Grenzen sind unverrückbar. Nach fast 75 Jahren Frieden in Europa – oder zumindest in dessen größtem Teil – ist dies für viele Europäer eine Gewissheit. Und doch haben sich gerade in Europa die Grenzen immer wieder verschoben. Ganz besonders häufig im Raum zwischen Elbe und Memel. Im Mai 2018 entdeckten Studenten der Viadrina in Frankfurt (Oder) eine Grenze, die es nicht mehr gibt: die zwischen Deutschland und Polen der Jahre 1918 bis 1939.
Schlagwort: 1. Weltkrieg
Viktor Schklowskij schildert die Grauen der Oktoberrevolution
Die Oktoberrevolution und ihre Folgen haben die Welt verändert wie nur ganz wenige Ereignisse der Weltgeschichte. Was in Moskau zunächst eher ein seltsamer Staatsstreich war, wuchs sich zu einem unglaublich brutalen Bürgerkrieg aus. Der Literaturwissenschaftler Viktor Schklowskij erlebte die Revolution in Petersburg als Panzerfahrer. Später war er als Kommissar an unterschiedlichen Fronten. Sein Bericht mit dem zynischen Titel „Sentimentale Reise“ ist eine lakonische Beschreibung ungeheuren Leids und unvorstellbaren Chaos‘.
Eine Neuübersetzung bringt uns den guten Soldaten Svejk noch näher
Fast 900 Seiten hat die Neuübersetzung des Svejk. 900 Seiten Schelmenroman aus der Zeit des 1. Weltkriegs. Eine unglaubliche Fülle an Absurditäten aus der Welt der Habsburger Doppelmonarchie. Jaroslav Hasek, der freundliche Trinker aus Prag, hat in diesem Roman die Absurdität des Krieges und der Bürokratie beschrieben. Als subversiver Akt des Widerstandes gegen die österreichischen Herrscher und die Obrigkeitsgläubigkeit eines Apparates, der ohne Befehl und Gehorsam nicht auskommt, wohl aber ohne gesunden Menschenverstand.
Mit Schlump durch den 1. Weltkrieg – das ist große Literatur
Emil Schulz hat einen Spitznamen. Er wird Schlump genannt. Das klingt ein bisschen wie Lump und etwas wie Schussel. Wie letzteres bewegt sich Schlump durch den 1. Weltkrieg. Er ist der einfache Soldat, der in der Etappe und im Schützengraben den gesamten Krieg an der Westfront erlebt. Hans Herbert Grimm hat den Roman „Schlump“ 1928 veröffentlicht. Gegen Remarques „Im Westen nichts Neues“ konnte er sich nicht durchsetzen, obwohl er vielfach sehr positiv rezensiert worden war. Im Mai 1933 landete „Schlump“ auf den Scheiterhaufen der Nazis. Und anschließend wurde das Buch vergessen.
Sinaida Hippius beschreibt die russischen Revolutionen
Sie war in der Literaturszene des frühen 20. Jahrhunderts in Russland eine wichtige Größe: Sinaida Hippius. Sie war mit allen wichtigen Intelektuellen bekannt, ihre Gedichte wurden gelesen und ihre Mitarbeit bei Zeitschriften und Zeitungen geschätzt. In der Anderen Bibliothek jetzt ein besonderes Buch von ihr erschienen: die „Petersburger Tagebücher 1914 – 1918“.
Die Horen suchen den europäischen Blick auf den Ausbruch des 1. Weltkriegs
Allerorten wird an den Ausbruch des 1. Weltkriegs vor 100 Jahren erinnert. Der Bundespräsident reist nach Frankreich und Belgien, die Zeitungen füllen Seiten mit historischen Betrachtungen und Auszügen aus zeitgenössischen Zeitungsartikeln und Tagebüchern. Überall ist der Rückblick auf den mörderischen Krieg Thema. Die Literaturzeitschrift „Die Horen“ hat auch einen Beitrag dazu geleistet. Einen Beitrag, der sehr lesenswert ist.
Aleppo in Zeiten des Krieges
Am 12. September 1917 bekam Rudolf Tillmetz (1880 – 1966) vom Auswärtigen Amt in Berlin den Auftrag, nach Aleppo aufzubrechen. Der Kunstmaler sollte an der Deutschen Schule unterrichten. Das Auswärtige Amt ordnete an, dass ihm alle Stellen dabei helfen sollten.
Seit drei Jahren führte das Deutsche Reich Krieg. Auch im Osmanischen Reich war es nicht mehr überall ruhig. Aber eine Stadt wie Aleppo schien auf jeden Fall sicherer und deutlich besser versorgt als München. Insofern war ein Engagement an der dortigen Schule ein gutes Angebot für den Bruder meines Urgroßvaters.
Heute ist wieder Krieg. Aber nicht n Deutschland – nur in Syrien. Der Chef des Auswärtigen Amtes ist mit Beschwichtigungen beschäftigt. Hilfe für jene, die seit 19 Monaten gegen den Diktator Assad kämpfen, gibt es von Guido Westerwelle nicht. Die Altstadt, die Rudolf Tillmetz kannte, gibt es wegen des Beschusses durch Assads Truppen von der Zitadelle aus – und durch die Luftwaffe – nicht mehr. Und unzählige Menschen, die auf die Unterstützung des Auswärtigen Amtes und des gesamten Westens gehofft hatte, sind gefallen.
Selbst am Ende des 1. Weltkrieges ging das Leben in Aleppo weiter – trotz des neuen Status als französische Kolonie. Die Stadt hat diesen Krieg überstanden. Rudolf Tillmetz auch. Seit vielen Jahren will ich Aleppo besuchen. Immer wieder hat es nicht geklappt. Vor 20 Jahren reichte es immerhin für Damaskus, aber nicht für Aleppo. Aleppo bleibt ein Traum. Inzwischen leider einer, der nie mehr so erfüllt werden kann, wie ich es immer wünschte. Und das auch, weil uns im Westen Aleppo und Syrien ziemlich egal ist. Leider.
Angezogen von Krisen und Kriegen
Gute Journalisten haben Neugier, Empathie und Leidenschaft. Bei Kriegsreportern kommt noch Abenteuerlust hinzu. Das zumindest meint Lutz Kleveman, der zehn Jahre aus allen Krisengebieten der Welt berichtete. Seine Erfahrungen hat er in einem Buch gebündelt.
Lutz Kleveman ist Mitte 20, als er sich entschließt, etwas erleben zu wollen. Nach dem Studium in Frankreich und England fängt er beim „Daily Telegraf“ als freier Journalist an. Um Geschichten verkaufen zu können, geht er in Länder, in denen die Redaktion keine Korrespondenten hat. Das sind vor allem Krisen- und Kriegsgebiete.
Im Spiegelsaal von „Clairchens Ballhaus“ in Berlin-Mitte berichtet Kleveman von seinem Weg. Inzwischen ist er 37 und „Herbergsvater“, wie er selbst sagt. Das elterliche Gut im Landkreis Cuxhaven hat er von der Landwirtschaft auf Tagungen und Seminare umgestellt. Auf dem ersten Blick ist vom Kriegsreporter nicht viel geblieben.
Aber wenn er beginnt zu erzählen, wie unverwundbar er sich fühlte, weil der Journalist Kleveman mit Warlords und einfachen Menschen sprechen konnte, dann wird klar, dass noch immer diese Leidenschaft in ihm brennt. „Wenn ich jetzt als Tourist reise, merke ich doch, dass ich mit niemandem mehr ins Gespräch komme. Das war schon geil als Journalist“, resümiert er seine aktive Zeit. In seinem Buch „Kriegsgefangen“ hat er diese zu Papier gebracht.
In ihm schildert er seinen Weg durch die Krisen und Kriege in Ex-Jugoslawien, Liberia und die Elfenbeinküste, Tschetschenien, den Irak, Afghanistan, Kolumbien, Nordkorea und Burma, Laos und Vietnam. Aber er reiht seine Erlebnisse nicht nur aneinander. Vielmehr verknüpft er sie mit der Frage, warum es ausgerechnet ihn, der als vierter Sohn weder Zivildienst noch Wehrdienst leisten musste, in den Krieg zog.
Dabei blickt Kleveman in die Familiengeschichte. Er begibt sich auf seine „Deutsche Spurensuche“, als er sich mit den Briefen seines Großvater aus der russischen Kriegsgefangenenschaft im 1. Weltkrieg beschäftigt. Dessen Bruder wiederum war der erste Verwundete 1914. Der zweite Bruder ist als Generalstäbler gefallen. Und der Großvater hat im 2. Weltkrieg entschieden, welcher Bauernsohn der Umgebung unabkömmlich war und wer an die Front musste – auch noch als ihm längst klar war, dass der Krieg verloren ist.Das Militärische ist also überall. So wie im Traditionszimmer des Gutes, in dem Waffen, Uniformen und Büsten von Soldaten aufbewahrt waren.
Zwar wird bei der Buchvorstellung in „Clairchens Ballhaus“ nicht vollständig klar, weshalb es den nachgeborenen Enkel in die Kriegsgebiete zog. Aber es wird deutlich, dass ihn die Gewalt faszinierte. „Wir sprechen immer von sinnloser Gewalt. Aber das stimmt nicht. Gewalt ist ein Weg, Dinge durchzusetzen,“ sagt Kleveman. Vor allem da, wo die staatliche Ordnung zusammengebrochen ist, müsse man immer bedenken, dass Gewalt für diese Menschen sinnvoll sei.
Solange er selbst keine Gewalt am eigenen Körper erlebte, machte sie ihn nur neugierig: „Egal ob Dealer oder Soldaten, die Jungs waren in meinem Alter. Ich fand es interessant, sie zu beobachten und zu beschreiben.“ Und dabei ein so ganz anderes Leben zu entdecken, als es in Deutschland gelebt wird.
Der Schatten des Großvaters, der Klevemans ältere Brüder noch für Klimmzüge wie in einer privaten Kadettenanstalt in den Garten befohlen hatte, ist übermächtig. Davor flieht er. Wie überhaupt vor Deutschland. Beim „Daily Telegraf“ schaffte er es monatelang, seine Herkunft zu verleugnen. Dass er für die totale Abgrenzung von der eigenen Familiengeschichte ausgerechnet in die kriegerischen Fußstapfen des Großvaters tappte, ist ihm erst in Afghanistan klar geworden.
Als er dann in Vietnam durch Verbrecher das erste Mal selbst verletzt wird, ist ihm klar, dass das Dasein als Kriegsreporter enden muss. So wie er es seiner Mutter versprochen hatte. Die letzte Reise wird die auf den Spuren des Großvaters an die Stationen der Gefangenschaft. Es wird dadurch auch eine Reise zu ihm selbst, auf der er Frieden mit der Familie und den Deutschen schließt.
„Kriegsgefangen“ beschreibt die Gefangenschaft des Großvaters. Viel mehr aber schildert es die Last, die Kleveman stellvertretend für viele Nachgeborene erforscht. Es geht um den Krieg, der noch immer nachwirkt, der Familien noch immer gefangen nimmt – im speziellen Fall natürlich auch anhand von zehn Jahren Erlebnissen zwischen Kindersoldaten, Drogendealern und Warlords.
Lutz Kleveman: Kriesgefangen. Siedler Verlag, 22,99 Euro
Der Text ist am 11. September 2011 in der Märkischen Oderzeitung erschienen…