Die Gedichte von Walter Mehring sind neu erschienen

Walter Mehring: Dass diese Zeit uns wieder singen lehreEndlich gibt es wieder die Gedichte Walter Mehrings im Buchhandel. Der Zürcher Elster Verlag hat nach „Die verlorene Bibliothek“ vor wenigen Monaten eine Sammlung der wichtigsten „Gedichte, Lieder und Chansons des Walter Mehring“ (so der Untertitel) auf 200 Seiten herausgebracht. Das ist verdienstvoll für den Verlag und unglaublich bereichernd für den Leser.

Eine Neuübersetzung bringt uns den guten Soldaten Svejk noch näher

Jaroslav Hasek: Die Abenteuer des guten Soldaten Svejk im WeltkriegFast 900 Seiten hat die Neuübersetzung des Svejk. 900 Seiten Schelmenroman aus der Zeit des 1. Weltkriegs. Eine unglaubliche Fülle an Absurditäten aus der Welt der Habsburger Doppelmonarchie. Jaroslav Hasek, der freundliche Trinker aus Prag, hat in diesem Roman die Absurdität des Krieges und der Bürokratie beschrieben. Als subversiver Akt des Widerstandes gegen die österreichischen Herrscher und die Obrigkeitsgläubigkeit eines Apparates, der ohne Befehl und Gehorsam nicht auskommt, wohl aber ohne gesunden Menschenverstand.

„Unter Schwalbenzinnen“ macht aus einem Rätsel Literatur

Unter SchwalbenzinnenWir leben in einer Welt, in der fast alle wesentlichen Fragen von der Wissenschaft beantwortet werden können. Und dennoch gibt es noch immer Geheimnisse. Das Voynich-Manuskript ist ein solches. Ein Text mit vielen Bildern, der aus Versen in einer bislang noch nicht entzifferten Schrift besteht. Diese Buchstaben machen die Forschung nach wie vor ratlos. Und wenn die Wissenschaft nicht weiterkommt, dann hat die Kunst ihre große Chance. Astrid Dehe und Achim Engstler haben sie genutzt und einen überzeugenden historischen Roman aus diesem Stoff geschrieben.

Karl-Markus Gauß zeigt uns sein Leben und Denken im Alltag der Welt

Karl-Markus Gauß: Der Alltag der WeltKarl-Markus Gauß denkt weiter. Und er schreibt seine Gedanken weiter auf. „Der Alltag der Welt“ ist schon das fünfte Buch, das weder eine Sammlung von Essais, noch eine Autobiographie ist. Vielmehr ist es beides und noch viel mehr. Eine Sammlung seiner Gedanken über den Alltag und das Leben, über die Politik und das Denken.

Für Richard Swartz ist der Flohmarkt mindestens das halbe Leben

Wiener FlohmarktlebenEine Erzählung ist es nicht. Eine Novelle auch nicht. „Wiener Flohmarktleben“ von Richard Swartz ist eher ein autobiografisches Feuilleton, das von der sprachlichen Kraft eines großen Reporters lebt. Der Schwede, der seit Mitte der 70er-Jahre in Wien lebt, erzählt von seiner Sammelleidenschaft, von den sozialen Veränderungen bei den Flohmarkthändlern und der Stadt, in der jedes Wochenende die Stände mit Krims, Krams, Kunst und Kitsch stehen. Und er schildert eine wichtige Phase seiner Kindheit, in der in Stockholm von Virus der Sammelleidenschaft infiziert wurde.

All das sind erstmal nur nette Zutaten, bei denen man sich auch fragen könnte, warum man sich damit beschäftigen soll. Richard Swartz hat in seinen Büchern bislang immer nach dem gesucht, was man als das Verbindende Europas bezeichnen könnte. Genau das macht er auch in diesem Buch. Denn er schreibt von Kunst und der kulturellen Kraft des Schaffens, die seinen Stiefgroßvater als Fälscher und Kunstkenner beseelte. Genau die sucht auch der Kunde auf dem Wiener Flohmarkt. Und die Händler aus Russland, vom Balkan und aus Wien bieten genau diese sehr europäische Sehnsucht an, die sich in Gegenständen bündelt, die im gesamten Kontinent früher eine größere Bedeutung hatten als heute.

Richard Swartz schafft es, auf den knapp 190 Seiten eine packende autobiografische Geschichte zu erzählen, der man als Leser gerne folgt. Das liegt vor allem daran, dass man dem Erzähler die eigene Geschichte abnimmt und sich dann darüber wundert, wie sich die Erlebnisse der Kindheit als Gedanken und Gefühle 1700 Kilometer und etliche Jahrzehnte später in einem Bild widerspiegeln. „Wiener Flohmarktgeschichten“ ist ein schönes Buch, das davon lebt, dass man jeden Satz auf mehreren Ebenen liest. Das gelingt auch deshalb so gut, weil Verena Reichel den Band in ein wunderbares Deutsch mit Wiener Anklängen übersetzt hat. Wie immer bei Richard Swartz.

Mehr von Richard Swartz…

Maxim Leo schickt Kommissar Voss zum Auentod

Maxim Leo: AuentodAlles beginnt mit einer polnischen Hochzeit. Kommissar Voss feiert zusammen mit seiner Freundin, der Pflegerin seiner Mutter, mit viel Wodka einige Kilometer hinter der polnischen Grenze. Am nächsten Morgen wird Maja entführt. Aus einem fröhlichen Kurzurlaub wird ein Kriminalfall mit viel persönlichen Gefühlen.

Maxim Leo schickt seinen Ermittler aus der Nähe von Bad Freienwalde in sein zweites Abenteuer. Diesmal spielt die Grenze eine wesentliche Rolle, die mit dem Verschwinden Majas, einem vermeintlichen Selbstmord eines IT-Spezialisten und vielen gestohlenen Autos zu tun hat. Aber das wird erst langsam klar. Maxim Leo hat seinen neuen Krimi aus dem Oderland mit vielen klugen Beobachtungen gefüllt. Aber die Dichte der Fälle, in die Voss verwickelt wird, hätten vielleicht auch für zwei Bücher gereicht.

Das Beste am neuen Krimi ist die Entdeckung Polens. Und dabei der unverstellte Blick von Maxim Leo auf das Nachbarland. Leo hat in Polen die Augen geöffnet und die deutschen Vorurteile versucht zu vergessen. Wenn überhaupt, dann bricht er sie auf amüsante Art. Dennoch vergisst er nicht, die Spannung aufzubauen. Die Polizeiarbeit ist in sich logisch, auch wenn sich Voss nicht wirklich an die Regeln hält. Die persönliche Verstrickung in den Fall vernebelt ihm den freien Blick auf das Geschehen. Der meint stets, zu wissen, um was es geht. Aber Maxim Leo hat immer noch eine Drehung mehr zu bieten. Und genau das macht das Buch fast zu voll von Ideen und Tätern und Handlungssträngen. Dennoch lohnt sich der zweite Fall von Kommissar Voss.

Karl Schlögel zieht Lektionen aus dem Ukraine-Krieg

Karl Schlögel: Entscheidung in KiewDer Krieg Russlands in der Ukraine hat Europa viel nachhaltiger verändert, als es den meisten politischen Beobachtern und der Öffentlichkeit bewusst ist. Davon ist Karl Schlögel überzeugt. Der Osteuropa-Historiker, der bis zu seiner Emeritierung an der Viadrina in Frankfurt (Oder) lehrte, hat in seinem neuen Buch nicht nur eine Einordnung der russischen Aggression vorgelegt, sondern auch eine persönliche Überprüfung des eigenen Denkens über die ukrainische Geschichte. Dazu hat er sich vor allem seiner wichtigsten Methode bedient, der Städteporträts, bei denen er die historischen Schichten der Stadtgeschichte freilegt.

Doch die ersten knapp 100 Seiten seiner „ukrainischen Lektionen“ – so der Untertitel des Buches – sind ein Essay, in dem er fragt, warum die Ukraine nach wie vor nicht als selbständiges Subjekt im Westen wahrgenommen wird. Schlögel schildert, wie auch er Kiew und die anderen Städte der Ukraine immer aus der Sicht des russischen, beziehungsweise sowjetischen Imperiums wahrgenommen hat. Als Orte in der Peripherie wurden sie immer auf Moskau und das Reich bezogen. Ihre Eigenständigkeit ist dabei vergessen worden. Und doch ist die Ukraine ein Land mit einer lange historischen Tradition, mit einer Sprache, die kein russischer Bauerndialekt ist, sondern eigenständig ist. Wer das vergisst und immer nur den Blickwinkel der imperialistischen Herrscher in Moskau einnimmt, denkt die Ukraine zwangsläufig als Teil Russlands – und wird damit einem der größten europäischen Länder nicht gerecht.

Ein weiteres Problem ist nach Schlögels Sicht die Gleichsetzung von Russland und der Sowjetunion, wenn es um den 2. Weltkrieg geht. Schlögel wählt deshalb des Begriff „Sowjetmensch“, wenn er von den Opfern in generalisierter Form spricht. Denn die deutsche Wehrmacht und die SS haben auf dem Gebiet der Sowjetunion vor allem in Weißrussland und der Ukraine ihren brutalen Krieg geführt. Millionen sowjetischer Zwangsarbeiter waren Ukrainer – mehr als Russen. Und bei Rückzug fielen der „verbrannten Erde“ tausende ukrainische Dörfer und Städte zum Opfer. Schlögel wirbt dafür, sich das bewusst zu machen, um die Ukrainer besser verstehen zu können.

In seinen Städteporträts der wichtigsten ukrainischen Städte legt er die historischen Schichten frei, die in ihn zu entdecken sind. Und dabei ist er wiederum sehr genau in den Benennungen. Sowjetische, russische, ukrainische Einflüsse werden als solche benannt, genauso wie jüdische, griechische, polnische oder deutsche. Wer sich mit Schlögel auf den geistigen Stadtrundgang durch Kiew macht, erlebt die enorme Vielfalt der Stadt, sieht die Narben, die deutsche und  sowjetische Diktatoren und ihre Schergen hinterlassen haben, lernt wo welcher Opfer gedacht wird – und wie enorm der Blutzoll im Krieg war – und in der Ära Stalins. Schlögel zeigt aber auch die Schönheit und die positiven Hinterlassenschaften. Er enthält sich eines Urteils. Und wird den Städten so gerecht.

Das gilt auch und gerade für Donezk, der inzwischen teilweise zerstörten Stadt des angeblichen Bürgerkriegs, der de facto das Ergebnis russischer Aggression mit russischen Soldaten und russischen Waffen ist. Schlögel war erst in diesem Jahr wieder in der Stadt. Er erzählt von den Menschen, die geflohen sind, von ganzen universitären Lehrkörpern, die ihre Tätigkeit in andere ukrainische Städte verlegt haben. Gerade am Beispiel Donezk macht er deutlich, wie nachhaltig die Veränderungen durch die russische Aggression für ganz Europa sind.

„Nullnummer“ von Umberto Eco ist ein Ärgernis

Umberto Eco: NullnummerBislang habe ich mich auf jeden Roman von Umberto Eco gefreut. Als ich von „Nullnummer“ hörte, war ich neugierig und voller erfreuter Anspannung. Aber jetzt, nachdem ich den Roman gelesen habe, bin ich richtig enttäuscht. Zum einen ist das Buch mit seinem Plot nicht wirklich gut. Vor allem aber ist die Botschaft des Textes ein echtes Ärgernis. Umberto Eco liefert eine Anleitung, mit der alle Pegidisten und sonstigen Demokratiefeinde ihre „Lügenpresse“-Rufe begründen können. Denn im Kern sind Zeitungen ein Mittel, um mit Lügen politische, ökonomische oder kulturelle Akteure erpressen zu können. Wahrheit oder kritischer Dialog in einer pluralistischen Öffentlichkeit spielen dabei keine Rolle.

Umberto Eco erzählt die Geschichte einer Zeitungsredaktion, die ein Jahr Zeit hat, um an Nullnummern zu arbeiten. Diese will der Eigentümer verwenden, um auf Verantwortliche in Politik und Verwaltung Druck aufzubauen. Denen will er mit den Nullnummern zeigen, was er bewirken könnte, wenn er eine Zeitung hätte. Und deshalb ist die Zeitung darauf aus, mehr zu erzählen, als in den Abendnachrichten schon bekannt war. Das lässt sich mit Nullnummern natürlich gut machen. Vor allem, wenn diese nicht aktuell produziert werden, sondern nachträglich. Aber die Methoden dafür sind dennoch nicht redlich. Ziel des Chefredakteurs ist es, Menschen bloß zu stellen und das Vertrauen in sie zu erschüttern. Mit den Mitteln des Boulevards ist das kein Problem. Das alles wäre als Plot ganz nett, wenn nicht der Eindruck erweckt würde, letztendlich arbeiten alle Zeitungen so. Ganz so, wie es sich die rechten Demokratiefeinde mit ihren Rufen von der „Lügenpresse“ zu meinen glauben.

Die zweite Geschichte, die Umberto Eco erzählt, ist die des Fortlebens faschistischer Strukturen in Italien nach dem 2. Weltkrieg. Es geht dabei um die Loge P2 und die Geheimdienstaktionen von Gladio. Eco behandelt die Frage, ob Mussolini doch überlebt hat und mit Hilfe der Kirche nach Argentinien entkommen konnte. Das alles ist nichts Neues. Alles hat er schon in seinen Kolumnen behandelt. Und andere italienische Schriftsteller haben den Stoff der Nachkriegs-Verstrickungen auch schon behandelt. Insofern findet sich in „Nullnummer“ auch nicht Überraschendes.

Vielleicht mag all das für den heimischen, italienischen Lesemarkt von Interesse sein. Da verfangen auch die Analogien zum Presseimperium Silvio Berlusconis. Aber – und das ist wirklich ärgerlich – Umberto Eco entwirft ein ganz und gar miserables Bild von Medien, Gesellschaft und Politik. Nur im privaten Glück zweier am Projekt Nullnummer beteiligten Journalisten scheint etwas Positives auf. Zweisamkeit also als Ausflucht aus einer vollständig korrumpierten Welt, in der es nicht den Hauch einer funktionierenden Presse, eines gesellschaftlich sinnvollen politischen Engagements gibt. Das ist allerdings arg wenig. Die recht logische Konstruktion des Buches, in dem mit Vergangenheiten, Gegenwarten und Zukünften gespielt wird, wiegt das Ärgernis über Second-Hand-Verarbeitung des Nachkriegsstoffes und die grundsätzlich fatalistische Gesamtaussage nicht auf – auch wenn Burkhart Kroeber einen guten deutschen Text erzeugt hat.

 

Das Opfer ist das erstaunliche Debüt von George Tabori

George Tabori: Das OpferGeorge Tabori war gerade 30 Jahre alt, als er seinen Debüt-Roman veröffentlichte. Geboren in Budapest als Jude, für den Ungarisch und Deutsch die Sprachen seiner Kindheit waren, dann als Jugendlicher in Berlin, um unter anderem im Adlon eine Ausbildung im Hotelfach zu machen, dann 1935 nach England zu seinem Bruder emigriert, war für ihn Sprache das Mittel, um zu Leben. In London konnte er als Journalist arbeiten und zwischen 1941 und 1943 dann als Auslandskorrespondent in Sophia und Istanbul. Hier sammelte er auch die Erfahrungen, die er in „Das Opfer“ verarbeitete.

Tabori nimmt die Perspektive eines Majors der Wehrmacht ein, der für den Geheimdienst arbeitet. Auf dem Balkan im Haus des Schwiegervaters ist er, als ein Engländer, der in ziviler Kleidung mit dem Fallschirm abgesprungen ist, von seinen Soldaten aufgegriffen wird. Diese beiden Männer sind der Kern, des kammerspielartigen Romanaufbaus. Ein Geheimdienstoffizier und die Frau des Majors sind die weiteren Figuren, die in den wenigen Stunden vom Nachmittag des Aufgriffs bis zum nächsten Morgen handeln. Alles andere sind Erinnerungen des Majors und des Geheimdienstmannes, der den Engländer schon lange beobachtet hat. Er vor allem erzählt dessen Geschichte.

Und die spielt an den Orten, die auch George Tabori erlebt und gekannt hat. Vor allem in Ungarn und in Istanbul. In Ungarn hat der Engländer seine große Liebe kennengelernt. Mit einem Schiff, das mit jüdischen Flüchtlingen völlig überfüllt ist, versucht sie über das Schwarze Meer zu ihm nach Istanbul zu fliehen. Aber hier darf das Schiff nicht anlegen. Die Menschen müssen an Bord bleiben, werden abgewiesen und schließlich sinkt das Schiff kurz nach der Ausfahrt aus dem Bosporus. George Tabori hat ein solches Schiff in Istanbul tatsächlich gesehen, er war sogar an Bord, sah die miserablen Zustände an Bord. Und hat in seinem Roman diese Eindrücke erdrückend beschrieben.

Auf nur 260 Seiten schildert er erstaunlich zurückhaltend all die Zwänge und Hoffnungen, in denen sich der Major, der Engländer, deren Frauen und die vielen Opfer des Krieges befinden. Dabei vermeidet er es, zu urteilen. Das überlässt er dem Leser. Und macht ihn damit zum Komplizen. Dass das weder der amerikanischen noch der englischen Kritik 1944 sonderlich gefiel, ist nachzuvollziehen. Doch das macht den Text nur noch besser. Denn Tabori hat keinen Bekenntnisroman wie etwas Anna Seghers mit ihrem „Siebten Kreuz“ geschrieben, sondern ein packendes Psychogramm, das noch dazu mit einem überraschenden Ende eine große Hoffnung zu Ausdruck bringt.

Der Steidl Verlag hat den Roman als ersten Band der Gesammelten Werke Taboris veröffentlicht.

Sabine Rennefanz sucht das Dunkle in der Familiengeschichte

Sabine Rennefanz: Die Mutter meiner MutterSabine Rennefanz wurde 1974 in Beeskow geboren. Aufgewachsen ist sie in Eisenhüttenstadt. In ihrem Buch „Eisenkinder“ hat sie davon schon viel erzählt. In ihrem neuen Buch „Die Mutter meiner Mutter“ spielt die Heimat der jetzigen Berlinerin in Ostbrandenburg erneut eine ganz wichtige Rolle. Links der Oder kommt ihre Großmutter Anna mit Stiefmutter und zwei Brüdern in einem Dorf nach der Vertreibung aus dem jetzigen Westpolen an, um nach dem Krieg ein neues Leben zu beginnen.

Wie schwierig dieses Leben für Anna tatsächlich war, ahnt Sabine Rennefanz ganz lange nicht. In ihrem autobiografischen Text nähert sie sich ihrer Familie an, ergründet, weshalb Anna immer so abweisend war. Weshalb sie Berührungen und Herzlichkeit vermied und immer so anders war, als die Großmütter ihrer Freunde. Sie sucht nach den Gründen, weshalb auch ihre Mutter und deren Schwestern seelische Narben haben, die auch ihnen das Leben erschweren. Der Text, der dabei entsteht, liest sich wie ein Roman, ist aber ein Blick in die historische Wahrheit und die Gedanken- und Seelenwelt von Sabine Rennefanz.

Großmutter Anna arbeitet in dem ostbrandenburgischen Dorf als Magd auf dem Hof eines kinderlosen Ehepaars als Magd. Bald schon ist sie mehr als nur eine Bedienstete. Die Wendlers schließen sie ins Herz, werden eine Art Ersatzeltern. 1949 kommt Friedrich aus russischer Gefangenschaft zurück. Er gehört auch ins Umfeld der Wendlers, hat am Ende des Krieges seine Frau verloren. An einem Schlachttag vergewaltigt er Anna, die sich daraufhin umbringen will. Die Wendlers bringen Friedrich dazu, Anna zu heiraten. Mit ihm bekommt sie noch zwei weitere Kinder. Aber sie schläft immer in einem anderen Zimmer und zieht sich immer weiter zurück. Selbst auf die Straße in dem kleinen Dorf geht sie kaum.

So einfach, so brutal ist die eigentliche Geschichte. Aber die kennen die Kinder und Enkel gar nicht. Denn sie wird verschwiegen. Sie kennen Friedrich nur als liebevollen Vater und Großvater. Erst nach seinem Tod im November 1989 kommt die Geschichte heraus, weil sich die einzige damalige Freundin, der sich Anna damals anvertraut hatte, gegenüber Sabine Rennefanz Mutter verplappert. In der Folge beginnt sich die Autorin immer wieder mit dem schwarzen Fleck in der Familiengeschichte zu beschäftigen. Ihre Gedanken kreisen um das Thema, bis sie sich zum vorliegenden Text formen. Dabei wird aus der eigenen Familiengeschichte dann doch eine Art Roman, der immer wieder an Oskar Maria Grafs „Aus dem Leben meiner Mutter“ erinnert. Denn Rennefanz bindet das Geschehen auch in die Geschichte ein. Die Vergewaltigung geschieht zeitgleich mit der Gründung der DDR. Der Vergewaltiger stirbt, als die DDR im November 1989 untergeht. Als die Bürger der DDR die Lügen der Autoritäten nicht mehr ertragen, endet die Autorität des Vaters.

Es macht die besondere Qualität des Buches von Sabine Rennefanz aus, dass solche Parallelitäten nicht aufgesetzt wirken, sondern schlüssig sind. Denn wesentlicher Teil der Dorf- und Familiengeschichte ist es ja auch, dass Wahrheiten generell nicht ausgesprochen wurden. Und wenn doch, dann haben sie negative Konsequenzen. Wie für Mutter Monika, die sich in der Schule positiv zum Prager Frühling äußert und dafür beim Fahnenappell vorgeführt und gedemütigt wird. Und so erzählt Sabine Rennefanz de facto eine furchtbare Heimatgeschichte, sich über Generationen auswirkt und die Seelen mehrerer Generationen belastet und krank macht.