Viktor Schklowskij schildert die Grauen der Oktoberrevolution

Viktor Schklowskij: Sentimentale Reise Die Oktoberrevolution und ihre Folgen haben die Welt verändert wie nur ganz wenige Ereignisse der Weltgeschichte. Was in Moskau zunächst eher ein seltsamer Staatsstreich war, wuchs sich zu einem unglaublich brutalen Bürgerkrieg aus. Der Literaturwissenschaftler Viktor Schklowskij erlebte die Revolution in Petersburg als Panzerfahrer. Später war er als Kommissar an unterschiedlichen Fronten. Sein Bericht mit dem zynischen Titel „Sentimentale Reise“ ist eine lakonische Beschreibung ungeheuren Leids und unvorstellbaren Chaos‘.

Die Reportagen von Albert Londres verblüffen durch Aktualität

Albert Londres: Ein Reporter und nichts als das
Albert Londres: Ein Reporter und nichts als das

Albert Londres kannte ich bislang nicht. Dass er ein großer französischer Journalist in den Zwischenkriegsjahren war, wusste ich nicht. Aber jetzt habe ich „Ein Reporter und nichts als das“ gelesen. „Die Andere Bibliothek“ hat wieder einmal Texte zugänglich gemacht, die in Deutschland bislang nicht verfügbar waren. Drei Bücher haben Christian Döring als Herausgeber und Linda Vogt als Lektorin in einem Band zusammengefasst. Und alle drei sind Reportagen von großer Klarheit.

„China aus den Fugen“ ist im Mai 1922 erschienen und schildert die Situation zehn Jahre nach der Abdankung des letzten Kaisers. „Ahashver ist angekommen“ ist eine Reise durch das jüdische Leben in Westeuropa, den Ghettos Osteuropas und im Palästina der Zionisten in den Jahren 1929 und 1930. Und „Perlenfischer“ ist das Ergebnis einer Recherche zwischen dem Golf von Oman und dem Golf von Aden im Jahr 1931. Jedes dieser Bücher ist ein erstaunlicher Reportageband. In ihrer Fülle sind sie ein fulminantes Zeugnis davon, was dieses Genre kann.

Das wird vor allem bei „Ahashver ist angekommen“ deutlich. Londres beginnt in London, sich auf die Suche nach dem Leben und dem Denken der Juden zu machen. Er lernt die reichen und die armen Juden kennen. Er besucht Talmud-Schulen und spricht mit Zionisten, die eine jüdische Zukunft nur in Palästina sehen. Von dort macht sich Londres auf den Weg über Westeuropa ins östliche Mitteleuropa, in die Tschechoslowakei, nach Polen und Russland. Er erlebt die kaum vorstellbare Armut der Juden in den Karpaten oder dem Lemberger Ghetto. Er reist zusammen mit Menschen, die sieben Sprachen fließend sprechen, aber es nicht schaffen sich aus den furchtbaren Zuständen ihrer Heimatorte zu befreien. Er lernt Wunderrabbis kennen und überall sieht er Fotografien von Theodor Herzl, dem Begründer des Zionismus. Londres erfährt, was die Juden Europas bewegt, wie unterschiedlich sie denken – und wie antisemitisch die Gesetzgebung Polens war, wie diskriminierend Tschechen, Slowaken, Rumänen, Ukrainer oder Russen mit der Minderheit in ihrer Mitte umgingen. Londres hört überlebenden der Pogrome in Russland zu. Und so versteht er immer besser, warum sich ein Teil der Juden in den tiefen Glauben flüchtete und ein anderer sein Heil in der Auswanderung ins Land der Vorväter in Palästina suchte.

Wer diese Reportage heute, nach der Shoa, liest, erschrickt zwangsläufig. Nicht nur, weil hier eine Welt auflebt, die durch die Mordmaschinerie der Nazis vernichtet wurde. Nein, man erschrickt auch, weil der Hass auf die Juden als ein europäisches Phänomen geschildert wird. Denn das diskriminiert werden, ja das ermordet werden, gehörte für die Juden auch in den 21 Jahren zwischen 1. und 2. Weltkrieg zum Alltag.

Sein Besuch im englischen Mandatsgebiet, in dem sich die Zionisten niederlassen durften, ist ebenfalls von einer ungeheuren Hellsichtigkeit. Londres beschreibt die Konflikte mit den Arabern, er schildert auch dort einen Pogrom gegen die Juden – und er beobachtet verblüfft, wie sie die jüdischen Einwanderer in den Dienst des Aufbaus eines jüdischen Staats stellten, ohne auf die einstige Stellung in Europa zurückzublicken. Wer etwas über das Entstehen des Nahost-Konflikts erfahren will, ist hier richtig. Denn Londres zeichnet bei seiner Reportage aus den Jahren 1929 und 1930 genau die Konfliktlinien nach, die noch heute entscheidend sind. Und er erfasst die Mentalität eines Volkes, das sich aus der Diskriminierung und Verfolgung befreit, um den eigenen Staat zu schaffen. Londres schafft es dabei, immer Distanz zu wahren. Ihn begeistern der Wille und die Zielstrebigkeit. Aber er versteht auch die Araber. Er nimmt keine Partei, sondern schafft es nur Kraft seiner Beobachtung und seiner klaren und prägnanten Stils, aufzuklären. Ein Meisterwerk eben.

Will Eisner zeichnet ein Comic gegen den Judenhass

Wenige Hetzschriften wirken so lange und so verheerend wie „Die Protokolle der Weisen von Zion“. Will Eisner, der große – im Januar verstorbene – Meister des Comics, erzählt die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte in Bildern.

Will Eisner kam 1917 in Brooklyn zur Welt. Seine Eltern waren Juden aus Österreich, die ihr Glück in New York suchten. Hätten sie diesen Schritt nicht gewagt, wären er und seine Eltern sehr wahrscheinlich genauso wie sechs Millionen andere europäische Juden von den
Nazis ermordet worden. Eines der wichtigsten Bücher, auf die sich Hitler und die Nazis
immer wieder in ihrem Judenhass beriefen, waren die „Protokolle der Weisen von Zion“.

Für Hitler waren sie echt. Davon, dass es sich dabei um eine üble Fälschung handelt,
wollte er nichts wissen. In den Protokollen wird eine angebliche Sitzung der einflussreichsten Juden wiedergegeben. Auf ihr sollen sie beschlossen haben, die Weltherrschaft zu übernehmen. Alle Vorurteile über die jüdisch-kapitalistische Weltverschwörung sind in diesem Band versammelt.

Doch das verheerende Buch stammt aus der Feder eines Fälschers des Geheimdienstes des russischen Zaren. Gedacht war es, um die Juden für Unruhen verantwortlich zu machen. Es fiel auf furchtbar fruchtbaren Boden. Schon im Zarenreich kam es zu
Progromen an Juden. In den folgenden mehr als hundert Jahren wurde es in alle wichtigen
Sprachen mehrfach übersetzt.

Zurzeit ist es bei islamistischen Terroristen eine gern gelesene Lektüre zur Anzettelung des Hasses gegen Israel. Will Eisner zeichnet die erschütternde Geschichte des Machwerks
in düsteren, eingängigen Bildern. Da es sich dabei leider um keine abgeschlossene Geschichte handelt, ist Eisner darauf angewiesen, erklärende Zwischentexte und Fußnoten zu verwenden. Das wirkt bei einem Comic zwar etwas seltsam, ist aber dennoch zulässig.
Denn Eisner will aufklären. Er wählt den Comic, um sein Thema an Menschen zu bringen,
die niemals ein Geschichtsbuch in die Hand nehmen. Sein Comic kann sie erreichen. Das ist hervorragend. Besser als Geschichtsstunden in der Schule – und einprägsamer.