Im Moskau der 1920er-Jahre treffen sich Literaten jeden Samstag, um ihre Ideen auszutauschen. Der Ort ist eine Bibliothek mit leeren Regalen. Bücher gibt es für sie nicht mehr. „Der Club der Buchstabenmörder“ ist sich sicher, dass Buchstaben auf Papier Ideen nicht befördern, sondern töten. Und sie glauben zu wissen, dass echte Überzeugungen das Ende der Freiheit sind. Sigismund Krzyzanowski (1887 – 1950) entwirft ein Szenario des literarischen Austauschs in einer Diktatur, die das eigenständige Denken als Gefahr begreift.
Autor: Andreas
Frank Witzel phantastische Reise in den Kopf eines depressiven Teenagers
Der Roman ist 800 Seiten dick – und das auch noch in einer kleinen Schrift. Wer sich auf „Die Erfindung der RAF durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ einlässt, muss also viel Zeit investieren. Da stellt sich schnell die Frage, ob sich das lohnt? Für all jene, die sich auf barocke Vielfalt bei Inhalt und Form einlassen können unbedingt. Und für all jene, denen Lesen mehr als ein netter Zeitvertreib ist, wird dieses Buch eine schier unglaubliche Fülle an Entdeckungen bereithalten.
Die Gedichte von Walter Mehring sind neu erschienen
Endlich gibt es wieder die Gedichte Walter Mehrings im Buchhandel. Der Zürcher Elster Verlag hat nach „Die verlorene Bibliothek“ vor wenigen Monaten eine Sammlung der wichtigsten „Gedichte, Lieder und Chansons des Walter Mehring“ (so der Untertitel) auf 200 Seiten herausgebracht. Das ist verdienstvoll für den Verlag und unglaublich bereichernd für den Leser.
Wolke 4: Hymne für das Mittelmaß
Als ich das Lied das erste Mal hörte, hat es mir ganz gut gefallen. Und als bei einem Festival das gesamte Publikum den Refrain von Philipp Dittberner lauthals mitsang, war ich richtig erfreut. Aber je häufiger ich „Wolke 4“ im Radio höre, umso mehr ärgere ich mich über den Text.
„Ziemlich gut, wie wir das so gemeistert haben.
Wie wir die großen Tage unter kleinen Dingen begraben.
Der Moment, der die Wirklichkeit maskiert.
Es tut nur gut zu wissen, dass das wirklich funktioniert.“
Okay. Das klingt noch nach: Wir haben uns aber ganz schön toll zusammengerauft! Aber ist es wirklich so erstrebenswert, die großen Tage unter den kleinen Dingen des Alltags zu begraben? Begraben? Es kann doch nicht schön sein, Freude, Lachen, Spaß, Lust und Liebe zu begraben! Wie groß muss die Depression sein, um „große Tage“ begraben zu wollen! Und dann weiter:
„Lass uns die Wolke vier bitte nie mehr verlassen,
Weil wir auf Wolke sieben viel zu viel verpassen
Ich war da schon ein Mal, bin zu tief gefallen.
Lieber Wolke vier mit Dir, als unten wieder ganz allein“
Hallo? Der Herr will nicht allein sein? Und dann ist es für ihn allemal besser, er findet eine Dame (oder einen anderen Herrn), die ihn schön in die Arme nimmt? Eine, die es aushält, dass der Gute schon mal richtig toll geliebt hat, dabei aber auf die Schnauze gefallen ist – und deshalb lieber das Mittelmaß bei ihr sucht, als die große Liebe?
„Hab nicht gesehen, was da vielleicht noch kommt.
Was am Ende dann mein Leben und mein kleines Herz zerbombt.
Denn der Moment ist das, was es dann zeigt, dass die Tage ziemlich dunkel sind.
Doch Dein Lächeln bleibt. Doch Dein Lächeln bleibt…“
Das Herz des Kerls wurde zerbombt! Und jetzt sucht er Trost! Bei der Anderen, der zweiten Wahl, die dazu auch bitte unbedingt lächeln soll! Was ist das für ein weinerlicher und selbstgefälliger Kerl, der da vor sich hin singt? Und auch noch erwartet, dass die andere sich darüber freut, dass er sich in Zukunft dauerhaft bei ihr ausheulen will – und die Höhepunkte des Lebens lieber gleich begraben will anstatt sie zu feiern?
Kann es sein, dass sich noch niemand den Text wirklich angehört hat? Oder gelesen hat? Oder ist der Song von Philipp Dittberner die Hymne einer Generation (oder etwas kleiner: einer großen Gruppe) von lebensuntauglichen Muttersöhnchen, die ja nichts riskieren wollen?
Eine Neuübersetzung bringt uns den guten Soldaten Svejk noch näher
Fast 900 Seiten hat die Neuübersetzung des Svejk. 900 Seiten Schelmenroman aus der Zeit des 1. Weltkriegs. Eine unglaubliche Fülle an Absurditäten aus der Welt der Habsburger Doppelmonarchie. Jaroslav Hasek, der freundliche Trinker aus Prag, hat in diesem Roman die Absurdität des Krieges und der Bürokratie beschrieben. Als subversiver Akt des Widerstandes gegen die österreichischen Herrscher und die Obrigkeitsgläubigkeit eines Apparates, der ohne Befehl und Gehorsam nicht auskommt, wohl aber ohne gesunden Menschenverstand.
„Unter Schwalbenzinnen“ macht aus einem Rätsel Literatur
Wir leben in einer Welt, in der fast alle wesentlichen Fragen von der Wissenschaft beantwortet werden können. Und dennoch gibt es noch immer Geheimnisse. Das Voynich-Manuskript ist ein solches. Ein Text mit vielen Bildern, der aus Versen in einer bislang noch nicht entzifferten Schrift besteht. Diese Buchstaben machen die Forschung nach wie vor ratlos. Und wenn die Wissenschaft nicht weiterkommt, dann hat die Kunst ihre große Chance. Astrid Dehe und Achim Engstler haben sie genutzt und einen überzeugenden historischen Roman aus diesem Stoff geschrieben.
Wenig Alkohol, viel Pop und noch mehr Musik bei Suchtpotenzial
Wahnsinn, dieser weibliche Witz von Suchtpotenzial. Wunderbar, diese Wucht der Stimmen von Julia Gámez Martin und Ariane Müller. Die beiden Frauen singen sich durch die Sorgen und Wünsche von Frauen. Sie träumen von Musikern und Männern generell. Sie beklagen zu große und zu kleine Brüste und fordern deshalb C-Cup für alle. Und sie machen sich über Gitarre spielende Männer lustig, die ihren Liebeskummer als Singersongwriter meinen kompensieren zu können.
Die Themen kommen aus dem Alltag der beiden ausgebildeten Musikerinnen, die sich am Theater in Ulm kennenlernten. Sie sind prägnant, sie haben konsequent einen weiblichen Blick und sie scheuen auch vermeintliche Peinlichkeiten nicht. Etwa, wenn in „Penisneid“ beklagt wird, dass der Mann überall strullern kann, die Frau aber nicht. Aber die Frau, die kann dafür immer – und benötigt keine Medikamente, um richtig zu können. Aus solchen alltäglichen Peinlichkeiten machen die beiden kraftvolle Lieder, die von der erstaunlichen Varianz und Kraft ihrer Stimmen leben – und vom Witz, dem sie auf der Bühne wirklich alles unterordnen.
Bei ihrem Berliner Auftritt im Comedy Club Kookaburra waren sie mit Pause fast zweieinhalb Stunden auf der Bühne. Die Kneipe war für die preisgekrönte Stimme Martins fast schon zu klein. Umso schöner war die Nähe, um das Spiel und die Mimik der beiden beobachten zu können. Da ihr Fach eigentlich das Musical ist, haben sie jede Geste, jeden Blick auf Lager – von Operndiva bis Headbanger, von Chansonette bis Rapper. Das einzige, das an dem Abend störte, war der Name des und der Bezug auf das Programm. Warum „100 Prozent Alko-Pop“? Suff ist wirklich nicht nötig, um ein kleines Suchtpotenzial nach den beiden Frauen zu verspüren. Und alle Gags an diesem Abend sind besser als jene, die sich auf Alkohol als Mittel zum Lockermachen beziehen. Das haben Julia Gámez Martin und Ariane Müller nicht nötig. Sie müssen sich nicht hinter Suff und Bedröhnung verstecken. Vielleicht waren sie beim Schreiben des Programms noch nicht so locker, wie gestern auf der Bühne. Aber selbst die Strophe über Porno in „Sinn des Lebens“ war in keinster Weise geschmacklos, sondern nur zum Brüllen komisch!
Bitte mehr davon! Da das Programm schon 2013 entstanden ist, wird es Zeit für neue Lieder, neue Geschichten und noch mehr Martin/Müller. Denn die haben wirklich Suchtpotenzial.
Gedenkstätte Hohenschönhausen (2) – Türen
Karl-Markus Gauß zeigt uns sein Leben und Denken im Alltag der Welt
Karl-Markus Gauß denkt weiter. Und er schreibt seine Gedanken weiter auf. „Der Alltag der Welt“ ist schon das fünfte Buch, das weder eine Sammlung von Essais, noch eine Autobiographie ist. Vielmehr ist es beides und noch viel mehr. Eine Sammlung seiner Gedanken über den Alltag und das Leben, über die Politik und das Denken.
Für Richard Swartz ist der Flohmarkt mindestens das halbe Leben
Eine Erzählung ist es nicht. Eine Novelle auch nicht. „Wiener Flohmarktleben“ von Richard Swartz ist eher ein autobiografisches Feuilleton, das von der sprachlichen Kraft eines großen Reporters lebt. Der Schwede, der seit Mitte der 70er-Jahre in Wien lebt, erzählt von seiner Sammelleidenschaft, von den sozialen Veränderungen bei den Flohmarkthändlern und der Stadt, in der jedes Wochenende die Stände mit Krims, Krams, Kunst und Kitsch stehen. Und er schildert eine wichtige Phase seiner Kindheit, in der in Stockholm von Virus der Sammelleidenschaft infiziert wurde.
All das sind erstmal nur nette Zutaten, bei denen man sich auch fragen könnte, warum man sich damit beschäftigen soll. Richard Swartz hat in seinen Büchern bislang immer nach dem gesucht, was man als das Verbindende Europas bezeichnen könnte. Genau das macht er auch in diesem Buch. Denn er schreibt von Kunst und der kulturellen Kraft des Schaffens, die seinen Stiefgroßvater als Fälscher und Kunstkenner beseelte. Genau die sucht auch der Kunde auf dem Wiener Flohmarkt. Und die Händler aus Russland, vom Balkan und aus Wien bieten genau diese sehr europäische Sehnsucht an, die sich in Gegenständen bündelt, die im gesamten Kontinent früher eine größere Bedeutung hatten als heute.
Richard Swartz schafft es, auf den knapp 190 Seiten eine packende autobiografische Geschichte zu erzählen, der man als Leser gerne folgt. Das liegt vor allem daran, dass man dem Erzähler die eigene Geschichte abnimmt und sich dann darüber wundert, wie sich die Erlebnisse der Kindheit als Gedanken und Gefühle 1700 Kilometer und etliche Jahrzehnte später in einem Bild widerspiegeln. „Wiener Flohmarktgeschichten“ ist ein schönes Buch, das davon lebt, dass man jeden Satz auf mehreren Ebenen liest. Das gelingt auch deshalb so gut, weil Verena Reichel den Band in ein wunderbares Deutsch mit Wiener Anklängen übersetzt hat. Wie immer bei Richard Swartz.