Er heißt nur der Krutzler. Niemand spricht anders von dem Mann, der die Wiener Unterwelt zusammen mit seinen Freunden in den Jahren nach dem 2. Weltkrieg beherrscht. Der Krutzler ist der, um den sich alles dreht. Er selbst hat so schwere Knochen, dass Leichtigkeit gar nicht zu ihm passt. Deshalb ist er auch im Zentrum – und seine Freunde, seine Geschäfte, seine Opfer drehen sich alle um ihn. Der Krutzler hat zwar Menschen auf dem Gewissen, aber vom Mordvorwurf wird er immer frei gesprochen. Denn er handelt nur aus Notwehr – selbst wenn die Notwehr gar keine ist.
Schlagwort: KZ
Salka Viertels Erinnerungen an ihren Bruder, den Fußball-Star Zygmunt Steuermann
Das Institut für angewandte Geschichte in Frankfurt (Oder) erinnert in einem schönen Projekt an bedeutende Fußballer Osteuropas. Einer davon ist Zygmunt Steuermann, der von seiner Familie von klein auf Dusko genannt wurde. Seine Schwester Salka Viertel erinnert sich in ihrer Autobiografie „Das unbelehrbare Herz“ immer wieder an den Bruder – „wir waren vier Kinder – Zygmunt, genannt Dusko war der Jüngste“, der weder in die juristischen Fußstapfen des Vaters noch in die künstlerischen seiner Schwester und seines Bruders Edward treten wollte.
In ihren Erinnerungen schreibt Salka Viertel über den kleinen Bruder: „Dusko (…) führte sein eigenes Leben. Er war immer irgendwo draußen und kommandierte die Bauernjungen, die die Kühe hüteten. Er ritt wie ein Zirkusakrobat, schwamm und spielte Tennis. Er war stark und schön und sah mit seinem kupferfarbenen Haar wie Jung-Siegfried aus. Meine Eltern hatte er völlig unterjocht. Papa kam nie nach Hause, ohne ihm ein Geschenk mitzubringen. Dusko war sich seiner Macht bewusst und nahm sich unglaubliche Freiheiten heraus.“ (Seite 37)
Mit zehn Jahren scheint die Erziehung des wilden Jungen fast gescheitert. Die Eltern und alle Erziehenden verzweifeln an ihm: „Man sprach davon, ihn in ein Pensionat zu stecken, da sämtliche Lehrer und Gouvernanten daran gescheitert waren, seinen entschlossenen Widerstand gegen jede Art von Erziehung zu brechen. Er war der wildeste Junge weit und breit; er spielte wunderbar Tennis und ritt zwei Ponys wie ein Zirkusartist, oft stand er nur mit einem Fuß auf dem Rücken des galoppierenden Tieres. (…) Wenn er schmutzig, übelriechend, das kupferfarbene Haar zerzaust, groß, schlank und schön, endlich zum Essen auftauchte, rügte Papa ihn mit unglaublicher Milde. (…) Dusko behandelte uns »Künstler« mit Verachtung. Niemand von uns konnte ihn im Tennis schlagen, und von Fußball hatten wir keine Ahnung. Obwohl unsere Eltern Fußball als ein Spiel für Rowdys betrachteten und nur ein sehr begrenztes Verständnis für Sport im Allgemeinen aufbrachten, waren sie von den physischen Leistungen ihres jüngsten Sohnes merkwürdig beeindruckt.“
Aus heutiger Sicht ist dieser Aspekt sehr spannend. Wer regelmäßig Fußballspiele von Kinder- und Jugendmannschaften besucht, wer schon einmal bei einem DFB-Auswahl-Turnier war, der weiß, dass Eltern alles für die Entdeckung ihres Sprößlings tun. Anfang des 20. Jahrhunderts war Sport aber noch so anrüchig, dass Eltern wie die Steuermann alles dafür taten, die Talente Duskos nicht zu fördern, sondern möglichst zu brechen.
Schon 1914, im ersten Kriegsjahr des ersten Weltkrieges mussten die gesamte Familie Steuermann das Gutshaus in Sambor verlassen und nach Wien fliehen. In Galizien verlief die Front genau dort. Sambor wurde mehrfach von Russen und Österreichern erobert und zurück erobert. Salka schreibt über diese Zeit: „Dusko war ein ausgezeichneter Sportler und vernachlässigte dafür sein Studium, so dass Papa ihn schon in der Gosse enden sah, während mir seine ständigen Forderungen nach mehr Taschengeld Sorgen machten. Optimistisch wie immer sagte Mama, sie habe ein ernstes Gespräch mit ihm gehabt, und er habe ihr einige Spielschulden eingestanden, jedoch versprochen, sich zu bessern. Ein paar Tage später suchte Großmutter vergeblich nach ihrer Diamantbrosche. Ich versuchte an Duskos Vernunft zu appellieren und war schockiert von seinem Mangel an Gefühl und von seiner Rücksichtslosigkeit gegenüber meinen Eltern. Er sagte, in einem Jahr würde er bestimmt Soldat sein, und er werde vielleicht fallen. Deshalb wolle er sein Leben genießen, so lange er könne. Ich sah ihn an, wie er so dasaß: stark, störrisch, schön und voll unverhohlener Feindseligkeit gegen mich. »Ich verstehe nicht«, sagte er, »worüber man sich aufregt. Alles, was ich will, ist etwas mehr Geld! Sogar meine Lehrer loben meine sportlichen Fähigkeiten, nur zu Hause betrachtet man Fußball als Verbrechen.« Das stimmte. Einmal hatte ich beim Essen gesagt, Dusko könnte in Amerika Karriere machen, und man solle ihn dorthin schicken. Mein Vater sah mich empört an: »Aber er ist doch kein Verbrecher, dass man ihn nach Amerika schicken müsste!«“
Später meldete sich Dusko freiwillig an die Front. Er diente in einem Artillerieregiment der K.u.K.-Truppen in der Slowakei und später an der Westfront. Nach Ende des Krieges ging es in Osteuropa weiter. Dusko zog nun die polnische Uniform an, da Sambor nun polnisch war – und die Steuermanns damit die polnische Staatsbürgerschaft bekamen. Jetzt wurde gegen die Bolschewisten gekämpft, die große Teile der heutigen Ukraine besetzten, von den Polen aber verdrängt wurden. Als er die Uniform ausziehen konnte, widmete er sich ganz dem Sport: „Dusko war nach wie vor der begeisterte Sportler. Es war schon aufregend, ihn beim Fußballspielen zu sehen, wie er in kurzen Hosen, mit schimmerndem kupfergoldenem Haar, über das Spielfeld rannte. Die Mädchen von Sambor jubelten entzückt! Dusko! Alle himmelten ihn an, außer Papa. »Vom Fußballspielen kann man nicht leben!«“ (Seite 136).
In den 1920er-Jahren wird der Ruhm des Fußballers größer: „Dusko war selten daheim. Er war in bester Form und auf dem Gipfel seines Ruhms als Fußballer. Mit seiner Mannschaft fuhr er zu Spielen in alle möglichen Städte und Länder. Auf unserer Reise nach Sambor war ich mit einem älteren, gut genährten und außerordentlich wissbegierigen Herrn ins Gespräch gekommen. Als ich unser Reiseziel nannte, fragte er mich nach meinem Mädchennamen. Geradezu überwältigt rief er: »Steuermann! Sind Sie vielleicht zufällig mit dem berühmten Steuermann verwandt?« Ich war überzeugt, dass er Edward (der ein bekannter Musiker und Komponist aus der Schule Arnold Schönbergs war – A.O.) meinte, der nach dem Krieg als Pianist und Lehrer Ruhm erlangt und einige Monate zuvor mit riesigem Erfolg in Lemberg gespielt hatte. Der Mann erklärte mir, dass er nicht Edward, sondern Dusko Steuermann meinte, den großen Sportler und Fußballer. Ich erzählte meinem Vater von diesem Intermezzo, doch er ließ sich nicht davon überzeugen, dass man durch Fußballspielen berühmt werden kann.“ (Seite 161)
Salka Viertel lebte in Dresden, Düsseldorf und Berlin mit ihrem Mann, dem Schriftsteller und Regisseur Berthold Viertel. Schon anfangs der 30er-Jahre siedelte sie in die USA um, wo sie in Hollywood eine wichtige Drehbuchautorin wurde – und ihr Haus ein Zentrum des deutschen Exils. Sie schrieb für Greta Garbo und war eine der ganz wenigen, die von der Garbo akzeptiert wurden. Dabei vergaß sie nie ihre Familie: „In diesen Jahren beschwor ich meine Mutter immer wieder, nach Amerika zu kommen und mit uns zu leben. Sobald ich die amerikanische Staatsbürgerschaft erhalten hatte, wollte ich auch Zygmunt und Viktoria herüberkommen lassen. Aber meine Mutter lehnte ab: »Es ist in meinem Alter schwer, sich an eine völlig neue Umgebung zu gewöhnen. Ich würde sehr gern
zu Besuch kommen, aber für immer von hier fortzugehen und meine drei anderen Kinder nicht mehr sehen zu können, alles zu verlassen, auch die GrabsteIle neben Papa, die mir die Stadt geschenkt hat – nein, das ist undenkbar für mich. » Wenn nur Zygmunt – das ewige Sorgenkind – eine Stellung gefunden hätte. Er hatte eine Möglichkeit, nach Palästina zu gehen, war aber nicht sehr begeistert von diesem Gedanken.“ (Seite 262)
Als sie die amerikanische Staatsbürgerschaft annimmt, denkt sie an die Familie: „Trotz meinem Widerwillen gegen Fahnenschwenken und patriotische Demonstrationen stand ich mit Tränen in den Augen da und leistete gemeinsam mit dreihundert weiteren neuen Amerikanern den Treueid, demütig und dankbar, denn von nun an waren meine Söhne freie Menschen, jetzt konnte ich meine Mutter und Dusko aus dem faschistischen Teil Europas herausholen.“ (297)
1939 reist Salka Viertel nach Paris, auch um endlich Mutter und Geschwister wiederzusehen. Doch die Politik macht einen Strich durch die Pläne: „Da Zygmunt mich drängte, nach Polen zu kommen, weil er mich seit Jahren nicht gesehen hatte, kamen wir überein, uns alle drei in Warschau zu treffen. Ich wollte am 23. August fliegen. Als ich am 21. August aus der Bretagne zurückkam, berichteten die Pariser Zeitungen von dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt. Der Hotelportier sagte mir, ich könne nur nach Kopenhagen fliegen und zusehen, wie ich von dort aus weiterkäme. Er riet, die Reise zu verschieben, da kaum Aussicht auf einen Rückflug bestünde. Während wir noch sprachen, brachte man mir ein Telegramm von Gottfried, in dem er mich eindringlich bat, nicht mehr nach Polen zu reisen; er und alle anderen seien von der Unvermeidlichkeit eines Krieges überzeugt. Auch Mr. Lawrence vom Pariser Büro der MGM riet mir auf telegrafische Weisung von Bernie Hyman dringlich von der Reise nach Polen ab. Traurig schickte ich meiner Mutter ein langes Telegramm. Sie antwortete, sie und Zygmunt hätten gerade nach Warschau fahren wollen, und ihre Enttäuschung sei groß gewesen. Sie glaubte, die politischen Spannungen würden sich wieder legen. Sie hielt es für ein gutes Zeichen, dass Zygmunt, der Reservist war, noch keine Einberufung bekommen hatte. Sie hoffte, mich in den Vereinigten Staaten zu besuchen, sobald sie ihr Visum bekäme.“
1941 leben Mutter und Sohn in Moskau – von den Überweisungen der Tochter und Schwester aus Hollywood. Von dort gelingt es Salka die Mutter in die USA zu holen. Dusko hatte sich nach er sowjetischen Besatzung dazu entschieden, die polnische Staatsbürgerschaft anzulegen und Bürger der UdSSR zu werden. Das hatte verhindert, dass er schnell deportiert wurde. Aber nach dem Angriff Hitlers auf Russland nützt ihm das nichts mehr. Zygmunt Steuermann stirbt in einem KZ.
Die Schwestern Ruzia und Salka sprechen oft darüber: „Wenn Ruzia und ich allein waren, sprachen wir über Zygmunt. Wir konnten nicht begreifen, warum er nicht nach Russland geflohen war. »Ich wage mir gar nicht vorzustellen, was Mama mitgemacht hätte, wenn sie in Sambor geblieben wäre«, sagte Ruzia.“
Hier noch ein Film des rbb-Magazins Theodor über das Projekt…
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„Da steht mein Haus“ – Die Erinnerungen Hans Keilsons
Er hat gerade noch erlebt, dass seine Erinnerungen erschienen sind. Dann ist Hans Keilson im Alter von 101 Jahren gestorben. „Da steht mein Haus“ hat der letzte deutsche Exilschriftsteller sein Buch genannt. In ihm gelingt Keilson das Kunststück 101 bewegte und bewegende Lebensjahre auf nur 140 Seiten zu komprimieren. Autobiografien sind gern sehr dick.
Der Zurückblickende schafft es oft nicht, die Fülle an Leben so zu sortieren, dass dem Leser nur das Wesentliche erzählt wird. Der Stolz, diese und jene Berühmtheit gekannt oder getroffen zu haben, erzeigt statt eines guten Lesetextes dann eher ein Nachschlagewerk, in dem das Personenregister das wichtigste ist.
Bei Hans Keilson ist das ganz anders. Er verdichtet wichtige Lebensabschnitte atmosphärisch und sprachlich so gekonnt, dass ganz konkrete Bilder im Kopf des Lesers entstehen. Wenig erstaunlich ist es, dass der Arzt und Psychoanalytiker das so gut kann. Die Schulung seiner jahrzehntelangen Praxis liefert ihm das Werkzeug, sein eigenes Leben so zu analysieren, dass eine schlüssige Erzählung daraus wird. Die Mittel des großen Schriftstellers ermöglichen es ihm, das packend und vielschichtig zu machen.
Keilsons gelingt es seinen Werdegang vom jüdischen Schüler in den 20er-Jahren in Bad Freienwalde und das anschließende Studium in Berlin genauso knapp zu schildern wie den Weg ins Exil, das Leben im Untergrund und psychoanalytische Arbeit mit traumatisierten Kindern, die das KZ überlebten. Trotz des Leids, die Familie im KZ verloren zu haben, durchzieht sein Buch und sein Leben eine tiefe Güte. Und der Wunsch die Trauer und das Leid zu verstehen. Das Buch hat ihm dabei sicher geholfen. Den Lesern hilft es ebenfalls. Denn sie haben das letzte Erinnerungsbuch eines Überlebenden des Exils gelesen.
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Schönes Ende eines Interviews
Das Gespräch mit Hans Keilson vor dessen 100. Geburtstag ist mir auch 18 Monate später noch ganz präsent. Mit seiner Frau hatte ich den Termin abgestimmt und mich auf den Weg über Amsterdam nach Bussum gemacht.
Dort lebt der letzte deutsche Exilschriftsteller in einem schönen, typisch holländischen Haus. Die Wärme des Empfangs, die Güte des Gesprächs, der Humor beim Nachdenken an die Jugend in Bad Freienwalde und Berlin, die Trauer über den Zwang ins Exil gehen zu müssen und die Klarheit beim Nachdenken über die Folgen des Nationalsozialismus wirken noch immer nach.
Keilson musste seine Heimat verlassen und hat sich eine neue erarbeitet. Keilson hat Familie verloren und eine neue begründet. Keilson hat Kindern, die aus den KZs zuück kamen als Arzt geholfen und dennoch angesichts des Leids nicht auf Rache gehofft. Keilson galt 1933 als ein verheißungsvolles Talent, als sein Debütroman bei S. Fischer erschien, und hat sich nach dem Krieg als Psychoanalytiker einen Namen gemacht. All das ist schon faszinierend und Ehrfurcht erfüllend. Aber wenn man dann mit so einem Menschen sprechen kann und eine gute Wellenlänge zueinander findet, verschwimmt das alles.
Dann sitzt einem nur ein wunderbarer, humorvoller Mensch gegenüber, der auch mit 100 Jahren noch neugierig ist. Und das so sehr, dass die Hälfte des mehr als zweistündigen Gesprächs aus meinen Antworten auf seine Fragen bestand. Die sind in dem gerade erschienenem Band nicht zu finden. Aber das Interview, das aus dem Gespräch entstand, ist die Eröffnung der Textsammlung. Und damit ein schönes Ende eines Interviews.
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