Endlich gibt es wieder die Gedichte Walter Mehrings im Buchhandel. Der Zürcher Elster Verlag hat nach „Die verlorene Bibliothek“ vor wenigen Monaten eine Sammlung der wichtigsten „Gedichte, Lieder und Chansons des Walter Mehring“ (so der Untertitel) auf 200 Seiten herausgebracht. Das ist verdienstvoll für den Verlag und unglaublich bereichernd für den Leser.
Das älteste Gedicht, „Höllenbahn“, ist 100 Jahre alt. Es ist eine atemlose Reihung von Wörtern, die voller expressiver Kraft das Wesen von Zügen atemlos artikuliert. Herausgeber Martin Dreyfus hat nur ein Gedicht aus der absoluten Frühzeit Mehrings in seine Auswahl aufgenommen, um zu zeigen, wie er begann. Als Expressionist im Kreis von Herwath Walden. Literarisch anregender und sprachlich viel ausgefeilter sind dann all die Gedichte, die aus den 1920er-Jahren die unglaubliche Alltagstauglichkeit in Ton und Form aufzeigen.
Walter Mehring war nicht nur ein bedeutender Kabarett-Autor, sondern vor allem ein großer Dichter, der den Alltag, die Moderne, die Großstadt, das Zusammenleben in Verse und Strophen brachte, die in allen sprachlichen Schattierungen Resonanzen erzeugen. Dreyfus hat genau auf diese dichterische Kraft bei seiner Auswahl wert gelegt. Man könnte jetzt bemängeln, dass viele große und bekannte Chansons, die von Kurt Weill, Marcellus Schiffer oder Werner Richard Heymann vertont wurden, fehlen. Aber das würde Mehring zu sehr auf die frühen 1920er Jahre einengen. Er selbst hat diese Einengung auf das Kabarett Zeit Lebens bekämpft.
Und das zu Recht, wie die Gedichte aus diesem Band „Dass diese Zeit uns wieder singen lehre“ zeigt. Denn Mehring beherrscht zwar die Satire, ja er hat immer einen Blick fürs Politische, doch dabei vergißt er den fühlenden, hörenden, liebenden, leidenden Menschen nicht. Im Gegenteil. gerade bei den Texten aus dem Exil ist das Existenzielle so bedeutsam, dass das individuelle Leid so prägnant erfühlbar wird, dass einem auch heute noch ein Schauer überfällt. Das liegt zum einen an der klaren Sprache, die auch heute noch gar nicht antiquiertes hat, sondern unglaublich gegenwärtig klingt. Und es liegt an den Bildern, die Mehring erzeugt, die z.B. seinen „Emigrantenchoral“ wie ein Gedicht der jetzt im Moment flüchtenden Menschen wirken lässt.
Und genau diese Aktualität durchzieht ganz viele Gedichte. Natürlich gibt es auch Gedichte, die den Widerstand gegen den Nationalsozialismus und den Rassismus als Kern haben. Bei diesen Texten ist neben der konkreten Aussage die Hellsichtigkeit Mehrings frappierend, wenn man sich klar macht, wann er sie geschrieben hat. Er war wirklich einer der ganz großen deutschen Dichter des 20. Jahrhunderts. Einer, den viele entdecken sollten. Vielleicht hilft das Buch dabei – und belohnt so den verlegerischen Mut, einen Lyrik-Band eines leider halb-vergessenen Autoren zu veröffentlichen. Die Auswahl ist repräsentativ für das Gesamtwerk – und deshalb unbedingt lesenswert.
Mehr Mehring im Elster Verlag:
Die verlorene Bibliothek
Dass diese Zeit uns wieder singen lehre
Sturm und Dada
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