16 Schülerinnen und Schüler eines Potsdamer Elitegymnasiums erzählen uns zwischen 1989 und 1991, was sie erlebt haben, was sie träumen, auf wen sie neidisch sind und in wen sie sich verlieben. Es sind nie mehr als vier Seiten, auf denen uns die vielen Ich-Erzähler einen Einblick in ihre Gefühls- und Lebenslage gewähren. Anfangs spielen die Zwänge der SED noch eine Rolle. Dann zerfallen diese und unterschiedliche Schulleiter kommen und gehen. Aber trotz aller Veränderung durch den Fall der Mauer interessieren sich die pubertierenden Gymnasiasten vor allem für sich.
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Veit Heinichen bleibt Proteo Laurenti treu
Als Veit Heinichen seinen Proteo Laurenti das erste Mal auf Ermittlungstour durch Triest schickte, war die Mischung aus Krimi und dem literarischen Entdecken einer historisch höchst spannenden Region eine starke Mischung. Nicht umsonst wurden die Krimis auch fürs Fernsehen mit Henry Hübchen als Commissario adaptiert. Doch der jüngste Krimi aus der Feder Heinichens lebt fast nur noch von der Beschreibung der Region, des Karsts, der Stadt Triests und den Hinweisen auf gute Winzer und Lokale. Der Fall selbst entwickelt keine unbedingte Spannung, die das Weglegen des Buches zu einer Qual machen würde.
„Oder Florida“ – der Nachwende-Bildungsroman von Christian Bangel
Lange bevor die Republik geschockt auf die Wahlerfolge der AfD geschaut hat, suchten junge Ostdeutsche nach ihrer Identität. „3. Generation Ost“ nannten sie sich. Sie wollten verstehen, was sie von ihren gleichaltrigen Westdeutschen unterscheidet. Ohne die Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie funktioniert das nicht. Umso besser, dass Christian Bangel jetzt einen tragisch-witzigen Roman geschrieben hat, der seine eigene Biografie als Material genau in diesem Sinne nutzt. Und dennoch sehr viel Spaß macht.
Christian Bangel ist 1979 in Frankfurt (Oder) geboren. Die prägenden Jahre seines Erwachsenwerdens sind von einer enormen Freiheit geprägt. Aber auch von den Ängsten der Eltern vor Arbeitslosigkeit, seinen eigenen Ängsten von der Gewalt der Neonazis und der Ungewissheit, was aus der eigenen Heimatstadt wohl werden wird. das einzig Gewisse war die Ungewissheit. Starke Menschen nutzen das, indem sie ihren Freiraum aktiv nutzen. Andere suchen Halt bei neuen Autoritäten.
Faszinierende Abruzzen-Saga von Dacia Maraini
Am Anfang steht eine verschwundene junge Frau in den Abruzzen. Und eine Ich-Erzählerin, die als Autorin von diesem Thema so gepackt wird, dass sie sich ihm nicht mehr entziehen kann. Dacia Maraini hatte also keinen Krimi geschrieben, als sie „Gefrorene Träume“ vorlegte. Das Buch ist eine große Familiensaga aus den Abruzzen – und ein Roman übers Schreiben.
Dem Buch tut genau dieser Teil nicht gut. Er lenkt von der großen Geschichte ab. Von den Wurzeln der Colomba Minna, der verschwundenen jungen Frau, die bis ins 19. Jahrhundert nach Sizilien und immer wieder in das Bergdorf in der Nähe von Avezzano reicht. Diese ist an sich wunderbar erzählt. Wobei sie auch immer wieder mythisch aufgeladen wird. So entsteht ein Dickicht aus Bezügen, die auch die historische Dimension der Landschaft aufgreift. Die verbinden in den Wäldern der abruzzischen Berge den Kampf der Marser gegen die Römer mit der Gegenwart genauso wie die zwei Jahrzehnte Faschismus und die deutsche Besatzung.
Das ist schon arg viel, was der Leser da an Ebenen, Zeitbezügen und Erzählperspektiven im Blick haben muss. Insofern ist der Roman überfrachtet. Aber die eigentliche Familiensaga ist spannend, erzählt von der archaischen Gesellschaft in Italien und den Umbrüchen in den vergangenen 120 Jahren. Maraini weiß um die Armut,den Glauben, die Zwänge, denen die Frauen ausgesetzt waren. Sie hat im Blick, wie sich existenzielle Erfahrungen über Generationen vererben. Und sie kann packend davon erzählen, wie in einem Dorf die informellen Kommunikationsformen das Leben dominieren. Die Abruzzen, diese immer wieder von Erdbeben geschüttelte Hochgebirgslandschaft, bringt sie dem Leser so sehr nahe.
Aber dafür muss man sich eben auch durch die unsägliche Geschichte des Schreibens durchkämpfen. Und leider auch immer wieder verwirren lassen. Etwa wenn die Lust an literarischen Bezügen mit Maraini durchgeht. Das hat dann schon etwas von Bildungshuberei. Und dennoch kann einen das Buch auch packen, dann will man wissen, wie sich die Geschichte von Großmutter Zaira und ihrer verschwundenen Enkelin weiter entwickelt. Vor allem aber ist man neugierig auf ihren Vater, der vor den Faschisten nach Australien flüchtete, oder auf die starken Frauen. Ein Buch also, dass man in den Abruzzen sehr gut lesen kann. Ich Eichwalde aber, würde ich es zügig weglegen.
Henning Klüwer lockt nach Mailand
Im kommenden Jahr ist Mailand die Stadt der Weltausstellung. Zu den vielen Touristen, die ohnehin in die Hauptstadt der Lombardei kommen, werden zur Expo 2015 noch Millionen zusätzliche kommen. Kurz davor ist es ein optimaler Zeitpunkt, um eine „Gebrauchsanweisung für Mailand“ zu veröffentlichen. Henning Klüwer hat genau das getan – und eine Lücke der Reiseliteratur angenehm geschlossen.
Ferdinand von Schirach seziert das Offensichtliche
Ein Mordfall ohne Leiche. Ja selbst ohne Vermisste, das ist der Stoff, um den Ferdinand von Schirach in „Tabu“ einen verwirrenden Roman baut. Der Anwalt, der mit seinen Erzählungen von Kriminalfällen inzwischen Weltruhm erlangt hat, baut seine Geschichte rund um Wahrnehmung und Sehen am Beispiel eines Fotografen auf. Was ist Oberfläche? Was ist Tiefe? Oder anders gefragt: Was ist nur oberflächlicher Schein und was ist Wahrheit?
Sebastian von Eschburg stammt aus verarmten Adel, geht in einem Nobelinternat zur Schule und vertieft sich in Bücher, weil er, der beziehungslos und als Halbwaise abgeschoben aufwuchs, die Beziehung zu Menschen nicht bereit ist einzugehen. Hochintelligent eignet er sich das, was er will enorm schnell an und wird so zu einem international gefeierten Fotografen. Das bringt ihm nicht nur Geld und Ruhm ein, sondern auch den ersten Kontakt zu seiner ganz großen Liebe. Das alles erzählt von Schirach präzise und knapp. Er schmückt nicht unnötig aus, aber alles was er schreibt hat tatsächlich eine Bedeutung.
Die wird erst im Laufe des Romans sichtbar, als Sebastian von Eschburg wegen Mordes angeklagt ist. Alles sieht so aus, als habe es in seiner Wohnung tatsächlich einen Mord gegeben. Aber es fehlen Opfer und Leiche. Nicht einmal der Name einer Vermissten lässt sich für die Ermittler feststellen. Nur einen Hinweis gibt es: das Blut, das in der Wohnung gefunden wurde, stammt von einer Halbschwester von Eschburgs. Ferdinand von Schirach, der erfahrene Anwalt, komponiert den Prozess wie ein Theaterstück als Inszenierung. Und das zurecht. Denn der ganze Fall erweist sich als eine großartige Inszenierung, in der der Schrecken wohl kalkuliert eingeplant ist. Und so entsteht ein Roman über Kunst und die unterschiedlichen Ebenen der Wahrnehmung. Ein großer Roman über die Wahrheit. Und das voller Spannung.
Herrn Kukas Empfehlungen für gute Tage in Wien
Waldemar. Der Pole heißt Waldemar und kommt aus Warschau, um nach Wien aufzubrechen. Ganz schön viele Ws wollen da auf wunderbarliche Weise Witz und Wahrhaftigkeit weismachen. „Herrn Kukas Empfehlungen“ von Radek Knapp trägt manchmal schon ein weinig dick auf. Dann drückt der Roman auf das Gemüt wie ein Kaiserschmarrn, der in zu viel Butterschmalz zu lange ausgebacken wurde, auf den Magen.
Und dennoch ist die Geschichte von Waldemars ersten vier Wochen in Wien ein amüsantes Buch. Denn Radek Knapp, der vor fast 30 Jahren selbst aus der Hauptstadt Polens in die Österreichs aufbrach, spielt wunderbar mit den Klischees die Polen vom Westen, Österreicher und Deutsche von Polen und alle zusammen von sich selbst haben. Nur manchmal trägt er zu dick auf. Aber das ist dann zwei Seiten später schon wieder vergessen, weil dann ein schöner neuer Einfall ein Schmunzeln erzeugt.
Waldemar steht in der Tradition vieler Schelmen, die ganz naiv in die Welt stolpern und den Lesern so zu amüsanter Erkenntnis verhelfen. Nach 250 Seiten ist er erwachsen geworden – mit allem was dazu gehört: der erste Sex, die erste Liebe, der erste Job – und das alles fern der Heimat. Dass der Roman schon 1999 erschienen ist, stört nicht. Die Geschichte ist heute genauso wahrscheinlich wie damals – mit samt dem Inventar Wiens. Kein Wunder, dass das Buch vor fünf Jahren auch verfilmt wurde. Wer Polen, Wien, Österreich und oder Schelmenromane mag, der wird seinen Spaß mit Radek Knapps „Herrn Kukas Empfehlungen“ haben.
Radek Knapp: Herrn Kukas Empfehlungen; Piper
Erhart Neuberts großes Buch über die friedliche Revolution
Erhart Neubert hat ein Buch geschrieben, das es in sich hat. Als einer der wichtigen Akteure der friedlichen Revolution hat er Geschichte geschrieben. Jetzt schreibt er als Historiker diese Geschichte auf. Das gelingt ihm hervorragend.
Sein Blick beleuchtet die Basisgruppen in den DDR-Bezirken genauso wie die große Politik. Und er selbst bringt sich ebenfalls ein. Dabei entsteht eine packende Wende-Geschichte, die sehr genau ist – und die Kraft, den Mut und die Entschlossenheit der Akteure aufzeigt.
Aber auch die Rückschläge und die Verzagtheit ganz vieler. Das Buch hat das Zeug zum Standardwerk. Es ist ein Muss, für alle die das Jubiläumsjahr 2009 ernst nehmen.
Erhart Neubert: UNSERE REVOLUTION – DIE GESCHICHTE DER JAHRE 1989/90. PIPER, 24,90 EURO
Diese Rezension ist am 27. Dezember 2008 in 20cent erschienen.
Thomas Brussig sucht die käufliche Liebe
Bordelle, Swinger-Clubs und Peep-Shows sind die Räume, die sich Thomas Brussig (41, Sonnenallee) für sein neues Buch genau anschaute. Auf 200 Seiten beleuchtet er das horizontale Gewerbe Berlins aus fast allen Perspektiven.
Bislang hat der Ostberliner vor allem mit Romanen auf sich aufmerksam gemacht, die mit viel Ironie und Witz auf die DDR und die Wende zurückblickten. Zwar spielte schon in Helden wie wir das männliche Geschlechtsteil eine ganz zentrale Figur. Dennoch schrieb Brussig damals einen rein fiktionalen Text. „Berliner Orgie“ ist dagegen eine Sammlung von Reportagen.
Anlass für Brussigs Streifzüge durch die Welt der käuflichen Erotik und Liebe Berlins war die Anfrage einer Boulevardzeitung. Sie wollte von dem Autor Texte über Puffs, Straßenstrich und Escort-Service. Ziel war ein persönlicher Zugang zu einer Welt, die mit
Mythen und Gerüchten für viele Menschen verhüllt ist. Diesen Schleier kann Thomas
Brussig tatsächlich beiseite schieben. Und das ganz ohne billiges Spannen zu ermöglichen-
Brussig nähert sich den Huren, spricht mit ihnen, schafft es, Vertrauen zu gewinnen und erfährt so sehr viel von den nüchternen Lebensbedingungen in den Bordellen und auf
der Straße. Brussig begegnet Ausländerinnen vor allem aus Osteuropa. Doch viele von ihnen sind keine Zwangsprostituierten, sondern sie wählten den Strich nach gescheiterten Ehen. Das ist natürlich auch nicht wirklich freiwillig, aber es ändert den Blick auf die
Frauen.
Brussig begegnet oft auch der Tristess und der Trostlosigkeit, die alles andere als Lust erzeugt. Er fragt sich, was Männer dazu treibt, hier Frauen viertelstundenweise einzukaufen. Aber er schildert auch ganz offen, dass es für ihn als Mann eine ganz neue Erfahrung war, umworben zu sein. Während sonst Frauen von Männern umworben
werden, funktioniert die käufliche Liebe gerade andersrum. Brussig ist so offen, über seine
Komplexe und mulmigen Gefühle zu schreiben. Und über die Faszination, wenn Frauen offen um ihn werben – auch wenn es eigentlich nur ums Geschäft geht.
Fazit: Ein offenes Buch über ein delikates Thema, das Thomas Brussig ohne feuchte Träume, falsche Scham oder Spannerlust schildert.
THOMAS BRUSSIG: BERLINER ORGIE. PIPER. 16,90 EURO.
Johannes Willms liefert die Gebrauchanweisung für Frankreich
Der Piper-Verlag hat mit seiner Reihe Gebrauchsanweisung für eine kleine Länderkunde für Reiselustige aufgebaut. Johannes Willms, der früher die ZDF-Sendung „Aspekte“ leitete, dann das Feuilleton der Süddeutschen und inzwischen für diese als Kulturkorrespondent in Paris lebt, ist ein Kenner ganz Frankreichs. Der Napoleon-
Biograf hat das gesamte Land bereist und versteht es, liebevoll von den Besonderheiten der Grande Nation zu erzählen.
Wer die 190 Seiten gelesen hat, ist gut auf eine Reise vorbereitet. Er weiß, worauf es sich zu achten lohnt und wofür keine Zeit eingeplant werden muss. Dabei läuft Willms nie Gefahr, nur die Postkarten-Ansichten zu schildern oder sich in Klischées zu verheddern.
Johannes Willms: Gebrauchsanweisung für Frankreich. Piper, 12,90 EURO