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Neben all den Gittern, der Kargheit der Zellen und der allgegenwärtigen Überwachung springt in der Gedenkstätte Hohenschönhausen, dem ehemaligen Stasi-Knast, noch etwas ins Auge: Die blasse Spießigkeit der Tapeten, die billige Musterung der PVC-Böden, die triste Nachahmung von Holz auf den Sprela-Platten der Tische. Neben dem Grau in den Zellen ist die Blässe der Räume für die Bewacher die zweite dominierende Farbumgebung. Nichts Schrilles. Nichts wirklich Buntes. Nichts Frohes. Nur Tristesse. Und eben verstockte, bieder-verklemmte Freudlosigkeit. Ein Interieur, das Häftlingen und Stasi-Verhörern und -Bewachern nicht einen kraftvollen, fröhlichen Reiz für die Augen bietet. Nur furchtbare Spießigkeit.
Der Krieg Russlands in der Ukraine hat Europa viel nachhaltiger verändert, als es den meisten politischen Beobachtern und der Öffentlichkeit bewusst ist. Davon ist Karl Schlögel überzeugt. Der Osteuropa-Historiker, der bis zu seiner Emeritierung an der Viadrina in Frankfurt (Oder) lehrte, hat in seinem neuen Buch nicht nur eine Einordnung der russischen Aggression vorgelegt, sondern auch eine persönliche Überprüfung des eigenen Denkens über die ukrainische Geschichte. Dazu hat er sich vor allem seiner wichtigsten Methode bedient, der Städteporträts, bei denen er die historischen Schichten der Stadtgeschichte freilegt.
Doch die ersten knapp 100 Seiten seiner „ukrainischen Lektionen“ – so der Untertitel des Buches – sind ein Essay, in dem er fragt, warum die Ukraine nach wie vor nicht als selbständiges Subjekt im Westen wahrgenommen wird. Schlögel schildert, wie auch er Kiew und die anderen Städte der Ukraine immer aus der Sicht des russischen, beziehungsweise sowjetischen Imperiums wahrgenommen hat. Als Orte in der Peripherie wurden sie immer auf Moskau und das Reich bezogen. Ihre Eigenständigkeit ist dabei vergessen worden. Und doch ist die Ukraine ein Land mit einer lange historischen Tradition, mit einer Sprache, die kein russischer Bauerndialekt ist, sondern eigenständig ist. Wer das vergisst und immer nur den Blickwinkel der imperialistischen Herrscher in Moskau einnimmt, denkt die Ukraine zwangsläufig als Teil Russlands – und wird damit einem der größten europäischen Länder nicht gerecht.
Ein weiteres Problem ist nach Schlögels Sicht die Gleichsetzung von Russland und der Sowjetunion, wenn es um den 2. Weltkrieg geht. Schlögel wählt deshalb des Begriff „Sowjetmensch“, wenn er von den Opfern in generalisierter Form spricht. Denn die deutsche Wehrmacht und die SS haben auf dem Gebiet der Sowjetunion vor allem in Weißrussland und der Ukraine ihren brutalen Krieg geführt. Millionen sowjetischer Zwangsarbeiter waren Ukrainer – mehr als Russen. Und bei Rückzug fielen der „verbrannten Erde“ tausende ukrainische Dörfer und Städte zum Opfer. Schlögel wirbt dafür, sich das bewusst zu machen, um die Ukrainer besser verstehen zu können.
In seinen Städteporträts der wichtigsten ukrainischen Städte legt er die historischen Schichten frei, die in ihn zu entdecken sind. Und dabei ist er wiederum sehr genau in den Benennungen. Sowjetische, russische, ukrainische Einflüsse werden als solche benannt, genauso wie jüdische, griechische, polnische oder deutsche. Wer sich mit Schlögel auf den geistigen Stadtrundgang durch Kiew macht, erlebt die enorme Vielfalt der Stadt, sieht die Narben, die deutsche und sowjetische Diktatoren und ihre Schergen hinterlassen haben, lernt wo welcher Opfer gedacht wird – und wie enorm der Blutzoll im Krieg war – und in der Ära Stalins. Schlögel zeigt aber auch die Schönheit und die positiven Hinterlassenschaften. Er enthält sich eines Urteils. Und wird den Städten so gerecht.
Das gilt auch und gerade für Donezk, der inzwischen teilweise zerstörten Stadt des angeblichen Bürgerkriegs, der de facto das Ergebnis russischer Aggression mit russischen Soldaten und russischen Waffen ist. Schlögel war erst in diesem Jahr wieder in der Stadt. Er erzählt von den Menschen, die geflohen sind, von ganzen universitären Lehrkörpern, die ihre Tätigkeit in andere ukrainische Städte verlegt haben. Gerade am Beispiel Donezk macht er deutlich, wie nachhaltig die Veränderungen durch die russische Aggression für ganz Europa sind.
Jeden Tag fahre ich mit dem Zug nach Frankfurt (Oder). Meistens dauert es 31 Minuten, nämlich dann, wenn er nur dreimal auf dem Weg hält. Vor 60 Jahren ist mein Großvater auch nach Frankfurt (Oder) gefahren. Allerdings legte er 3600 Kilometer zurück. Am 10. Oktober ist er mit 600 weiteren Kriegsgefangenen aus dem Arbeitslager in Asbest im Ural aufgebrochen. Gut zehneinhalb Jahre nach dem Kriegsende fuhren sie voller Hoffnung und freudiger Erwartung zurück in die Heimat, nach Deutschland. Für Ernst Oppermann waren es gar elfeinhalb Jahre. Im Mai 1944 war er auf der Krim bei Sewastopol in sowjetische Gefangenschaft geraten.
Als er 1941 Frankfurt mit dem Zug in die andere Richtung passierte, war er auf dem Weg von Fallingbostel an die Ostfront bei Brest. Es war der Beginn seines langen, furchtbaren Wegs nach Osten. Frankfurt war da noch eine prosperierende Stadt, die vor allem als Eisenbahnknotenpunkt und Verwaltungssitz der Provinz Brandenburg von Bedeutung war. Auf dem Rückweg von Asbest nach Friedland im Süden Niedersachsens und dann weiter in das für seine Familie zur Heimat gewordene Aschaffenburg war Frankfurt dann die Grenzstadt, in der er erstmals wieder deutschen Boden betrat. All die Städte und Dörfer, die bei seinem Aufbruch an die Front östlich der Oder noch deutsch gewesen waren, waren nun polnisch. Umso größer war die Erwartung an den Grenzübertritt und die Ankunft in Deutschland nach immerhin sieben oder acht Tagen Zugfahrt vom Ural quer durch die europäische Sowjetunion mit den Republiken Russland und Weißrussland und anschließend quer durch das nach Westen verschobene Polen. Dessen Ostgrenze war genau dort, wo Ernst Oppermann und all die vielen anderen Wehrmachtssoldaten den Krieg gegen die Sowjetunion begannen, an der damaligen Grenzlinie des Hitler-Stalin-Paktes mitten im Vorkriegs-Polen.
In Weißrussland, in der Ukraine, in Russland, und sogar im Kaukasus führte mein Großvater Krieg. Überall forderte dieser unendlich viele Menschenleben. Städte wurden zerstört, Dörfer niedergebrannt, Menschen als Zwangsarbeiter versklavt. Und die Einsatzgruppen mordeten Juden, Zigeuner und Kommunisten per Genickschuss zu Abertausenden. Dennoch war die Fahrt der Kriegsgefangenen auf dem Heimweg kein Spießrutenlaufen. Im Gegenteil. Mein Großvater erzählte wenig von der Gefangenschaft. Was ihn aber so beeindruckte, dass er davon sprach, war die Offenheit, mit der sein Transport mit den 600 deutschen Soldaten auf dem Weg in die Freiheit überall aufgenommen wurde. An den Bahnhöfen hielten die Züge. Die Türen waren offen und nicht verriegelt. Sie konnten aussteigen, einen Tee oder anderen Proviant kaufen. Und Hass, so erzählte er, schlug ihnen weder in der Sowjetunion noch in Polen entgegen.
Das wurde erst an der Oder anders. Statt in Frankfurt erstmals wieder deutschen Boden betreten zu können, mussten die 600 im Zug bleiben. Der Bahnhof war mit Volkspolizei oder Grenztruppen, wer genau, das wusste er nicht mehr, umstellt und abgeriegelt. Die Uniformierten hatten die Maschinenpistolen im Anschlag. Und der Zug, der die 3600 Kilometer von Asbest bis Frankfurt (Oder) immer offen war, wurde verriegelt. Das war für ihn, der in den Gefängnissen und Arbeitslagern der Sowjetunion immer wieder kommunistischer Agitation ausgesetzt war, nicht komplett verwunderlich. Aber geschmerzt hat es ihn dennoch sehr. Die ganze Fahrt durch die DDR, südlich an seiner Geburts- und eigentlichen Heimatstadt Berlin vorbei und dann weiter bis an den Grenzübergang in Herleshausen waren die Waggons von außen abgeschlossen. Nach so vielen Jahren in Haft, war der letzte Abschnitt, die letzten gut 400 Kilometer auf dem Weg in die Freiheit noch einmal ein Aufenthalt in einem – rollenden – Gefängnis. Erst in Herleshausen und dann natürlich bei der Begrüßung nach der Ankunft in Friedland änderte ich das.
Wenn ich heute mit dem Zug abends von Ost nach West von Frankfurt (Oder) nach Erkner fahre, auf der wahrscheinlich gleichen Strecke wie mein Großvater am 18. Oktober 1955, kann ich mir das schwer vorstellen. Manchmal sehe ich zwei oder drei Bundespolizisten, die ihren Dienst auf dem Bahnhof machen. Aber dass Dutzende den ganzen Bahnhof komplett abriegeln? Das gibt es nicht. Und dass Menschen, die nach zehn oder mehr Jahren auf dem Weg in die Heimat weggeschlossen und abgeriegelt werden, das ist wirklich unvorstellbar.
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Alles, was sich mit Habsburg verbindet, ist Erinnerung. Die vor knapp 100 Jahren untergegangene Doppelmonarchie hat statt eines riesigen Vielvölkerstaates nur einen Rumpf namens Österreich und eine Reihe anderer Staaten hinterlassen. Und Erinnerungen in Büchern, in Steinen und Gebäuden, in Gerichten und Kaffeehauskultur. Habsburg lebt also weiter. Richard Wagner, der Banat-Deutsche Schriftsteller, der in Berlin lebt, hat eine „Bibliothek einer verlorenen Welt“ erfunden – und Habsburg damit ein literarisches Denkmal aus Essais, Gedankensplittern und realen Büchern aus der untergegangen Welt erdacht.
Ein bisschen erinnert das Buch an Walter Mehrings Autobiografie „Die verlorene Bibliothek„, in der anhand der beschlagnahmten Bibliothek des Vaters eine Kulturgeschichte seiner Zeit erinnerte. Ganz ähnlich geht Wagner vor. Anhand von realen Büchern und einem enormen historischen Wissen begeht er die literarischen Räume der Vergangenheit. Dabei stellt er uns natürlich Franz Kafka und Joseph Roth vor. Aber auch Leo Perutz, Karl Emil Franzos und vor allem auch Bücher und Autoren, die in den anderen Sprachen des Vielvölkerstaates schrieben. So entsteht – in Kombination mit Rezepten typischer Gerichte, die es in abgewandelter Form in allen Kaffeehäusern des ehemaligen Reiches noch heute gibt – ein sinnliches und literarisches Gesamtbild dieses Habsburgs.
Richard Wagner gelingt es, viele Traditionsstränge bis in die Gegenwart zu ziehen. Seine oft kurzen Texte sind Gedankenblitze, die das Gesamtbild erhellen und beleuchten. Von besonderem Interesse sind die Verweise, die auf die Nationen verweisen, die neben den Deutschen in der Doppelmonarchie lebten. Nur bei den Ukrainern verlässt Wagner der kritische Geist. Ihnen spricht er eine nationale Eigenständigkeit ab. Er betont den Beginn der russischen Geschichte mit dem Kiewer Rus – und damit das Recht Moskaus noch heute über die Ukraine herrschen zu wollen. Das aber ist erstaunlich unhistorisch in diesem so historischen Buch. Mit einer ähnlichen Begründung müsste Kaliningrad schleunigst wieder deutsche werden. Immerhin ist Königsberg der Ausgangspunkt des preußischen Königtums. Oder große Teile Russlands müssten Litauen zugeschlagen werden, denn die Herrschaft der Litauer reichte einst bis weit über Weißrussland und die Ukraine hinaus. Richard Wagner konterkariert mit dem Teil über die Ukraine den Ansatz seines ganzen Buches. Da ist doppelt ärgerlich. Zum einen, weil es schlicht falsch ist. Zum anderen, weil der Rest des Buches wunderbar ist.
Die Idee klingt absurd. Da lässt sich ein Paar scheiden, weil der Mann sich auf die Suche nach einer neuen Frau machen soll. Die soll dann mit der Ex unter einem Dach leben, weil sich das Scheidungspaar noch immer liebt. Die neue Frau soll das aber erst erfahren, wenn sie wirklich mit der Ex im gleichen Haus lebt. Einzige Voraussetzung: Die Neue muss eine Mitgift bekommen, die zur Tilgung der Schulden genügt.
Warschau ist eine Reise wert. Davon ist Steffen Möller, der viele Jahre in der polnischen Hauptstadt gelebt hat, überzeugt. Aber da Warschau bei den Touristen immer den Kürzeren im Vergleich mit Krakau zieht, erklärt uns Deutschlands bekanntester Polen-Versteher und -Kenner den Reiz der Stadt. Mehr als 280 kurzweilige Seiten locken uns nach Warschau.
Joachim Gauck ist der richtige Präsident für die richtigen Worte in schwierigen Situationen. Am 8. Mai, 70 Jahre nach Kriegsende, bedankt er sich für die Befreiung Deutschlands durch die Alliierten. Alleine hätten es die Deutschen nicht geschafft, sich zu befreien. In Lebus bei Frankfurt (Oder) sagt er das. Auf einer Kriegsgräberstätte für sowjetische Soldaten, die in den letzten Tagen auf dem Weg nach Berlin ihr Leben ließen.
Gauck hält sich kurz, vergisst dabei aber auch nicht zu erwähnen, dass die Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus nicht unbedingt Freiheit brachte. „Ich verneige mich auch vor dem Leid derer, denen die Befreiung vom Nationalsozialismus keine Freiheit brachte, sondern Rechtlosigkeit, Gewalt und Unterdrückung“, sagte der Präsident in Anwesenheit des russischen Botschafters Grinin. Und des ukrainischen Botschafters Andrij Melnyk und weiteren Botschaftern des Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Gemeinsam gedachten sie der Opfer der Sowjetunion, machten dadurch aber auch klar, dass die Rote Armee keine russische Armee war, sondern eine vieler Völker.
Das war ein starkes Zeichen, ein angemessenes Gedenken, das die Vergangenheit in die Gegenwart spiegelte – und deutlich machte, dass Befreiung von einer Diktatur nicht gleich Freiheit bedeutet.
Italienische Reisen haben es den Deutschen angetan. Ob die berühmte von Goethe oder die unzähligen in Auto, Zug oder Flugzeug. Es zieht sie über die Alpen ans Mittelmeer. Felix Hartlaub lernte Italien 1931 kennen. Bei einer Wanderung entlag der illyrischen Küste bis Viareggio und dann durch die Toskana bis Florenz und weiter nach Pisa. Erstaunlich an den Einträgen des jungen Mannes sind vor allem seine Beobachtungen der Farben und Formen.
Das Buch ist zwar schon knapp fünf Jahre alt. Aber „Stalin und der Genozid“ von Norman M. Naimark ist gerade jetzt eine wichtige Abhandlung über die Verbrechen der KPdSU in den 1920er bis 190er Jahren. Denn das Regime Wladimir Putins bezieht sich ganz offen auf Stalin. Bei offiziellen Anlässen sind Stalin-Banner zu sehen, die Denkmäler aus der sowjetischen Zeit werden weiter geehrt und all jene, die wie Memorial die Vergangenheit aufarbeiten wollen, leben gefährlich.