pulse (so auch der Titel im englischen Original des Buches) die gescheiterte Beziehung eines Ich-Erzählers der sich im Tod der Mutter vollendenden dessen Eltern gegenüberstellt. All das ist zart und wahr und doch auch leicht und humorvoll. Dass das Buch mit dieser Geschichte endet ist auch kein Zufall. Denn der Band ist durchkomponiert. Teils echte, meist aber Bezüge der Stimmung und des Tonfalls bauen aufeinander auf und finden ihren erzählerischen Höhepunkt in Pulse.
SPD-Pressedienst feiert Mehrings Neues Ketzer-Brevier
,SPD-Pressedienst
P/XVII/201
20. November 1962
Walter Mehrings “Neues Ketzer-Brevier”
Man liest sich durch diesen satirischen Balladen- und Chanson-Band ohne aufzuhören, so frech und couragiert, so brillant in der Form wird hier gestritten, gefrotzelt, gespottet, verhöhnt und aufgetrumpft. Aber auch sehr zarte Verse stehen darin, die in jeder lyrischen Andachtsstunde ankommen würden. Walter Mehring ist ein sehr vielseitiges, ein typisches Kabarett-Talent – kein Wunder, dass sich Kurt Tucholsky für diesen politischen Dichter so begeistern konnte.
Der ganze Text auf walter-mehring.info…