Zum 65. Geburtstag streunt Karl-Markus Gauß durch sein Zimmer

Karl-Markus Gauß: Abenteuerliche Reise durch mein ZimmerKarl-Markus Gauß wird heute 65 Jahre alt. Kurz zuvor ist sein neues Buch erschienen. In einem Alter, in dem die meisten Menschen zum Rentner werden, blickt auch er zurück. Aber er macht das nicht in einer autobiografischen Erzählung, in der aus Ereignissen die passende vergangene Zukunft konstruiert wird. Gauß schaut sich vielmehr in seiner Wohnung um und destilliert aus Gegenständen eine Vergangenheit, die ihn selbst und seine Familie vor allem in einen europäischen Kontext stellt. Was sich jetzt vielleicht etwas konstruiert und anstrengend liest, ist aber ein fröhlicher Genuss. Denn Gauß entführt den Leser Seite um Seite in (Gedanken-) Welten, die anregend und vor allem den eigenen Blick erweiternd sind.

Karl-Markus Gauß zeigt uns sein Leben und Denken im Alltag der Welt

Karl-Markus Gauß: Der Alltag der WeltKarl-Markus Gauß denkt weiter. Und er schreibt seine Gedanken weiter auf. „Der Alltag der Welt“ ist schon das fünfte Buch, das weder eine Sammlung von Essais, noch eine Autobiographie ist. Vielmehr ist es beides und noch viel mehr. Eine Sammlung seiner Gedanken über den Alltag und das Leben, über die Politik und das Denken.

Richard Wagner lockt nach Habsburg – in Bibliothek einer verlorenen Bibliothek

Richard Wagner: HabsburgAlles, was sich mit Habsburg verbindet, ist Erinnerung. Die vor knapp 100 Jahren untergegangene Doppelmonarchie hat statt eines riesigen Vielvölkerstaates nur einen Rumpf namens Österreich und eine Reihe anderer Staaten hinterlassen. Und Erinnerungen in Büchern, in Steinen und Gebäuden, in Gerichten und Kaffeehauskultur. Habsburg lebt also weiter. Richard Wagner, der Banat-Deutsche Schriftsteller, der in Berlin lebt, hat eine „Bibliothek einer verlorenen Welt“ erfunden – und Habsburg damit ein literarisches Denkmal aus Essais, Gedankensplittern und realen Büchern aus der untergegangen Welt erdacht.

Ein bisschen erinnert das Buch an Walter Mehrings Autobiografie „Die verlorene Bibliothek„, in der anhand der beschlagnahmten Bibliothek des Vaters eine Kulturgeschichte seiner Zeit erinnerte. Ganz ähnlich geht Wagner vor. Anhand von realen Büchern und einem enormen historischen Wissen begeht er die literarischen Räume der Vergangenheit. Dabei stellt er uns natürlich Franz Kafka und Joseph Roth vor. Aber auch Leo Perutz, Karl Emil Franzos und vor allem auch Bücher und Autoren, die in den anderen Sprachen des Vielvölkerstaates schrieben. So entsteht – in Kombination mit Rezepten typischer Gerichte, die es in abgewandelter Form in allen Kaffeehäusern des ehemaligen Reiches noch heute gibt – ein sinnliches und literarisches Gesamtbild dieses Habsburgs.

Richard Wagner gelingt es, viele Traditionsstränge bis in die Gegenwart zu ziehen. Seine oft kurzen Texte sind Gedankenblitze, die das Gesamtbild erhellen und beleuchten. Von besonderem Interesse sind die Verweise, die auf die Nationen verweisen, die neben den Deutschen in der Doppelmonarchie lebten. Nur bei den Ukrainern verlässt Wagner der kritische Geist. Ihnen spricht er eine nationale Eigenständigkeit ab. Er betont den Beginn der russischen Geschichte mit dem Kiewer Rus – und damit das Recht Moskaus noch heute über die Ukraine herrschen zu wollen. Das aber ist erstaunlich unhistorisch in diesem so historischen Buch. Mit einer ähnlichen Begründung müsste Kaliningrad schleunigst wieder deutsche werden. Immerhin ist Königsberg der Ausgangspunkt des preußischen Königtums. Oder große Teile Russlands müssten Litauen zugeschlagen werden, denn die Herrschaft der Litauer reichte einst bis weit über Weißrussland und die Ukraine hinaus. Richard Wagner konterkariert mit dem Teil über die Ukraine den Ansatz seines ganzen Buches. Da ist doppelt ärgerlich. Zum einen, weil es schlicht falsch ist. Zum anderen, weil der Rest des Buches wunderbar ist.

Michael Ebmeyer sortiert Schwarz-Rot-Gold bei der WM

Michael Ebmeyer: Das Spiel mit Schwarz-Rot-GoldHeute wehen sie wieder überall: die Fahnen in schwarz-rot-gold. Selbst 1990, als Deutschland das letzte mal Weltmeister wurde, gab es das in dieser Form nicht. Trotz „Wir sind ein Volk“ und deutscher Einheit war die deutsche Fahne damals noch nicht selbstverständlich. Der Autor Michael Ebmeyer hat dieses Phänomen in einem Essay beleuchtet. Und wirklich Erhellendes dazu geschrieben.

Für Ebmeyer waren deutsche Fahnen in den 80er-Jahren genauso fremd wie mir. Wer sich damit zeigte, stellte ein seltsam zurückgewandtes Weltbild zur Schau. Noch heute wirkt auf ihn die schwarz-rot-gold-selige Beflaggung nicht unbedingt sympathisch. Aber Ebmeyer verharrt nicht in solchem Denken. In seinem schlauen Büchlein sucht er, was der gerade heute wieder zu erlebende Umgang mit dem Staats-Symbol wohl bedeutet. Natürlich findet er rechte Dumpfbacken. Aber er erinnert auch daran, wann und wo sich die schwarz-rot-goldene Ausgelassenheit beim Fußball eingestellt hat. Das war erstmals bei der WM 2002 in Berlin. Und dann 2006 natürlich in Berlin und dem ganzen Land. Es waren vor allem Migranten, die sich mit der deutschen Fahne als Teil eines Landes präsentierten, das schon viel weiter war, als es viel politisch Verantwortlichen noch wahrhaben wollten.

Es waren diejenigen in der bunten Republik, die in der multikulturellen Nationalelf eine Möglichkeit zur Identifikation mit ihrer eigenen Heimat, mit Deutschland entdeckten. Und die dies genauso auslebten, wie mit ihren türkischen oder anderen Bezügen. Nämlich durch das Zeigen der Flagge. Ebmeyer schafft es, dies alles in einen Kontext zu stellen, der tatsächlich den Fußball und seine Identifikationskraft in den Mittelpunkt stellt. Dabei scheut er auch nicht davor zurück, Adorno in Frage zu stellen und Luhmann als theoretisches Rüstzeug zur Argumentation heranzuziehen. Und ist in diesem schmalen Bändchen ein intelligenter Essay zu lesen, der Spaß macht. Und nachdenklich. Und Hoffnung darauf, dass dieses schwarz-rot-gold vor allem eins nicht mehr ist: rückwärts gewandt und spießig. Sondern links, weltoffen und multikulti.

Michael Ebmeyer: Das Spiel mit schwarz-rot-gold. Kein & Aber, 7,90 Euro.

Jan Philipp Reemtsma gegen Folter im Rechtsstaat

„Wir sind, was wir tun. Und wir sind, was wir versprechen, niemals zu tun.“ Jan Philipp Reemtsma (53) fast in diesen beiden Sätzen seinen Essai „Folter im Rechtsstaat?“
zusammen. Ausgehend vom Franfurter Fall Jakob Metzler, als die Polizei dem vermeintlichen Täter mit Folter drohte, entwickelt der Soziologe eine Verteidigung
des Folterverbotes. Wer das Buch jetzt vor dem Hintergrund der Diskussion um CIA-Foltergefängnisse und Guantanamo liest, dem wird bewusst, wie radikal sich die
westliche Welt seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 veränderte.

Die Angst vor der Bedrohung löst das Werte-Fundament auf. Reemtsma schreibt dagegen
an. Das macht er kenntnisreich und stringent. Aber manchmal etwas zu verkopft.

Jan Philipp Reemtsma,  Folter im Rechtsstaat?, Hamburger Edition