Helmut Kohl lässt nur Otto von Bismarck neben sich gelten

Ganz ruhig spricht Helmut Kohl. Ganz gelassen blickt er auf seine ganze Bedeutung als Bundeskanzler zurück. Und ganz sicher ist er sich, dass er weder von seinem Noch-Nachfolger Gerhard Schröder noch von der eventuell künftigen Kanzlerin Angela Merkel etwas zu befürchten hat. Helmut Kohl überstrahlt sie alle – und daran wird sich auf absehbare Zeit auch nichts ändern.

Helmut Kohl: Erinnerungen 1982 - 1990
Helmut Kohl: Erinnerungen 1982 – 1990

Damit das auch ganz sicher so bleibt, orientiert er sich an dem einzigen deutschen Kanzler,
den er neben sich gelten lässt: an Otto von Bismarck. Der hat seine „Gedanken und Erinnerungen“ auch in drei Bänden herausgebracht. Genau so, wie es auch Helmut
Kohl vorschwebt. Im Berliner Hotel Hilton stellte er gestern den zweiten Band seiner Memoiren vor. Die Gedanken schenkt er sich.

Passender hätte der Zeitpunkt nicht sein können. Der Saal ist voll. Die internationale und die nationale Presse will sich dieses Schauspiel nicht entgehen lassen. Alle wollen hören, wie er die Gegenwart sieht. Doch das Buch handelt von der Vergangenheit. Die ersten acht Jahre seiner Kanzlerschaft hat Helmut Kohl auf 1000 Seiten beschrieben. Und doch steckt in diesem zweiten Band mehr Regierungserfahrung, als sie der noch amtierende Kanzler Gerhard Schröder vorweisen kann. Der schaffte es nur auf sieben – Helmut Kohl auf 16 Jahre an der Spitze der Bundesrepublik.

Aber Schröder hat Kohl offensichtlich schwer getroffen. Nicht nur, dass er es schaffte, ihn
1998 abzulösen. Nein, Schröder kritisierte Kohl noch im letzten Wahlkampf. „Wer die Reden des Bundeskanzlers Schröder im Wahlkampf gehört hat, wird sich schon wundern“, hebt der Altkanzler an. Von wegen 16 Jahre Stillstand, empört er sich über die Aussagen des Sozialdemokraten. Die anwesenden Journalisten bekommen eine kurze  Misserfolgsbilanz von Rot-Grün präsentiert. Ob Arbeitslosenzahlen, Verschuldung  oder Bruttoinlandsprodukt – seine Zahlen klingen besser. Obwohl sie gar nicht Thema des Buches sind, das er vorstellt, kann er es sich nicht verkneifen, mit diesem aktuellen Abschweifer seine Größe zu betonen.

Ansonsten ist Helmut Kohl ganz der souveräne Beobachter. Alles, was nichts mit ihm
und seiner Regierungsbilanz zu tun hat, lässt sich locker kommentieren. Natürlich erst nach ein bisschen Koketterie: „Ich bin hierher gekommen, um über mein Buch zu sprechen
und nicht über mein Verhältnis zu Frau Merkel.“ Grinsend antwortet er auf die Frage nach
seinem Umgang mit der CDUVorsitzenden. Da rutscht sogar die Zunge ganz spitz an die
Oberlippe. Ein echter Genießer, dieser Dr. Helmut Kohl. Vor allem dann, wenn er die
Akteure der Gegenwart noch immer überstrahlt.

Die Frage nach seiner Sicht auf Edmund Stoiber ist ihm ein besonderes Vergnügen. Auf
den 1000 Seiten wird der damalige CSU-Generalsekretär gerade ein einziges Mal erwähnt.
„Edmund Stoiber war immer ein gewaltiger bayerischer Politiker“, sagt Kohl über den Mann, den es statt nach Berlin nun doch wieder in die bayerische Landeshauptstadt zieht. „Aber nicht so gewaltig, dass ich mich in den Memoiren mit ihm beschäftigen müsste.“ Und weil es ihm so viel Spaß macht, legt er noch nach: „Er war immer so eng an Strauß, dass man gar nicht an ihn herankommt.“

Die Probleme bei der derzeitigen Regierungsbildung kann Kohl verstehen. In seinem Buch würden sich Parallelen zu seiner ersten Koalition 1982 finden. Und außerdem seien Politiker doch auch nur Menschen. „Versuchen sie mal die Fusion von zwei Fußballvereinen.
Das ist schon hundertfach gescheitert. Oder die Fusion von zwei Firmen. Da heißt es dann, dass die Unternehmenskultur das Problem ist. Aber das ist nur ein Spruch.“ Egal, ob Fußballvereine, Firmen oder Koalitionen: „In dem einen Fall besiegt die eine Mannschaft
die andere. Im anderen Fall ist es umgekehrt.“

Im Hilton ist klar, wer früher immer der Sieger war. Helmut Kohl hatte die Akteure im
Griff. Sein wichtigstes Mittel dazu: Vertrauen und Freundschaft. Die pflegte er mit dem
Franzosen François Mitterand, dem Spanier Felipe Gonzalez, dem Russen Michail Gorbatschow und dem Amerikaner George Bush. Für die Regierungsbildung heißt das, dass
sich die Akteure erst einmal vertrauen müssen. „Der deutsche Wähler hat so entschieden.
Jetzt muss der deutsche Wähler hinnehmen, dass es schwierig ist.“ Wenn Parteien gegeneinander gekämpft haben, dauert es eben, bis diese „gewaltigen Organisationen“
einen neuen Weg gehen.

Echtes Mitgefühl entwickelt Kohl mit Franz Müntefering. Auch wenn er sich erst einmal bremst: „Ich bin kein Freund des SPD-Vorsitzenden. Wie käme ich dazu.“ Aber das, was die SPD mit ihm gemacht habe, rechtfertige seinen Rücktritt. „Er macht die ganz Arbeit, geht dann in seinen Vorstand und der säbelt ihm die Beine ab.“ Das erinnert den einstigen CDU-Vorsitzenden an einen Parteitag im Bremen der späten 80er-Jahre. Da wollten ihn einige auch absäbeln. Natürlich ist es den Geißlers, Blüms und Co. nicht gelungen. Aber für Müntefering hat er Verständnis: „Versetzen sie sich mal in ihn hinein. Es ist richtig, dass er geht. Wer danach behauptet, er habe das nicht gewollt, der lügt.“

In seinem grauen Anzug mit der nett leuchtenden gelben Krawatte sieht Helmut Kohl blendend aus. Er strahlt über das ganze Gesicht. Ganz besonders, als er sich mit seiner
Nach-Nachfolgerin vergleichen kann. Wenn es stimme, dass die CDU sich von Frankreich
und Großbritannien abwenden und viel stärker zu den Osteuropäern hinwenden wolle,
dann verwundere ihn das. Sollte dieser Gedanke aus dem Umfeld Merkels kommen, „dann ist es ein törichtes Umfeld, das nicht erfolgreich sein wird“. Wovon er natürlich ausgeht.
Denn eigentlich ist er noch immer irgendwie der Bundeskanzler. Auch wenn ihn bei seiner Buchpräsentation ausnahmsweise niemand so angesprochen hat.

Helmut Kohl: Erinnerungen – 1982 – 1990. 1000 Seiten, Droemer, 29,90 Euro

(Lausitzer Rundschau)

Kitschfreie Liebeslieder von Rio Reiser für die Ewigkeit

Rio Reiser (1950 bis 1996) war die kräftigste und poetischste Stimme der deutschen Rockmusik. Auch neun Jahre nach seinem Tod überzeugen seine Songs. Das beweist
jetzt das Familienalbum, Band 2.

Von Klee bis zu den Söhnen Mannheims, von Christina Stürmer (23) bis Dorfdisko, von Clueso bis Keimzeit reicht das Spektrum der Interpreten. Das Phantastische: Rios
Lieder funktionieren noch immer. Egal ob Klee mit „Lass mich ein Wunder sein“ ganz nah am Original bleibt oder ob die Söhne Mannheims aus „Mein Name ist Mensch“ ein Stück machen, das so klingt, als sei es nur für sie geschrieben.

Schon zu seinen Lebzeiten zeigte sich die Wandlungsfähigkeit von Rios Musik. Marianne Rosenberg (50) startete mit ihr ein Comeback, das vor allem in der Schwulen-Szene für Begeisterung sorgte. Das funktionierte auch damals nur, weil Rio die extrem seltene
Gabe hatte, kitschfreie Liebeslieder schreiben zu können. Selbst bei Marianne Rosenberg gingen die im Kitsch nicht vollständig unter.

Auf dem Familienalbum, Band 2 ist dann auch nicht umsonst „B-Seite“ von Annett Louisan (28) eines der schönsten Lieder. Es klingt tatsächlich so, als wäre es für ihr neues Album erst ganz neu geschrieben worden. Und das gilt für das rockige „Bis ans Ende der Welt“ von Christina Stürmer genauso. Nur Reinhard Mey (52) stört auf dem Album. Das hätte nicht sein müssen. Ganz anders übrigens als Claudia Roth (50). Ihr Intro ist ein starkes Bekenntnis der Grünen-Vorsitzenden, die so gern für ihre Emotionen und ihr Outfit belächelt wird. Im Intro erzählt sie kurz und klar, dass sie dieses Selbstbewusstsein
zum „Nur-Ich-Selber-Sein“ von Rio Reiser hat – aus der Zeit, als sie Managerin von Ton Steine Scherben war.

Benjamin von Stuckrad-Barre googelt sich durch Netz

Er galt einmal als Popliterat, was immer das auch sein mag. Auf jeden Fall hat Benjamin von Stuckrad-Barre (30, Soloalbum) ein feines Gespür für gesellschaftliche  Veränderungen. Sein neues Buch belegt das. Auch wenn es eigentlich kaum zu lesen ist. Denn es ist eine einzige Ansammlung von Stichwörtern, Halbsätzen und Sätzen.

Es besteht aus dem, was das Internet so bereithält, wenn man googelt. Stuckrad-Barre sammelt dies. Herauskommt eine teils spannende, manchmal aber auch grotten-
langweilige Aneinanderreihung von Phrasen zu einem Stichwort. Das Triviale neben dem Wissenschaftlichen, die Veräppelung neben dem Ernsthaften. Das erzeugt einen Eindruck von der Vielfalt menschlicher Kommunikation. Ein Hypertext auf Papier, der einen
sprachlos macht.

Benjamin von Stuckrad-Barre: Was.Wir.Wissen., Rowohlt, 14,90 EURO

Eleonora Hummel erzählt aus dem Leben der Aussiedler

Sie leben zu Hunderttausenden unter uns, doch kaum einer kennt die Sorgen und Nöte der deutschen Aussiedler aus Russland. Wenn überhaupt, wird über Kriminalität jugendlicher Aussiedlerbanden berichtet. Doch wie das Leben vor der Übersiedlung in die  Bundesrepublik aussah, interessiert die Öffentlichkeit nicht weiter.

Eleonora Hummel ist eine von ihnen. 1970 kam sie in Kasachstan zur Welt. 1980 erfüllte sich der Traum, nach Deutschland ziehen zu können. In ihrem Roman „Die Fische von Berlin“ erzählt sie autobiografisch geprägt von einer Familie, die zwischen der russischen
und der deutschen Welt lebt. Hier gelten sie als Russen, dort galten sie als Deutsche. Die Zerrissenheit und Sehnsucht nach einer klaren und festen Heimat ist das Thema
dieses guten Debüts.

Eleonora Hummel: Die Fische von Berlin, Steidl, 18 EURO

Will Eisner zeichnet ein Comic gegen den Judenhass

Wenige Hetzschriften wirken so lange und so verheerend wie „Die Protokolle der Weisen von Zion“. Will Eisner, der große – im Januar verstorbene – Meister des Comics, erzählt die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte in Bildern.

Will Eisner kam 1917 in Brooklyn zur Welt. Seine Eltern waren Juden aus Österreich, die ihr Glück in New York suchten. Hätten sie diesen Schritt nicht gewagt, wären er und seine Eltern sehr wahrscheinlich genauso wie sechs Millionen andere europäische Juden von den
Nazis ermordet worden. Eines der wichtigsten Bücher, auf die sich Hitler und die Nazis
immer wieder in ihrem Judenhass beriefen, waren die „Protokolle der Weisen von Zion“.

Für Hitler waren sie echt. Davon, dass es sich dabei um eine üble Fälschung handelt,
wollte er nichts wissen. In den Protokollen wird eine angebliche Sitzung der einflussreichsten Juden wiedergegeben. Auf ihr sollen sie beschlossen haben, die Weltherrschaft zu übernehmen. Alle Vorurteile über die jüdisch-kapitalistische Weltverschwörung sind in diesem Band versammelt.

Doch das verheerende Buch stammt aus der Feder eines Fälschers des Geheimdienstes des russischen Zaren. Gedacht war es, um die Juden für Unruhen verantwortlich zu machen. Es fiel auf furchtbar fruchtbaren Boden. Schon im Zarenreich kam es zu
Progromen an Juden. In den folgenden mehr als hundert Jahren wurde es in alle wichtigen
Sprachen mehrfach übersetzt.

Zurzeit ist es bei islamistischen Terroristen eine gern gelesene Lektüre zur Anzettelung des Hasses gegen Israel. Will Eisner zeichnet die erschütternde Geschichte des Machwerks
in düsteren, eingängigen Bildern. Da es sich dabei leider um keine abgeschlossene Geschichte handelt, ist Eisner darauf angewiesen, erklärende Zwischentexte und Fußnoten zu verwenden. Das wirkt bei einem Comic zwar etwas seltsam, ist aber dennoch zulässig.
Denn Eisner will aufklären. Er wählt den Comic, um sein Thema an Menschen zu bringen,
die niemals ein Geschichtsbuch in die Hand nehmen. Sein Comic kann sie erreichen. Das ist hervorragend. Besser als Geschichtsstunden in der Schule – und einprägsamer.

Gilad Atzmons Satire bricht israelische Tabus

Wer seinen Lebensunterhalt als Jazzmusiker verdient, weiß ganz genau, wie man mit unkonventionellen Einfällen schockieren kann. Allerdings ist die Gemeinde der Jazzfans so klein und eingeweiht, dass sie diese Provokationen gern mit Applaus honoriert. Das große Publikum, das sich tatsächlich auch provozieren lassen könnte, straft die Jazzer mit konsequenter Ignoranz.

Ein provokanter Schelmenroman
Gilad Atzmon verdient sein Geld als Schlagzeuger in der Londoner Jazz-Szene. Die Lust an der Provokation lebt er in seinem ersten Roman so richtig aus. Sein
Schelmenroman „Anleitung für Zweifelnde“ ist ein Generalangriff auf die israelische Gesellschaft der Gegenwart. Sämtliche Tabus Israels verletzt Atzmon mit einer Wucht, die den Leser manchmal erschauern lässt. Doch das Ergebnis ist nicht nur erheiternd, es ist so richtig erhellend.

Distanzierter Blick auf Israel
Gunther Wanker ist der obskure Schelm von Gilad Atzmon. Er ist ein Israeli deutscher Abstammung, der recht bald erkennt, dass die Politik der Besatzung und Unterdrückung der Palästinenser den inneren Verfall der israelischen Gesellschaft befördert. Wo Freiheit und Selbstbestimmung einst die zionistischen Einwanderer beflügelte, herrscht jetzt nur Angst und der Wille zur Unterdrückung der Palästinenser. Wanker blickt aus dem Jahr 2032 auf die Geschichte seines Lebens und seines Volkes zurück. Beides mit großer Distanz.

Erkenntnisse aus der Peepshow
Denn Wanker ist der Begründer der Peepologie. Einer Wissenschaft, die ihre Erkenntnis in der Peepshow gewann. Wanker nimmt das Guckloch des Voyeurs als Erkenntnisquelle. So wie der Voyeur immer nur das Ziel seines Verlangens außer Griffweite sehen kann, so kann das israelische Volk seinen Wunsch nach Frieden auch immer nur in der Vorstellung sehen.  In der Wirklichkeit verhindert der Blick auf einen möglichen Frieden den echten, weil der Blick durch den Sehschlitz vor allem die eigene Vorstellung transportiert, nicht aber die des Partners, mit dem dieser Frieden geschlossen werden müsste.

Satirische Attacke bringt Erleuchtung
Atzmon attackiert mit der Handlung und dem Stoff seines Romans also das Selbstverständnis der israelischen Gesellschaft. Doch wie bei jeder guten Satire, ist das nicht zersetzend. Dieser Vorwurf kommt immer von denen, die aus den gerade aktuellen Zuständen Gewinne ziehen. Diese Satire ist eine prickelnde Erleuchtung – nicht nur über Israel. Auch über die kulturellen Verwerfungen der eigenen Gesellschaft.

„Anleitung für Zweifelnde“ von Gilad Atzmon ist bei dtv erschienen. Das Buch hat 180 Seiten und kostet 12,50 Euro.

Fereshta Ludin: Mit Naivität zum politischen Ziel

Das Kopftuch ist ihr heilig. Lieber verzichtet Fereshta Ludin auf ihren Traumjob, als dass sie das Kopftuch ablegen würde. Für sie ist das Tragen des Tuchs Teil ihrer Religionsfreiheit als Muslimin. Für viel andere ist es eine Provokation: Was hat das religiöse Symbol in einer Grundschule in Baden-Württemberg zu suchen? Vermutlich noch in diesem Jahr wird das Bundesverfassungsgericht entscheiden, ob ein Kopftuch den Berufseinstieg als Lehrerin verhindern darf.

Internationaler Streit
Kaum eine Diskussion rund um die Zuwanderung hat die Gemüter in Deutschland so erhitzt wie der Kopftuchstreit. Aber nicht nur hierzulande stoßen muslimische Frauen auf massiven Widerstand, wenn sie mit Kopftuch unterrichten wollen. Auch in Frankreich und anderen europäischen Ländern wurde und wird der Kampf erbittert ausgefochten.

Gestik der Demut
Entsprechend viele Menschen kommen, als die Berliner Heinrich-Böll-Stiftung eine Podiumsdiskussion zum Kopftuchstreit veranstaltet. Fereshta Ludin, die sich in den baden-württembergischen Schuldienst einklagen will, präsentiert sich hier als zurückhaltende junge Frau. Die Hände liegen auf dem Tisch. Die Schultern sind leicht hochgezogen. Das akkurat gelegte hellblaue Kopftuch bedeckt das Haupt und die Schultern. Demütig wirkt sie. Wäre sie keine Muslimin, könnte man an eine Mariendarstellung auf einem Votivbildchen katholischer Wallfahrer denken – wären da nicht diese angriffslustigen Augen.

Ludin: Ausdruck meines Glaubens
Ludin liest vom Blatt ab, als sie ihre Position begründet. Sie will von Anfang an jedes falsche Wort vermeiden. Neben ihr auf dem Podium sitzt Marieluise Beck, die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung. Die Grüne hat schon von Amts wegen viel Verständnis für die Eigenheiten von Migranten. Aufmerksam folgt Beck den Ausführungen Ludins: Mit 13 Jahren schon sei das Kopftuch Ausdruck ihres Glaubens gewesen. In der Pubertät habe die heute 31-Jährige dann die Quellen des Islam gelesen und sei vom Kopftuchgebot endgültig überzeugt gewesen. Den Streit über ihren Fall erklärt Ludin mit Unkenntnis des Islam in Deutschland. Sie fragt sich: „Wer instrumentalisiert das Kopftuch tatsächlich für seine Ziele? Wo bleibt mein Recht auf Selbstbestimmung als Frau?“

Angeblich kein Kontakt zu Fundamentalisten
Den Gegenargumenten weicht Ludin aus: Im Iran der Mullahs und im feudal-klerikalen Saudi-Arabien werden alle Frauen mit drakonischen trafandrohungen gezwungen, die Haare zu bedecken. Für islamistische Fundamentalisten ist das Kopftuch zum Symbol ihres gesellschaftlichen Sieges geworden. Fereshta Ludin sagt aber, mit Fundamentalisten habe sie aber nichts zu tun. Auch ihr derzeitiger Arbeitgeber, die Islamische Grundschule Berlin, habe keine derartigen Verbindungen. Das hätten ihr die Verantwortlichen gesagt. Wem solle sie sonst auch glauben, wenn nicht den Verantwortlichen, fragt sie unschuldig. „Beweise für die Finanzierung der Grundschule durch Fundamentalisten wären für mich ein Kündigungsgrund,“ sagt Ludin mit fester Stimme. Da schüttelt der größte Teil des bunten Publikums den Kopf.  Überzeugen kann Ludin damit nicht.

Gericht: Gelder von Mili Görüs
Denn das Landgericht Berlin sieht es als erwiesen an, dass hinter der islamischen
Grundschule Berlin die militante Organisation Mili Görüs steht. Doch diesen Vorwurf überhört Ludin. Sie zieht sich immer wieder auf ihre Person und ihre Religiösität zurück. Als Sanem Kleff vom Bundesvorstand der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Ludins zur Schau getragene Naivität im Hinblick auf ihren Arbeitgeber und dessen Finanziers kritisiert, antwortet sie: „Ich möchte mit Ihnen nicht in eine Diskussion kommen.“ Nur über das Kopftuch redet Ludin gern. Über all das, was mit dem Kopftuch verbunden wird, dagegen nicht.

Pochen auf das Neutralitätsgebot
Ludin kritisiert, dass es in Baden-Württemberg und den meisten deutschen Ländern zwar ein Neutralitätsgebot in religiösen Dingen gebe, tatsächlich aber ein christlich-abendländischer Erziehungsauftrag existiere. Sie bemängelt Kreuze in Klassenzimmern und Kreuze als Kettenanhänger um Lehrerhälse: „Christliche
Erkennungszeichen werden toleriert.“ Ihr Kopftuch dagegen solle verbannt und ideologisiert werden. Ludin pocht zwar aufs Neutralitätsgebot des Staates, leitet daraus aber nicht ab, dass sämtliche religiösen und weltanschaulichen Symbole aus Schulen zu verbannen wären. Sie fordert gleichzeitig Neutralität und ihr Recht auf das Kopftuch. Ein Widerspruch über den sich nach der Veranstaltung viele Zuhörer erregen.

Beck: Pluralität auch in den Schulen
Marieluise Beck versucht den Streit aus verschiedenen Perspektiven zu sehen.
Wenn Deutschland eine plurale Gesellschaft sein wolle, müsse diese Pluralität auch in den Schulen ihren Platz haben. Sie könne mit Kopftuch tragenden Lehrerinnen leben, wenn diese nicht missionierten. Sollten sie damit beginnen, müsse mit Hilfe des Disziplinarrechtes eingeschritten werden. Allerdings gibt Beck auch zu bedenken, dass oftmals muslimische Einwandererfamilien heftiger gegen die Präsenz des Kopftuchs in den Schulen protestieren als Deutsche. In Kreuzberg können Musliminnen mit Kopftuch nicht einmal mehr Lehramtspraktika machen. Im noblen Zehlendorf wird das gelassener gesehen. Musliminnen streiten über das Kopftuch Die GEW-Funktionärin Sanem Kleff ist zum Beispiel selbst als Einwanderungskind eine Muslimin. Im Koran, so Kleff, finde sie keine Stelle, die das Kopftuch vorschreibe. Niemand könne übersehen, dass für Islamisten in der ganzen Welt das Kopftuch ein Symbol für die Durchsetzung ihrer politischen Ziele sei. Obwohl die GEW Fereshta Ludin Rechtshilfe in ihrem Prozess gewährt, warnt deren Vertreterin Kleff: „Es geht nicht um Frau Ludins private Überzeugungen. Es geht um den politischen Sieg der Islamisten, wenn das Kopftuch den Weg durch die gesellschaftlichen Institutionen schafft.“ Da widerspricht Fereshta Ludin nicht.

SPD schlägt Verfassungskommission vor

Franz Müntefering will eine neue Kommission einsetzen. Allerdings soll sich die Verfassungskommission zur „Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung“ nicht aus Experten der Universitäten, der Wirtschaft und anderer Institutionen zusammensetzen. Bundeskanzler Gerhard Schröder bevorzugte in den vergangenen Jahren vor allem Experten-Gremien wie die Hartz- und die Rürup-Kommission. Der SPD-Fraktionsvorsitzende hingegen will eine Kommission aus Mitgliedern des Bundestages und des Bundesrates.

Video: Interview mit Franz Müntefering (SPD)

Brief an die Fraktionsvorsitzenden
In einem Brief an die Fraktionsvorsitzenden des Bundestages und den Chef der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Michael Glos, schreibt Müntefering: „Zuständigkeiten und Finanzverantwortlichkeiten der einzelnen Ebenen sind nicht immer transparent oder sinnvoll zugeordnet.“ Deshalb schlägt er eine Kommission aus 16 Mitgliedern des Bundestages und 16 Mitgliedern des Bundesrates vor, je einem pro Bundesland. Einen ähnlichen Vorschlag gibt es vom rechtspolitischen Sprecher der Unionsfraktion, Norbert Röttgen. Er hatte bereits konkrete Änderungsvorschläge zur Reform des Föderalismus präsentiert. Auch ihm erscheint eine Kommission in dieser Zusammensetzung sehr sinnvoll. Allerdings hat Müntefering Röttgens Vorschläge noch nicht gelesen. Das sagte er im T-Online-Interview.

Bund oder Länder stärken?
Alle Parteien sind sich einig, dass die Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern neu organisiert werden muss. Jede Bundesregierung ärgert die Blockademacht der Bundesländer im Bundesrat. Das musste die Union unter Kanzler Helmut Kohl bitter erfahren, als die damaligen Ministerpräsidenten Oskar Lafontaine, Gerhard Schröder, Hans Eichel und Johannes Rau die Mehrheit der SPD-regierten Länder nutzten, um eine Reihe von Gesetzen scheitern zu lassen. Seit der Landtagswahl von Sachsen-Anhalt im Frühjahr 2002 erlebt nun der ehemalige Blockierer Schröder, wie unangenehm es ist, gegen eine andersfarbige Mehrheit im Bundesrat regieren zu müssen. Ob Zuwanderung oder Subventionsabbau – ohne die unionsregierten Länder Edmund Stoibers, Roland Kochs und Christian Wulffs geht kaum noch etwas in der Bundesrepublik.

Blockademacht der Länder brechen
Röttgen schlägt in seinem Reformentwurf eine Stärkung der Länder vor. Sie sollen mehr Zuständigkeiten erhalten. Im Gegenzug soll die Blockadefähigkeit reduziert werden, damit der Bund seine Vorhaben auch unverwässert durchsetzen kann. Derzeit ist bei zwei Dritteln der Gesetze eine Zustimmung des Bundesrates erforderlich. Selbst wenn sich einige Länder enthalten, ändert das nichts an den Mehrheitsverhältnissen. Es muss immer die Mehrheit der Länderstimmen gewonnen werden. Müntefering plädiert im Interview für eine Vereinfachung dieses Abstimmungsmodus.

Mehr Bildung zum Bund
In einem ersten Vorschlag von Bundesjustizministerin Brigitte Zypries war dagegen eine Stärkung des Bundes vorgesehen. So sollte dieser bei de ureigenen
Länderthema Bildung und Kultur größere Zuständigkeiten erhalten. Etwa beim Thema nationale Bildungsstandards, mit denen Bildungsministerin Edelgard Bulmahn auf die schlechten Ergebnisse der Pisa-Studie reagierte. Müntefering will dagegen auch in diesem Bereich die Länder stärken.

Kein Wettbewerbsföderalismus
In der Steuerpolitik spricht sich Müntefering gegenüber T-Online gegen „Wettbewerbsföderalismus“ aus. Zwar sollten Kommunen und Länder innerhalb bestimmter Grenzen bei der Erhebung von Steuern Spielräume haben. Aber „die Bundesländer sollten sich nicht wie verfeindete Regionen behandeln,“ sagte Müntefering zu T-Online. Bei Themen wie der Gesundheitspolitik spricht sich Müntefering gegen die Beteiligung der Länder aus. „Dass wir da die Zustimmung der Länder benötigen, will mir nicht recht einleuchten“, sagte der SPD-Fraktionschef.

Auftakt im Herbst
Müntefering schlägt nun vor, dass bereits vor Ende der Sommerpause im August ein Gespräch der Fraktionsvorsitzenden stattfindet, in dem das weitere Vorgehen
bis zur Einsetzung der Kommission geklärt werden soll. Parallel dazu solle der Bundestagspräsident mit dem Bundesrat Kontakt aufnehmen. Wenn es nach
Müntefering geht, soll die Kommission schon im Herbst im Anschluss an eine Bundestagsdebatte die Arbeit aufnehmen. Mit einem Abschluss der Diskussion
rechnet er in ein bis zwei Jahren.