16 Schülerinnen und Schüler eines Potsdamer Elitegymnasiums erzählen uns zwischen 1989 und 1991, was sie erlebt haben, was sie träumen, auf wen sie neidisch sind und in wen sie sich verlieben. Es sind nie mehr als vier Seiten, auf denen uns die vielen Ich-Erzähler einen Einblick in ihre Gefühls- und Lebenslage gewähren. Anfangs spielen die Zwänge der SED noch eine Rolle. Dann zerfallen diese und unterschiedliche Schulleiter kommen und gehen. Aber trotz aller Veränderung durch den Fall der Mauer interessieren sich die pubertierenden Gymnasiasten vor allem für sich.
Schlagwort: Schule
Das Ende eines Schulexperiments – Unser erstes Abitur
Das erste Schulexperiment ist abgeschlossen. Der Älteste hat heute seine Abiturnote bekommen. Nach zwölf Jahren Schule hat er die Hochschulreife. Das ist auf jeden Fall ein Grund zur Freude und zum Feiern.
Auch wenn sich nach wie vor die Frage stellt, warum junge Menschen schon mit 17 Abitur machen müssen? Auch wenn wir uns fragen, was die Verkürzung von 13 auf zwölf Jahre Schule gebracht hat? Schlauer ist er nicht. Er weiß bestimmt auch nicht mehr, als wenn er noch ein Jahr länger auf die Schule gegangen wäre. Und ob er reif genug für die Hochschulreife ist, wenn er sich selbst noch nicht einmal an der Uni einschreiben dürfte, ist ebenfalls mehr als fraglich.
Was also hat diese Schulreform tatsächlich gebracht? Der Sohn ist ein Jahr früher fertig. Er wird die Zeit, bis er 18 ist, sicherlich mit einer sinnvollen Beschäftigung überbrücken. Aber ist das der Sinn des Abiturs? Dass man noch ein wenig wartet, bis man selbst entscheiden kann und nicht in Begleitung der Eltern zur Immatrikulation und in die Sprechstunden der Professoren geht? Der Sohn hat mehr Stunden am Tag Unterricht gehabt, als wir damals. Das hat den Druck erhöht und Freiraum zur eigenen Entfaltung geraubt. Außerdem musste er deutlich mehr Stoff lernen. Auswendig lernen. Denn wie soll man auch sonst in weniger Zeit mehr Stoff unterbringen? Das geht nur durch das Abfragen von auswendig Gelerntem. Nicht mit Verstehen, Verständnis oder gar vertieftem Diskutieren. Mit echter Bildung hat das nichts zu tun. Wenn überhaupt, dann nur mit Wissens-Maximierungs-Lernen.
Das heißt nicht, dass der Abiturient jetzt nicht doch stolz sein kann. Er hat es geschafft, sich geschickt durch ein Schulsystem, ein zu Tode reformiertes Schulsystem zu lavieren und genau dafür seine Reife attestiert zu bekommen. Es gab Lehrer, die ihm geholfen haben, Lehrer, die ihn motiviert haben, Lehrer, die ihn ernst genommen haben. Aber es gab auch Lehrer, die Kinder und Jugendliche nicht mögen, Lehrer, die selbst nicht verstanden haben, was Bildung ist (und das an einem Humboldt-Gymnasium) und Lehrer, die vor allem über „Elite“ schwafelten, statt selbst ein guter, aufgeschlossener und den Schülern zugewandter Pädagoge zu sein. All das hat er überstanden. Und darauf kann er stolz sein.
Aber profitiert hat er davon nicht wirklich. Profitiert hat von all den Schulreformen nur einer – der Staat. Das Land Brandenburg hat durch den Wegfall der 13. Klasse im wahrsten Sinne des Wortes gespart. Lehrer hat es eingespart und so Geld gespart. Obwohl SPD und Linke seit Jahren vom Vorrang von Bild sprechen, sieht die Politik tatsächlich anders aus. Wenn Lehrer krank sind, gibt es keine ausreichende Reserve, um Unterrichtsausfall zu verhindern. Stattdessen „Stillarbeit“, die nicht als Ausfall in die Statistik einfließt. Jetzt, wo der Sohn das Abitur hat, werden in der ganzen Republik mit Anzeigen Lehrer geworben. Aber davon hat er nichts. Und ob seine Geschwister etwas davon haben, ist fraglich. Denn alle Bundesländer kämpfen um junge Lehrer. Ob Brandenburg mit seinem bildungspolitischen Sonderweg da mithalten kann? Hier ist das Kurssystem de facto abgeschafft worden. Echte Leistungskurse gibt es nicht mehr. Die Wahlfreiheit bei der Fächerwahl de facto auch. Auch diese Reform hat er überstanden. Zum Glück.
Das liegt vor allem an ihm selbst. Auch wenn das Schulsystem es immer wieder versucht hat, seine Neugier auf Neues konnte es ihm nicht austreiben. Seine Lust am Diskutieren – auch zum Erkenntisgewinn – ebenfalls nicht. Genau das feiern wir heute. Dass mit dem Abitur eine Schulzeit der verpassten -Bildungs-Möglichkeiten beendet wurde. Und dass er das alles unbeschadet und selbstbewußt überstanden hat.
Zensuren beim Jahresendkonzert der Grundschule Eichwalde
Die Kinder singen und alle freuen sich. Wenn die Grundschule zum Jahresendkonzert (es heißt tatsächlich so) lädt, dann überhören Mutter und Vater schon mal den nicht ganz getroffenen Ton. Dann singen die Kinder mit Inbrunst vor einem Publikum, das sich genau darüber freut, dass sie sich das trauen. Dieser doppelte Stolz von Kindern und Eltern ist mehr als nur schön – er ist bereichernd und verbindend. Ja, er erzeugt so etwas wie ein Gefühl von Schulfamilie.
Wenn da nicht dieses Gerede von Zensuren wäre. Spricht man die Zuschauer mit „Sehr geehrte Damen und Herren“ oder „Hallo Leute“ an? Eine der Schüler-Modeatorinnen hat folgende Antwort: „Wenn es gut klappt, können wir doch gute Zensuren bekommen.“ Und gut klappt es natürlich nur, wenn es „Sehr geehrte Damen und Herren“ heißt. Was hat das Gerede von Zensuren auf einem Schulkonzert zu suchen? Warum wird das ganze dann später noch gesteigert: „Wenn wir ein Gedicht in Englisch aufsagen, können wir vielleicht zwei Zensuren bekommen!“. Eine für Vortrag und eine für Englisch!
Warum müssen die Kinder selbst an diesem Abend weit nach Schulschluss noch über Zensuren schwadronieren? In einem Moment, in dem auch schlechtere Schüler Anerkennung für ihre musikalische Darbietung bekommen. Dann, wenn weder Eltern noch Schüler – und hoffentlich auch die Lehrer – nicht an Noten denken?
Vielleicht war es ja nur ironisch gedacht? Aber selbst wenn das der Fall war, zeigt es doch, dass in der Wahrnehmung der Verantwortlichen dieser Grundschule Noten das wichtigste sind. Sonst gäbe es ja gar keinen Grund, das Thema in das Schulkonzert zu schleppen.
Das übrigens war schön. Auch wenn die Erwartungen auf ein weihnachtliches Konzert nicht erfüllt wurde. Dafür war von HipHop bis Adele und dem Cowboy Jim aus Texas eine enorme Bandbreite zu hören. Und ganz am Ende dann auch noch ein Weihachtslied, bei dem die ganze Halle mitsang.
Wer Klassen vergleicht, deckt Lehrer-Mängel auf
Es gibt ja schöne Neuerungen in der Bildungspolitik. Eine davon ist die interne Vergleichsarbeit. Die funktioniert so: In der Schule legt die Fachkonferenz eine Arbeit fest, die in allen Klassen einer Jahrgangsstufe geschrieben wird. Sehr sinnvoll ist das vor allem dann, wenn am Ende eines Schuljahres eine allgemeine Prüfung für alle Schüler ansteht. Eine Vergleichsarbeit könnte im Vorfeld Schwächen aufdecken, an denen gearbeitet werden kann.
Blöd ist es nur, wenn in allen Klassen von den verschiedenen Lehrern unterschiedliche Ergebnisse erwartet werden, weil sie selbst die Aufgabe der eigenen Fachkonferenz, in der sie alle Mitglied sind, falsch lösen. Dann kann ein cleverer Schüler zwar die Lösung liefern, doch hilft das auch nichts, wenn die Lehrer nicht an ihrem Fehler arbeiten. Sondern die Aufgabe einfach komplett aus der Wertung streichen. Das freut vielleicht die Schüler kuzfristig. Führt den Sinn von vergleichsarbeiten aber ad absurdum. Denn die ist ja eigentlich da, um festzustellen, welche Lehrer den Stoff gut und welche ihn schlecht vermitteln.
Obwohl: Wenn alle Lehrer ihre eigenen Aufgaben nicht rechnen können, dann hat der Vergleich zumindest erbracht, dass sie alle an sich arbeiten müssen, um sinnvoll mit Schülern arbeiten können.
Musikproduzent Ünal Yüksel lebt die Integration von Orient und Okzident
Ünal Yüksel kennt beide Seiten. Er ist in Berlin geboren, in Istanbul aufgewachsen und in Berlin erfolgreich geworden. Für den Musikproduzenten ist das Leben als Türke in Deutschland ganz selbstverständlich. Die türkische Tageszeitung Hürriyet hat ihn jetzt zu einem der 50 wichtigsten Türken in Deutschland gewählt. 1969 ist Ünal Yüksel in Berlin geboren. Seine Eltern sind türkische Gastarbeiter, wie das damals noch hieß. Der Vater ist Tischler und Zimmermann. Den Beruf hat er nach der 5. Klasse bei seinem älteren Bruder gelernt. Die Mutter arbeitet in Berlin bei den Deutschen Telefonwerken und lötet Platinen. Beide haben die Chance ergriffen, in einem fremden Land zu größerem Wohlstand zu kommen. Doch ganz trennen wollten sie sich damals von ihrer Heimat noch nicht. Das hat Sohn Ünal, der älteste von drei Söhnen, leidvoll erfahren. Seine Eltern haben ihn in Istanbul eingeschult. Sie wollten in die Türkei zurück. Und da dachten sie, dass es für den Sohn das Beste sei, wenn er von Anfang an in eine türkische Schule geht. „Ich bin da ins Internat gekommen und konnte kein Wort Türkisch,“ erinnert sich Ünal Yüksel. In Berlin hatte er Deutsch gesprochen. Für seine Mitschüler war er deshalb eher Deutscher als Türke. Das hat sich im Laufe der Zeit geändert. Aus dem ursprünglich einem Jahr Internat wurden schnell zwei, vier und schließlich gar acht.
Jedes Jahr hieß es: Bleib noch eines, dann kommen wir nach. Doch irgendwann wollte Ünal das nicht mehr hören. Er wollte sein Leben nicht in einem Internat verbringen, sondern bei der Familie. Deshalb hat er seine Rückkehr nach Berlin durchgesetzt. „Endlich wieder Familie,“ freut sich Ünal Yüksel im Rückblick noch immer. Aber die Sicherheit der Familie war nicht alles. Denn jetzt wurde er mit dem gleichen Problem wie beim Umzug nach Istanbul konfrontiert: Er hatte die Sprache in den Jahren verloren. Zwar konnte er nun Türkisch, aber sein Deutsch war weg. Diese Grunderfahrung treibt Yüksel noch immer um. Deshalb engagiert er sich in Schulen mit hohem Migrantenanteil in Neukölln, Moabit oder Kreuzberg. Dort erzählt er von seinem Leben in der dritten Person und fragt die Schüler, was aus so einem Jugendlichen wohl geworden ist. „Opfer oder Drogenhändler,“ heißt es dann oft. Umso größer ist dann das Erstaunen, wenn er sagt: „Dieser ehemalige Jugendliche steht vor euch.“ Auf diesen Aha-Moment setzt er. Er will ein positives Beispiel sein. Denn die negative Grundhaltung vieler Migranten ärgert ihn. Positiv ist sein Beispiel in der Tat. Yüksel hat sich trotz der anfangs katastrophalen Deutschkenntnisse mit Disziplin und Hartnäckigkeit erst zum Abitur und dann zum Diplom-Audio-Ingenieur durchgebissen. „Die Eigenschaften habe ich von der Mama,“ lächelt er. Vom Vater hat er die Bereitschaft, die Selbständigkeit zu riskieren. Der hatte sich Ende der 80er Jahre als Zimmermann ein eigenes Geschäft aufgebaut.
Den Schülern sagt er: „Ihr müsst nur lernen. Eure Hemden bügeln eure Mütter. Der Staat bezahlt die gute Bildung. Ihr müsst dieses Angebot nur annehmen.“ Da seine Geschichte echt ist und er auch mit 42 Jahren authentisch geblieben ist, erreicht Ünal Yüksel die Jugendlichen. Damit sprengt er immer wieder Löcher in die Mauern der geistigen Ghettobildung, der etliche Jugendliche aus Bequemlichkeit, oder weil sie nicht anderes kennen, erliegen. „Aber den Hintern müssen sie dann schon noch selbst hoch bekommen.“ Ünal Yüksel hat es als Musiker und Musikproduzent geschafft. In der Schöneberger Hauptstraße hat er in den vergangenen 18 Monaten ein eigenes Studio gebaut. Er wollte mit seinen Bands nicht mehr in gemietete Studios. „Kreativität kannst du nicht planen. Wenn ich eine Idee habe, will ich einen Schlagzeuger oder einen anderen Musiker anrufen und ihm sagen: Komm vorbei. Ich will etwas ausprobieren.“ Das Studio ist frei schwingend in das alte Gemäuer eingehängt. Noch ist nicht jede Wand verputzt, aber aufgenommen wird schon. Unter dem Studio ist ein Club. Hier sollen bald Konzerte stattfinden, die er dann über das Studio kostenpflichtig ins Internet streamen will. Yüksel produziert für den türkischen und den deutschen Markt. Hier erreichte er als Labelinhaber mit seinem Künstler Muhabbet Charterfolge, remixte für Seeed „Ding“ als türkischen Song „Oy Güzelim Remix“ oder tritt als Veranstalter auf. In der kommenden Woche etwa mit dem „Delighted-Festival“ im Kreuzberger Atze-Musiktheater. Er bringt auf die Bühne, was er an Musik so liebt: „Grenzenlose Musik jenseits von Orient und Okzident“ wie das Festival im Untertitel heißt. Am 30. Oktober im Tempodrom tritt der türkische Superstar Sezen Aksu auf. Dieses Konzert ist für Yüksel etwas besonderes: „Wir feiern 50 Jahre Türken in Deutschland. Ich habe mir überlegt, welchen Beitrag wir dafür ohne staatliche Unterstützung aus Deutschland, der Türkei oder der Stadt Berlin leisten können.“ Für Ünal Yüksel ist das ein Statement in mehrerlei Hinsicht. Zum einen ist es ein Grund, diese 50 Jahre türkische Migration nach Deutschland zu feiern. Schließlich ist er mit seinen 42 Jahren Teil dieser Geschichte. Und dann ist es für ihn ein Beleg, dass man den Freiraum, den Deutschland bietet, für sich und andere nutzen kann: „Alle sind dazu eingeladen.“
Das heißt nicht, dass Yüksel mit Deutschland vollständig im Reinen ist: „Mich ärgert, dass ich hier kein Wahlrecht habe, obwohl ich als gebürtiger Berliner hier lebe, Mitarbeiter beschäftige und Steuern zahle. Und mich ärgert, dass mir die doppelte Staatsbürgerschaft verweigert wird.“ Das ist für ihn ein Indiz, dass Deutschland auch 50 Jahre nach Beginn der Einwanderung die neue Rolle noch nicht vollständig akzeptiert hat. Die Art und Weise, wie die Integrationsdebatte geführt werde, hält Yüksel auch für ungerecht, weil in ihr stets die negativen Beispiele in den Vordergrund gerückt werden und nicht die vielen positiven. Doch all das wird ihn auch in Zukunft nicht davon abhalten, sich in Berlin und in der Türkei heimisch zu fühlen. Genauso wie er in Berliner Schulen seinen Beitrag für eine bessere Integration leistet, fliegt er für das Goethe-Institut nach Ankara, um mit deutschen, kosovarischen und türkischen Schülern auf Deutsch Musik zu machen. Austausch und gegenseitiges Kennenlernen sind seine Anliegen. Das lebt er mit seiner Musik, seinen Plattenfirmen und mit seinem Synchronstudio. Dieses Porträt ist am 29. September 2011 in der Märkischen Oderzeitung erschienen.
Türkische Schüler pauken fürs Zentralabi
Prüfungsstress gehört in der Türkei zum Schulalltag. Vor allem die zentralen Prüfungen an Ende der achtklassigen Grundschule, der Mittelstufe und beim Abitur setzen Schüler und Eltern so unter Druck, dass Nachhilfe an Privatschulen normal ist. Experten schätzen, dass Eltern dafür mehr als 30 Milliarden Euro im Jahr ausgeben.
Das Kabatas-Erkek-Lisesi in Istanbul liegt direkt am Bosporus. Der Blick richtet sich auf das asiatische Ufer. Frachter und Yachten passieren die staatliche Eliteschule. Hier werden nur Kinder unterrichtet, die bei der Abschlussprüfung der achten Klasse zu den Punktbesten der ganzen Türkei gehören. Zwar stammen die meisten Schüler aus Istanbul selbst. Doch hier in Besiktas gibt es auch ein Internat, das Kinder bis aus Trabzon aufnimmt.
Die Schüler am Kabatas-Gymnasium sind so gut, dass von 180 Absolventen im vergangenen Jahr 56 sogar einen Medizin-Studienplatz bekamen. Den ergattern in der Türkei nur die Allerbesten. Beim gesamttürkischen Zentralabitur müssen die Schüler fast alle Punkte erreichen, um in den Genuss zu kommen, Arzt werden zu dürfen. Das ist für sie eine große Qual – und eine große Belastung.
Denn de facto besuchen auch die meisten Schüler des Istanbuler Elite-Gymnasiums nicht nur dieses. „Dersane“ heißt das Wort, das türkische Eltern und Schüler fürchten. Dersane nennen sich private Nachhilfeschulen, die auf die zentralen Prüfungen vorbereiten. Im Istanbuler Cagaloglu-Lisesi, einer Eliteschule schräg gegenüber der Blauen Moschee, führt das dazu, dass in den Abschlussklassen fast alle Schüler krankgeschrieben sind. Sie gehen auf die Dersane und schenken sich wie landesweit ganz viele Schüler auch den eigentlichen Unterricht. Denn Eltern und Schüler sind davon überzeugt, dass die Nachhilfe aufs Abitur besser vorbereitet als der eigentliche Unterricht.
Im April sind jedoch viele Schüler des Cagaloglu-Lisesi zusammen mit Hunderten anderer Schulen in den Streik getreten. Auf Demonstrationen machten sie sich Luft, weil herauskam, dass die Schüler einer ganz bestimmten Dersane-Gruppe das Schema zur Beantwortung der zentralen Prüfungen kannten. Sie lösten selbst schwierigste Fragen, indem sie sich das Muster der Multiple-Choice-Antworten merkten. Offensichtlich hatte sich der Nachhilfekonzern die Muster im Bildungsministerium in Ankara organisiert.
Für die Türkei sind die zentralen Prüfungen eigentlich als Mittel im Kampf gegen die Korruption eingeführt worden. Und um auch den Schülern im unterentwickelten Osten des Landes die Chance einzuräumen, auf eine gute Schule oder eine gute Uni zu kommen. Die Vorstellung, dass gleiche Lehrpläne für alle Schüler am Ende mit zentralen und damit gerechten Prüfungen zu einem guten Ende der Schullaufbahn führen, hat sich aber nicht bewahrheitet.
Wer in der Türkei Eltern nach der Schule fragt, erntet traurige Blicke. „Wenn für meinen Sohn um 16 Uhr die Schule zu Ende ist, steigt er in den Bus und fährt eine Dreiviertelstunde, um auf die Dersane zu gehen“, schildert ein Vater in Ankara. Da bleibt er dann bis 20 Uhr. Anschließend sind dann noch die Hausaufgaben angesagt. Der Vater: „Er tut mir leid. Aber es geht ja nicht anders. Ohne Dersane hat er keine Chance auf einen guten Abschluss.“
Dieser zusätzliche Unterricht ist sehr teuer. 500 Euro pro Monat für Nachhilfe sind normal. In den Prüfungsjahren kann das aber auch auf bis zu 3500 Euro ansteigen. Von diesen Zahlen berichten die Schüler des Cagaloglu-Lisesi. Diese Kosten fallen an, wenn es sich um Einzelunterricht handelt und die angeschlossenen Fahrdienste inklusive sind. Eine ganze Industrie lebt davon, dass die staatlichen Schulen nicht das Vertrauen genießen, die Schüler auf die Prüfungen richtig vorbereiten zu können. Cengiz Ertan, Lehrer am Kabatas-Lisesi meint: „Eigentlich ist es ja unsere Aufgabe, die Schüler für die Prüfungen fit zu machen. Doch es wird dem Schulsystem insgesamt nicht zugetraut.“
Diese Einschätzung hat auch mit den großen Unterschieden innerhalb des Landes zu tun. Im Westen, also in Istanbul oder Izmir, ist der Lebensstandard deutlich höher als in Städten wie Erzurum oder Batman im Osten. Mit dem Wohlstand steigt auch der Bildungsgrad. Die türkische Regierung will diese Ungleichheit auch durch das strenge landesweite Prüfungsverfahren ausgleichen. Doch im ärmeren Osten verschärft der teils objektive, vor allem aber subjektive Zwang zum Besuch der Dersane nach Schulschluss die Ungerechtigkeit noch. Denn hier fällt es den Eltern angesichts der niedrigeren Einkommen noch schwerer, das Geld dafür aufzubringen.
Das Özel-Bilkent-Lisesi ist eine Antwort auf dieses Problem. Özel Bilkent hat einen großen Teil seines Vermögens in eine Bildungsstiftung gesteckt. Neben einer Universität in Ankara gibt es in Erzurum ein Internat von ihm. Dieses Pilotprojekt soll auf andere Städte im Osten ausgedehnt werden. Im Gespräch sind Van und Batman. Zugangsvoraussetzung ist der zentrale landesweite Test. Hinzu kommt noch eine Aufnahmeprüfung. Wer es schafft, kann sich fast immer auf ein Stipendium freuen. Es sei denn, die Eltern verdienen zu gut.
Jeder Schüler erhält einen Laptop, die Klassen sind überschaubar und die Ausstattung ist auf dem allerneusten Stand. Ziel der Einrichtung ist es, eine Elite im Osten auszubilden, die dort nach dem Studium auch möglichst bleibt. Und die sich dem türkischen Staat verbunden fühlt, obwohl Türken in diesen Städten oft nur die Minderheit sind.
Dafür weicht das Schulkonzept auch von denen der staatlichen Schulen ab. Hier wird nicht nur auswendig gelernt, wie es an normalen Schulen angesichts der drohenden Multiple-Choice-Tests nötig ist. Am Özel-Bilkent hat Projektarbeit einen hohen Stellenwert. Neugier wird belohnt. Kreativität zu fördern ist Ziel der Schule. Staatliche Schulen opfern diesen Bildungsauftrag dem Pauken für die Zentralprüfungen.
Zwei Schulen in Ankara
Berufsverkehr in Ankara. Stop and Go. Das Taxi muss ständig anhalten und wieder losfahren. Auf dem Weg von der Tunus Cadessi zur Schule sind es vor allem die zwei, drei ersten Kilometer, in denen der Magen mit dem Taxifahrer kämpft. Zum Glück gewinnt der Magen. Das Frühstück bleibt im Bauch. Aber vor lauter Konzentration auf das innere Rumoren bleibt der Blick auf die Stadt, durch die das Taxt fährt, auf der Strecke.
Um neun Uhr bin ich in der Schule angekündigt, 15 Minuten früher bin ich schon da. Ein Geografielehrer nimmt mich in Empfang, weil die Deutschlehrerin noch nicht da ist. Er führt mich in den Raum für die Geografielehrer und bietet Tee an. Da er kurze Zeit in Deutschland lebte, kann er etwas Deutsch. Aber als jüngstes Kind kehrte er mit den Eltern in die Türkei zurück, während seine Geschwister fast alle in der Bundesrepublik blieben. Sie will er besuchen, weiß aber nicht genau, welche Art Visum er dafür benötigt und ob er dieses einfach bekommt.
Die Visumsfrage taucht auf der gesamten Reise immer wieder auf. Deutschland erteilt es nicht einfach. Zu groß ist die Angst, dass sich die halbe Türkei auf den Weg machen könnte. Für diejenigen, die ihre Verwandten besuchen wollen, bedeutet dies Stress. Und offensichtlich auch immer wieder Demütigungen. Wie in den anderen Schulen auch ist die Aufnahme herzlich. Zwischen Deutsch und Englisch schwankt die Unterhaltung. Immer ist sie von einem echten Interesse an dem Besucher getragen. Dafür wird sich auch Zeit genommen.
Etwa wenn die Deutschlehrerin zu spät kommt und darüber wegen eines defekten Handys nicht informieren kann. Dann geht der betreuende Lehrer eben etwas später in den Unterricht. Hier gilt tatsächlich der Satz: „Der Gast, der wird geehrt, auch wenn er noch so stört.“ Wobei der Gast hier nicht als störend empfunden wurde. Die Schule hat ein Internat und Schüler, die aus der Umgebung kommen. Das PASCH-Sommercamp zum Thema Schülerzeitung soll hier stattfinden. Bei der Übung sind drei Lehramtspraktikanten und zwei Lehrerinnen dabei. Die Schülerinnen – nur ein Junge gehört zur Gruppe – sind sehr aufgeweckt und nehmen vor allem die Anregungen zur Themenfindung gern an. Stellten sie sich ursprünglich vor allem ein sehr offizielles Heft als Schülerzeitung vor, begannen sie bald über die Themen nachzudenken, die für die selbst relevant sind.
Das war wieder der hohe Lerndruck, die Anzahl der Prüfungen und Tests, aber auch die Diskussion der Internatsschüler, was auf dem einen Fernseher geschaut wird. Oder das Schulessen. Es ist nicht so gut, wie sie es sich wünschen. Die Begeisterung für die Entdeckung ihrer eigenen Themen war so groß, dass die abschließende Übung eine andere Wendung nahm wie in allen anderen Schulen. Eigentlich sollten sie in Kleingruppen einen Text über das gerade Erlebte schreiben. Also eine kleine Nachricht über meinen Besuch, bei dem die Wörter Ich und Wir auf keinen Fall vorkommen dürfen, weil eine Icherzählung bei Lesern nie gut ankommt.
Die Schülerinnen der ersten Schule in Ankara haben gleich damit begonnen, über die neuen Themen zu schreiben. Das war ein ganz neuer Lehrerfolg auf dieser Reise. Gleich nach Ende der Einheit musste ein Taxi gesucht werden. Denn jetzt ging es zum TED-College am anderen Ende der Stadt. Was bei der Fahrt auf der Strecke blieb, war das Mittagessen. Denn ich war erst pünktlich um 13.00 Uhr vor Ort. Da ging es dann gleich weiter. Die nächste – und letzte Schülergruppe dieser Reise. Das TED ist eine riesige private Lerneinrichtung. Grundschule, Gymnasium und Universität auf einem Campus. Allein am Gymnasium werden 2.000 Schüler unterrichtet. In den anderen Einrichtungen sind die Zahlen ähnlich. Das Gelände wirkt von außen wie ein Hochsicherheitstrakt. Es ist vollständig von hohen Zäunen umgeben, wird von einer großen Schranke gesichert und ist beim ersten Besuch kaum zu übersehen. Man fühlt sich in die USA versetzt. Das wird noch durch die vielen Schulbusse verstärkt. Dutzende holen Schüler und Lehrer nach der Schule ab. Den richtigen findet man nur dank der Hilfe vieler freundlicher Menschen. Der Eintritt in die Schule birgt eine Überraschung. Hier sind keine engen Korridore, sondern eine Art überdachte Straße. Rechts und links wird gemalt. Und was da auf die Leinwände gezaubert wird, zeugt von einem guten Kunstunterricht. Weiter vorne spielt eine Band vor einer großen Traube Schüler. Und überall ist Bewegung, auch nach den Pausen. Die Atmosphäre ist sehr einladend. Nur leider fehlte mir die Zeit zum Essen, noch entspannter all die Kreativität aufnehmen zu können. In einem Raum der Bibliothek fand dann die Übung statt. Auch hier herrschte zunächst der Wunsch vor, weniger eine Schülerzeitung als vielmehr eine PR-Broschüre zu gestalten. Da sollten Texte über Faust erscheinen, über türkische Geschichte und die eigenen Schule. Doch auch bei dieser Gruppe sprang der Funken schnell über. Die Themen, die sie drücken, sind die gleichen: Hausaufgaben, Prüfungsstress, Dersane und so weiter. Aber dann kamen die eigenen Beobachtungen: Der Kiosk ist zu teuer. Jetzt soll mit einem Preisvergleich das Thema bearbeitet werden. Mal schauen, ob es gelingt. In die Stadt ging es dann mit einem der vielen Busse.
Der Vater eines Schülers hat mich am Ende begleitet. Und sein Leid geklagt. Denn er war vom TED auf dem Weg in die Dersane, in der sein Sohn nach der Schule täglich noch zusätzlichen Unterricht hat. Oft kommt der erst um neun Uhr nach Hause, um sich dann noch an die Hausaufgaben setzen zu müssen. Er tut seinem Vater leid. Aber einen anderen Weg, seinen Sohn in der Schule erfolgreich zu machen sieht er – wie hunderttausende andere türkische Eltern nicht. Rund um die Tunus Cadessi sind viele Lokale. Stetes Leben lädt zum Verweilen ein.
Ein Tag in Erzurum
Die Zitadelle liegt an einer sehr schmalen Straße. Hier ist richtig Altstadt. Es gibt alte Holzhäuser und Kopftücher überall. Auf dem kurzen Stück von der Zitadelle zurück zur Hauptstraße findet sich rechterhand eine Moschee oder ein Kulturverein, in den nur bekopftuchte Frauen gingen. Für den westlichen Beobachter wirkte das befremdlich; auch weil die Frauen mich nicht anblickten. Sie schauten allenfalls auf meine Schuhe. Und das machte mich wiederum so verlegen, dass ich mich nicht mehr traute, genau hinzuschauen. Und deshalb weiß ich nicht, ob es eine Moschee oder ein Kulturverein oder gar ein Frauen-Hamam war, in das sie alle verschwanden.
Links neben der Ulu-Moschee öffnet sich von der Zitadelle kommend ein Platz. Auf ihm steht eine Besonderheit: eine Medresse mit je einem Turm rechts und links neben dem Tor. Diese Koranschule ist heute nur noch für Besichtigungen offen. Gelehrt wird nicht mehr in ihr. Sie scheint aus der gleichen Zeit zu stammen wie die Moschee. In ihr ist alles um einen Kreuzgang angeordnet. Der Platz in der Mitte ist frei, doch rechts findet sich eine erhobene Fläche, auf der der Koranlehrer einst dozierte. Rechts und links davon sind die Türen, die in die kleinen Zimmer der Studenten führten. Am Kopfende ist das Grab einer Frau, offenbar der Stifterin der Schule.
Nun wirkte das bei mir alles sehr entrückt, weil ja alles voller Schnee war, aber im Sommer kann sich hier ein Eindruck davon verfestigen, wie die Islamlehrer ausgebildet wurden, um die Religion zu verbreiten. Der karge Raum verstärkt den Eindruck der Entbehrung. Aber wahrscheinlich ist das zu sehr aus dem Jetzt gedacht. Mittelalterliche Klöster waren auch kein Ort der Abwechslung. Auch bei uns waren die Häuser und Schulen aus heutiger Sicht eher entbehrungsreich.
Ein Mann um die 50 hat mich dann auf Englisch angesprochen. Nach meiner Antwort ist er sofort ins Deutsche gesprungen. Er hat mir seine Geschichte erzählt, wie er um 1980 als kurdischer Flüchtling für fünf Jahre in Dortmund gelebt hat. Die Zeit hat er genutzt, um Deutsch zu lernen. Er war neugierig und aufgeschlossen. Politisch hat er davon geträumt, dass der Nationalitäten-Quatsch ein Ende haben möge, damit sich alle Menschen darauf konzentrieren können, um zu sich selbst zu finden und damit auch die anderen besser wahrnehmen können. Das galt auch für die kurdischen Parteien. Die hält er inzwischen für genauso falsch wie die Parteien, die für ein geeintes Türkentum kämpfen. Es könne doch nur darum gehen, dass alle Menschen, die in einer Region oder einem Land leben, die gleichen Rechte und Pflichten hätten. Deshalb sei kurdischen Nationalismus genauso falsch wie türkischer, deutscher oder sonst einer auf der Welt.
Das Gespräch war sehr angenehm, da er gar nicht aufdringlich war. Auch nicht, als er sagte er sei Teppichhändler und würde mir seinen Laden gern mal zeigen. In dem Moment regten sich bei mir alle Abwehrreflexe. Doch dann habe ich mich entschieden mitzugehen. Sein Laden ist gleich in der Gasse rechts von der Medresse. Er zeigte mir unterschiedliche Stücke und war auch gar nicht sauer, als ich schon anfangs sagte, ich werde nichts kaufen. Der Tee war gut und ich habe einiges über spezielle Tücher aus Erzurum gelernt, über Teppichhandel und Reisen in den Iran und Preisunterschiede zwischen Erzurum und Istanbul. Anschließend hat er mir noch seine neueste Errungenschaft gezeigt: Ein altes Haus, das er saniert hat und in dem jetzt auf zwei Etagen ein Café ist. Die rohen Holzstämme im Inneren haben etwas Befremdliches, aber auch etwas sehr Gemütliches. Wenn ich nicht den Termin in der Schule und tatsächlich auch etwas Hunger gehabt hätte, wäre ich sicherlich noch auf einen Cay geblieben.
So aber ging ich die Hauptstraße zurück und genoss die Sonne. Meine Schuhe sahen ganz furchtbar nach all dem Dreck und Regen und Schnee aus. Deshalb habe ich mir die Schuhe putzen lassen. Im ersten Moment hatte ich ein schlechtes Gewissen. Der reiche Europäer lässt sich vom armen Türken die Schuhe putzen. Das Bild hat schon etwas Perverses. Aber ich benötigte die Dienstleistung. Und so habe ich sie in Anspruch genommen. Was der Mann dann aus meinen Schuhen gemacht hat, ist kaum zu glauben. Nach etwa zehn Minuten glänzten sie so sehr, dass der Grundglanz bestimmt noch tagelang zu sehen sein wird.
Zum Essen bin ich dann in ein Lokal, das einen Dönerspieß in der Waagrechten im Fenster hatte. Schon als ich das Lokal betrat, wurde der Tisch mit Salat und zwei Vorspeisen bestückt. Dann dauerte es gerade mal zwei Minuten und schon bekam ich einen Spieß auf den Teller gelegt. Erst wunderte ich mich, wo der Spieß herkam. Doch dann beobachtete ich den Mann am großen, liegenden Spieß. Hinter ihm ist glühende Holzkohle. Er dreht den Spieß ständig. Mit einem kleinen Spieß sticht er fertiges, überstehendes Fleisch an und schneidet es ab. So füllt sich der kleine Spieß mit immer neuen kleinen Stückchen. Und diese Spieße werden dann durch das Lokal getragen. Und einfach auf die Teller der Gäste gelegt.
Bis man Nein sagt. Erst dann ist Schluss. Das Essen war sehr gut, aber allzu viel konnte ich nicht zu mir nehmen. Schade eigentlich. Der türkische Kaffee zum Schluss rundete das Mittagsmahl ab. Und dann half mir die ganze Belegschaft – es waren mindestens sechs, die ich mit nur 11 Tele für das reichliche Mittagessen plus Cola und Kaffee entlohnen sollte – einen Taxifahrer zu organisieren. Zwischenzeitlich wurde mir ein Handy ans Ohr gehalten, aus der eine Männerstimme sagte, ich könne immer anrufen. Ere würde sich um mich kümmern und mir alles zeigen in der Stadt. Aber ich wollte doch nur in ein Taxi und in diese Schule. Irgendwann klappte es dann auch. Das Taxi fuhr an der neuen Skisprungschanze vorbei, passierte viele neue Häuser und brachte mich schließlich auf einen Campus, der wie ein Ufo wirkte.
Da war alles blitzblank, da zeugte eine moderne, markante Architektur von großem Selbstbewusstsein. In der Schule wurde mir klar, dass das alles zusammengehört. Denn die Schule ist eine Privatschule, die sich zur Aufgabe macht, eine neue türkische Elite in der Peripherie des Landes auszubilden. Dafür gewährt eine Stiftung Stipendien für 80 bis 90 Prozent der Schüler. Um in den Genuss zu kommen, müssen sie bei den landesweiten Abschlussprüfungen nach der achten Klasse eine sehr hohe Punktzahl erreichen. Außerdem ist noch eine extra Aufnahmeprüfung nötig. Dafür kommen sie in eine Schule mit Internat, in der jeder Schüler einen eigenen Laptop bekommt und in Klassenräumen lernt, die mit der neusten Technik ausgestattet sind. Zudem wurde mir gesagt, dass die Klassen in der Regel 16 bis 18 Schüler haben. Wichtig ist den Lehrern offenbar, dass die Schüler auch lernen selbstständig zu denken. Für türkische Schulen ist das nicht selbstverständlich.
In der Regel geht es dort um abfragbares Wissen. Meine Übung war großartig. Die Schüler machten mit, stellten mir Fragen und waren auch sonst nicht nur neugierig. Nein, diese Schüler stellten auch immer wieder in Frage, was ich sagte. Und so war der Lerneffekt bestimmt noch besser, weil ich mir stets neue und noch überzeugendere Argumente einfallen lassen musste. Nach der Übung führte mich die Lehrerin noch zum Generaldirektor. Denn es gibt an der Schule neben dem Direktor auch diesen Mann, der dafür zuständig ist, die nächsten vergleichbaren Schulen in Van und einigen anderen Städten zu planen. Er selbst war Präsident einer Istanbuler Universität, war mehrere Jahre Gründungsrektor einer türkischen Uni in Kirgisien (wenn ich richtig aufgepasst habe) und auch sonst ein sehr weltgewandter Mann.
Trabzon im Dauerregen
Die Busfahrt von Trabzon nach Samsun führt immer entlang des Schwarzen Meers. Meist fahren wir zehn bis 20 Meter über ihm. In Trabzon hat es noch wie wild geregnet. So schwere Regentropfen, von denen jeder einzelne einen nassen Fleck hinterlässt. Nicht von diesen kleinen, eher feinen, die wir bei uns haben. Doch nach zwei Stunden kam die Sonne durch. Das trübe Meer hat sich von einem dunklen Grau in ein dunkles Türkis verfärbt.
Und immer da, wo die vielen Flüsse aus den Bergen rechts von uns in das Meer mündeten, lag ein helles Ocker in einer großen Fläche im Meer, die nach hinten immer weiter ausfranste. Da trugen die Flüsse den Sand und den Lehm von den Bergen, die mit Schnee bedeckt sind. Das sah schon alles imposant aus. Die Straße, auf der wir fahren, führt fast ständig an Orten und Städten vorbei oder durch sie hindurch.
Überall ist diese Küste bebaut. Immer in den gleichen vier bis sechsgeschossigen Häuser, wie sie überall zwischen Griechenland und Ägypten mal höher, mal niedriger stehen. Schön sind die nicht. Erst das Leben, das zwischen und in ihnen stattfindet, macht sie interessant.
Trabzon selbst war nicht so toll. Das lag aber sicherlich sehr stark an diesem Regen. Und dann auch nur 3 Grad. Die Ayasofia ist recht schön. Sie ist im 15. Jahrhundert gebaut worden und eines der wichtigsten spätbyzantinischen Bauwerke der Türkei. Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre wurden die erhaltenen Fresken saniert. Doch wirklich geschützt werden sie nicht. Zwar ist das Blitzen verboten, doch die Tauben fliegen durch die offenen Türen und hausen in dem Baudenkmal. In meinem Reiseführer von 1985 wird das schon bemängelt. Damals gab es wohl auch noch keine Fenster. Die schützen in der Kuppel nun, doch wenn die Tauben anders hineinkommen, ist nicht viel gewonnen. Die Fresken, die auch deshalb interessant sind, weil sie wie Mosaiken gemalt sind, werden wohl die nächsten 20 Jahre kaum überstehen. Das mit den Mosaiken bezieht sich auf die Strukturierung der Körper und die Faltenwürfe der Kleider. Sie wirken, als wären sie mit Mosaiksteinchen gemacht worden. Die Farbübergänge sind nicht so fein, wie normalerweise mit Farbe. Und dennoch sind die Gesichter, Körper und Gegenstände sehr plastisch.
Ein Blick in das Museum lohnt sich also. Auch, weil die Lage früher einmal sehr schön war. So erhaben mit dem Blick auf das Schwarze Meer.
Spannend ist die Schule. Sie wurde von Bruno Taut gebaut und ist tatsächlich ein für eine Schule erstaunliches Bauwerk. Alles ist licht und hell. Es gibt viele Räume zur Begegnung, etwa mit Tischtennisplatten und Billardtischen. Die Klassenzimmer sind großzügig und selbst die Schulbibliothek, die mit dunklen Bücherregalen bis unter die ca. 3,50 bis 4 Meter hohe Decke zugestellt ist, strahlt selbst bei diesem grauen Himmel und dem Dauerregen eine erstaunliche Helligkeit aus.
Wichtig in der Schule ist zudem der Fußballplatz. Vor knapp zehn Jahren war die Schule Weltmeister der Schulen. Und die türkische Meisterschaft holen sie fast jährlich. Kein Wunder, ist doch Trabzonspor seit Jahren einer der besten Clubs und spielt auch gerade wieder um die Meisterschaft ganz oben mit. Im vergangenen Jahr habe ich Trabzonspor in Istanbul gegen BBS spielen gesehen. Das kam bei den Schülern gut an. Es hat wieder viel Spaß gemacht, mit ihnen zu arbeiten. Leider waren sie noch nicht so gut, dass sie deutsch reden konnten. Sie haben zwar viel verstanden, aber es musste alles von der netten Deutsch-Lehrerin übersetzt werden.
Brandenburger Vergleichsarbeiten als Drohkulisse
Die Grundschulgutachten sind da. Die Kinder der sechsten Klassen in Brandenburg wissen, welchen Bildungsgang ihre Lehrer ihnen zutrauen. Für diejenigen, die eine Empfehlung fürs Gymnasium bekommen haben und den Notenschnitt erfüllen, ist alles klar. Andere können beim Probeunterricht im April ihr Ziel noch erreichen. Was auf den ersten Blick ganz sinnvoll wirkt, ist aber vor allem bei der Gymnasialempfehlung oft eine Farce. Denn viele Lehrer bewerten nicht die Fähigkeiten der Schüler. Sie machen sich nicht die Mühe, die Kreativität, das soziale Engagement, die Familiensituation zu beurteilen, um daraus abzuleiten, ob ein Kind das Gymnasium bestehen dürfte.
Nein, sie schauen einfach auf die Note. Wer eine Zwei hat, bekommt die Empfehlung, wer schlechter ist, bekommt sie nicht. In der Regel tun sich diejenigen Lehrer am schwersten mit dieser Unterscheidung, die auf Auswendiglernen gesteigerten Wert legen, und für die Sekundärtugenden wie Sauberkeit und Ordnung das Maß ihrer Vorstellung von Bildung sind. Für die Kinder – und um die sollte es bei all diesen Fragen ja vor allem gehen – ist dies alles der reinste Wahnsinn. Auf sie wurde im letzten halben Jahr ein irrsinniger Druck ausgeübt. Schon kurz nach Schuljahresbeginn wurde mit den Vergleichsarbeiten eine Drohkulisse aufgebaut. Auch diese bildungspolitische Neuerung in Brandenburg zeigt, wie radikal der Wunsch nach Auslese in der Mark ist. Vergleichsarbeiten sind eigentlich dazu da, um zu testen, ob Lehrer in der Lage sind, den Stoff an ihre Schüler zu vermitteln. Eine Idee, die zu begrüßen ist.
Doch was hat die rot-schwarze Koalition in Potsdam daraus gemacht? Einen zentralen Test, um den Übergang aufs Gymnasium zu erschweren. In Mathematik und Deutsch wurden die Kinder getestet und benotet. Und zwar so massiv, dass Schüler durch eine schlechte Arbeit daran scheitern konnten, die oben erwähnte Quersumme zu erreichen. In Mathe schafften die Kinder gerade mal einen Schnitt von 3,4 landesweit. Es gab auch Klassen, die deutlich besser waren. Deren Schüler hatten offensichtlich Glück. Doch es wird auch Klassen geben, in denen das schlechte Testergebnis für die Lehrkräfte zum unüberwindbaren Hindernis für Schüler wurde, um sich auf den Weg zum Abitur machen zu können. Verbunden war das mit Druck. I
mmer wieder wurde den Kindern erzählt, wie wichtig diese Vergleichsarbeiten sind. Die Unsicherheit der Lehrkräfte, die ja selbst nicht wussten, was auf sie zu- kommt, wurde an die Kinder weitergegeben. Statt die Lehrer erst einmal zu testen, dann die Ergebnisse auszuwerten und dann eventuell zentrale Tests einzuführen, entschied sich die Brandenburger Politik für die brutalste Variante: ungebremster Druck auf die gesamte Schulgemeinschaft.
Denn die Eltern mussten sich ja auch noch mit dieser Unsicherheit beschäftigen. Und ihre Kinder immer wieder aufbauen. Und jede Menge Nachhilfe organisieren. Zwar will Minister Rupprecht die Gewichtung der Vergleichsarbeiten im kommenden Jahr reduzieren. Dennoch sind sie zusammen mit den Grundschulgutachten eine unschlagbare Kombination, um die Zahl der potenziellen Abiturienten bloß nicht zu vergrößern. Und das in einer Zeit, in der uns die Akademiker ausgehen – vor allem in Brandenburg.