Sabine Friedrich bringt uns die Rote Kapelle sehr nah

„Wer wir sind“ heißt der große Roman über den deutschen Widerstand gegen das Dritte Reich von Sabine Friedrich. Auf mehr als 2000 Seiten hatte sie akribisch und fesselnd die Geschichte über die Deutschen literarisiert, auf die wir heute stolz sind. Das Thema hat Friedrich nicht losgelassen. Jetzt ist der erste Band einer angekündigten Trilogie über den Widerstand erschienen. „Einige aber doch“ ist ein großartiger Roman über die Rote Kapelle, dem man eine weite Verbreitung wünscht. Denn Vergleichbares gibt es derzeit auf dem deutschsprachigen Buchmarkt nicht.

Elfershausen macht gegen die Nord-Süd-Stromtrasse mobil

Elfershausen macht gegen die Nord-Süd-Stromtrasse mobil

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Elfershausen macht gegen die Nord-Süd-Stromtrasse mobil

Die Transparente sind in Elfershausen nicht zu übersehen. Überall im Ort gibt es Hinweise auf die große Nord-Süd-Stromtrasse, die entlang der A 7 das Saaletal nach dem Willen der Bundesregierung queren soll. Der Unmut über die Verschandelung der Landschaft ist groß. Und damit auch der Unmut über die Energiewende.

Wer durch das Dorf geht, sieht auf vielen Haus- und Scheunendächern Photovoltaikanlagen. Erneuerbare Energien sind den Elfernshäuserern also nicht fremd. Hier erzeugen sie regenerativen Strom, nutzen die Chancen, die vor allem unter rot-grün für Häuslebauer und Landwirte geschaffen wurden. Grüner Strom für gutes Geld. Sie sind Teil einer Bewegung, die Deutschland zu dem Land gemacht, in dem der Umstieg von Atom- und Kohlestrom auf Sonne, Wind, Wasser und Biogas den großen Energieversorgern das Leben schwer macht.

Keine 30 Kilometer südlich von Elfershausen ist das Atomkraftwerk Grafenreinfeld. Es soll im Mai 2015 stillgelegt werden. Schweinfurts Industrie benötigt auch dann noch sehr viel Strom. Mengen, die von den tatsächlich sehr vielen Solaranlagen auf den Dächern der Region nicht gedeckt werden können. Und weil Grafenreinfeld kein Einzelfall in Bayern ist, könnte es dort in den kommenden Jahren zu Stromengpässen kommen. Deshalb will der Bund den Windstrom von der Küste, aus Schleswig-Holstein, Brandenburg oder Niedersachsen und von den projektierten Offshore-Windparks mit der großen Nord-Süd-Stromtrasse mach Bayern bringen.

Eine Idee, die angesichts des aktuellen Situation gar nicht so falsch ist. Aber nur, wenn man vergisst, wie in den vergangenen 15 Jahren die Diskussion über die Energiewende lief. Da waren es vor allem CSU, CDU und FDP, die verzögerten, wo es nur ging. Jetzt sind es genau die Vertreter dieser Parteien, die den Widerstand gegen die Stromtrassen anführen. Und die Aktivisten der Energiewende, die stets für eine dezentrale Energieversorgung stritten, stehen auf einmal als die Verteidiger der Stromtrassen da. Denn die Blockade des frühen Umbaus des Energiesystems von zentral auf lokale und dezentrale Versorger führte dazu, dass es jetzt zu wenig Stromversorgung – gerade in Bayern und Baden-Württemberg – vor Ort gibt, um das Wegfallen eines Atomkraftwerkes zu kompensieren.

Wer die Energiewende heute also noch immer will, obwohl in der Vergangenheit die Weichen wegen der Blockierer falsch gestellt wurden, muss für die Stromtrassen sein. Und damit für eine weitere Verschandelung des Saaletals. Das ist absurd. Vor allem, wenn man bedenkt, dass die Trassen auch mit billigem Braunkohlestrom verstopft werden. Aber anders wird es nicht gehen. Ärgerlich ist nur, dass sich heute die gleichen Parteien und Politiker gegen die Stromtrasse stellen, die sich in der Vergangenheit gegen den schnellen Umbau des Stromsystems stellten. Und diejenigen, die solche Stromtrassen eigentlich nie wollten, weil sie keine zentralen Versorgunsgeinheiten mehr wollten, sind heute dafür.

Das ist schon seltsam. Und für die Elfershäusener, die keine Stromtrasse im Saaletal wollen, ist das auch kein Trost. Egal, ob sie eine Solaranlage auf dem Dach haben oder nicht.

 

Matthias Platzeck: „Ich wollte aus meiner DDR etwas machen“

Matthias Platzeck hat gestern seinen Rücktritt als Ministerpräsident erklärt. Im Mai 2009 konnte ich ein längeres Interview mit ihm führen. Der Anlass: ein Rückblick auf die Ereignisse 20 Jahre zuvor, als die Bürgerbewegung in Potsdam und in vielen anderen Städten und Orten in der DDR widerständig wurde.

Die friedliche Revolution des Jahres 1989 hat Deutschland, die Öffnung des Eisernen Vorhangs die Welt verändert. Im Interview erinnert sich der brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) an die bewegten Zeiten vor 20 Jahren – und erklärt, warum mancher Traum von damals nur ein Traum geblieben ist.

Herr Platzeck, wie war heute vor 20 Jahren Ihre persönliche Perspektive?

Das war eine sehr bewegte Zeit. Die Phase bis zum 4. Juni war mit viel Hoffnung verbunden, weil sich überall was tat. Ich war Anfang Mai in Ungarn. Dorthin bin ich immer wieder zu Freunden geflüchtet, wenn es mir in Potsdam zu dicke wurde. Als ich dort war, verkündete Ungarns Regierung, dass der Schießbefehl an der Grenze abgeschafft wird. Das war so ein Punkt Hoffnung, auch wenn das Land unsere Leute bei der Entdeckung des Fluchtversuches noch an die DDR auslieferte. Auch der 1. Mai war für mich im positiven Sinne ein innerer Vorbeimarsch. Mein ungarischer Freund wollte mit mir zur Demonstration.

Zur jährlichen Mai-Demonstration?

Ich sagte: Ich bin doch extra hier, um da nicht hinzumüssen. Doch er bestand darauf. Wir sind zuerst zu den Kommunisten und haben uns den üblichen Aufmarsch angeschaut. Dann sind wir zu den Grünen, die eine völlig freie Kundgebung machten. Das war für einen DDR-Bürger wie mich nicht vorstellbar. Und dann sind wir auch noch zu den Sozialdemokraten, haben Peter Glotz getroffen, der in Budapest als SPD-Generalsekretär auftrat. Das muss man sich mal vorstellen. In Ungarn `89! Die Polizei stand dazwischen. Aber nicht wie bei uns, um irgendetwas zu unterbinden. Die Polizei regelte nur den Verkehr und sicherte die Umzüge.

Das ist heute schwer vorstellbar, wie außergewöhnlich das für Sie gewesen sein muss.

Wir sind völlig beschwingt zurück nach Potsdam.

Beschwingt? Oder nicht doch voller Angst, weil es in der DDR noch kein Zeichen für eine solche Öffnung gab?

Nein, beschwingt. Es tat sich doch noch mehr. In Polen tagte der Runde Tisch. Ich erinnere mich noch an die kleine Meldung in der Märkischen Volksstimme, in der ganz verschämt am Ende stand, dass nicht nur die PVAP, sondern auch Vertreter von Solidarnosc am Tisch sitzen. Wir von Argus hatten im April nach Potsdam uns bekannte Umweltgruppen aus der DDR eingeladen. Aus 23 Städten kamen Gleichgesinnte, die wir privat unterbrachten und verpflegten. Wir gründeten das erste Mal nichtkirchliche landesweite Verbünde jenseits des legalen Apparats. Ich baute mir dann ein Informationsnetzwerk auf. Das war für uns ein Quantensprung. Das erste Mal haben wir gesehen, dass wir nicht nur in Potsdam Probleme hatten und dagegen versuchten vorzugehen. Was Mut machte, war zu sehen, dass es in anderen Städten Gleichgesinnte mit ähnlichen Zielen gab.

Wie groß war die Angst, dass der Staat, dass die Partei oder die Stasi diese Entwicklung unterdrückt?

Wir hatten keine Angst. Erst später habe ich in den Akten gelesen, dass schon diese Veranstaltung beobachtet wurde. Da stand die Formel: „Feindlich negative Kräfte haben sich am Heiligen See getroffen.“ So haben wir uns selbst gar nicht gesehen. Wir wollten ja nichts zerstören. Wir wollten diese DDR ein Stück offener gestalten, ein Stück besser machen. Wir wollten in dieser DDR zu Hause sein. An Westdeutschland hat von uns damals kaum jemand gedacht. Die meisten von uns gehörten zu den Hier-Bleibern. Es gab zwar auch unter uns spätere Botschaftsbesetzer und Ausreisewillige, aber wie gesagt die meisten wollten nicht weg.

Die Frage nach der Ausreise hat sich Ihnen nie gestellt? Sie waren in Budapest und hätten es doch wagen können.

Einmal hat sie sich mir gestellt. Ich war auch am 10. September in Ungarn. Da schauten wir um 20 Uhr Nachrichten, und mein Freund begann zu übersetzen, was Gyula Horn, der ungarische Außenminister, sagte. Wir glaubten zuerst an einen Übersetzungsfehler, aber er verkündete wirklich, dass ab sofort jeder DDR-Bürger mit seinem Personalausweis von Ungarn nach Österreich reisen kann. Einfach so. Mein Freund sagte zu mir, komm doch morgen mit nach Wien. Doch ich wollte zurück. Tausende nutzten noch in der Nacht die offene Grenze. Auf meinem eigentlich ausgebuchten Rückflug blieben fast alle Plätze leer.

Sie hatten nie den Drang, auf die andere Seite der Mauer zu schauen? Immerhin lag Potsdam ja direkt an der Westberliner Grenze.

Na klar wollte ich die Welt sehen, aber nie rüberziehen. Für mich war Westdeutschland nicht das Ziel meiner Wünsche. Es war mir fremd. Mein Land war die DDR. Ich bin hier groß geworden, war nie irgendwo im Westen. Ich wollte zusammen mit anderen aus diesem, meinem Land DDR etwas machen.

Was hat Sie an der DDR am meisten gestört?

Vieles. Aber ich hole mal etwas aus. Ich stamme aus einem christlichen Elternhaus. Mein Großvater war Pfarrer, mein Vater Arzt am katholischen Krankenhaus. Er war sehr sozialdemokratisch und gegen die DDR eingestellt. Bei mir hat sich daraus – wie das ja oft so ist – ein Gegenimpuls entwickelt. Ich war zu Hause der Rote, ein überzeugter Sozialist.

Und wann wurde aus dem Roten ein Dissident? Wann begruben Sie Ihre Staatstreue?

In den 70er-Jahren hat die sich in einem schleichenden Prozess aufgelöst. Die Biermann-Ausbürgerung spielte dabei eine große Rolle. Der Endpunkt war für mich erreicht, als das sogenannte Bruderland in Afghanistan einmarschierte. In den 80er-Jahren diskutierten wir in der Küche bei schlechtem Rotwein mit Freunden immer wieder Fragen wie: Welche Zukunft haben wir und unsere Kinder? Dabei differenzierten sich Hier-Bleiber und Antragssteller aus. Die einen wollten oder konnten nicht mehr, hatten mit der DDR Schluss gemacht. Wir anderen sagten uns immer: Was werden uns unsere Kinder später einmal fragen? Und was antworten wir auf die Frage: Was habt Ihr damals eigentlich gemacht? Wir selbst hatten unseren Eltern diese Frage im Bezug auf die 30er- und 40er-Jahre ja auch gestellt.

Das klingt sehr theoretisch. Störte sie nicht das praktische Leben in der DDR?

Weniger. Ich habe ein fröhliches Wesen und lasse mich von welchen Umständen auch immer nicht so beeindrucken. Aber anderes hat mich gestört: Ich arbeitete im Umweltschutz und habe gesehen, was los war. Luft, Wasser und Boden waren dramatisch belastet. Wir hatten uns in der DDR schon daran gewöhnt, dass auf Flüssen Schaumkronen schwammen. Viele dachten schon, das gehört dazu. Hinzu kamen viele Kollegen aus den Betrieben, die sagten: Das geht nur noch ein paar Jahre gut. Einen weiteren wichtigen Impuls lieferte der schleichende Verfall unserer Altbausubstanz. Wir Potsdamer erlebten, dass die Innenstadt leer gezogen wurde. Wir wussten damals zwar noch nicht warum, aber später haben wir erfahren, dass sie die komplette, barocke Innenstadt abreißen und mit Plattenbauten ersetzen wollten. Im Sommer 1989 haben sie damit begonnen.

Das war in Cottbus ähnlich, mit dem Wendischen Viertel hatte die Partei schon begonnen.

Ja, das war überall so. Für uns in Potsdam war das 1986/87 auch ein Punkt, weshalb wir uns organisierten. Wir wussten zwar nicht wie, aber Ende 1987 gründeten wir dann eine erste Bürgerinitiative, die sich um den Erhalt des Pfingstberges kümmerte. Wir waren 20 bis 25 Gleichgesinnte.

Angesichts der Probleme, die ja nicht nur Sie wahrnahmen, waren das aber sehr wenige.

So war’s halt. Wir waren Ende 20, Anfang 30, also in dem Alter, indem man anfängt, gründlicher über das Leben nachzudenken. Die Kinder waren aus dem Gröbsten raus, jetzt stellte sich die Frage: „Was mache ich mit meinem Leben?“ Wir waren außerdem nicht in die Parteistrukturen eingebunden, waren also für DDR-Verhältnisse relativ freie junge Leute. Im Frühjahr 1988 hat ein Teil dieser Initiative gesagt, dass er es politischer will. Daraus entstand dann im April ’88 die Arbeitsgemeinschaft Umweltschutz und Stadtgestaltung, kurz Argus, die sich nicht mehr nur um ein Projekt kümmerte. Für die Staatssicherheit war dies das Signal, uns zu beobachten.

Dennoch waren Sie im Mai 1989 nur positiv gestimmt?

Ja. Durch unsere schon erwähnte Tagung der DDR-Umweltinitiativen am Heiligen See im April hatte ich viel Mut gewonnen. Wir merkten, dass die Leute überall ähnlich tickten. Außerdem waren wir in der Vorbereitung des Pfingstbergfestes, des ersten großen alternativen Kulturfestes, zu dem dann am 10. Juni mehr als 3000 Leute kamen – aus der ganzen DDR. Allein 20 Theater- und Musikgruppen reisten an und spielten kostenlos, als sie hörten, um was es geht. Auf dem Pfingstberg war eine Stimmung, wie ich sie in der DDR bis dahin noch nicht erlebt hatte.

Das hat die Stasi zugelassen?

Die Staatssicherheit saß nachts noch zusammen und schrieb in einem Bericht: „Leider war es für die Organisatoren ein Erfolg.“ Obwohl sie das Fest hintertrieben hatte. Wir durften davor keine Plakate kleben. Aber wir haben viele Ladenbesitzer gefunden, die die Plakate ins Schaufenster hingen. So war die Stimmung schon. Für die Leute wurde das Fest dadurch noch interessanter. Jedem war klar, dass es keine staatliche Veranstaltung sein würde. Die Auflagen der Stadt, Versorgungssicherheit zu gewährleisten, garantierten wir über den sowjetischen Stadtkommandanten. Dem sagten wir, dass wir keine Küche und so weiter haben. Er antwortete: „Ich helfe Euch.“

Der sowjetische Stadtkommandant hintertrieb die Auflagen der SED?

Er war ein Gorbatschow-Mann, den wir schon kannten. Er wusste, um was es ging und hat uns dann eine Gulaschkanone mit Soldaten gestellt. Das wiederum hat die SED-Leute in der Bezirks- und der Stadtverwaltung völlig nervös gemacht. Denn noch immer war es sakrosankt, den sowjetischen Stadtkommandanten zu kritisieren.

Aber die SED verweigerte diese vorgelebte Kooperation dennoch?

Ja. Die Staatssicherheit zog sogar die Zügel noch einmal an.

Doch die Initiative war gestärkt?

Ja, obwohl es im Sommer nochmal eine Phase der Unsicherheit gab. Das hing auch mit den Ereignissen in Peking von Juni zusammen. Einige Freunde nutzten in der Zeit auch Chancen zur Ausreise. Ab September ging es dann aber Schlag auf Schlag. Ich war wieder, wie gesagt, in Ungarn. Am 11. oder 12. kehrte ich zurück. Am 13. hat sich das Neue Forum gegründet, am 16./17. September haben wir für dessen Zulassung Unterschriften gesammelt und schon am 4. Oktober die erste Protestveranstaltung auf dem Weberplatz in Babelsberg gemacht. Das war noch vor dem 40. Jahrestag der DDR und noch vor den Großdemonstrationen in Leipzig und Berlin. Wir hatten mit 300 Teilnehmern in einer Kirche gerechnet. Aber der Weberplatz war voller Menschen. Die Bereitschaftspolizei, die sich im nahen Karl-Liebknecht-Stadion vorbereitete, wurde richtig heiß gemacht. Aber auch sie rechnete maximal mit 400 bis 600 Leuten. Als es dann einige Tausend waren, traute sie sich nicht mehr herüber. Abends saßen wir dann im Pfarrhaus und haben Spendengeld gezählt.

Für was haben Sie gesammelt?

Wir sammelten für Inhaftierte. In den Spendenbüchsen waren fast nur Scheine. Schon daran sieht man, wie die Leute drauf waren. Der Pfarrer meinte scherzhaft, das sei in etwa die Kollekte der letzten zehn Jahre, die da an diesem Abend zusammengekommen war.

Die Spender wussten, dass für politische Gefangene in der DDR gesammelt wird?

Ja, das haben wir allen klipp und klar gesagt. Es war ja eine Veranstaltung, auf der sich das Neue Forum öffentlich vorstellte. Von diesem Tag an ahnten wir, das Rad lässt sich nicht mehr zurückdrehen. Ich werde nie vergessen, wie ich mich mit dem Inhaber einer privaten Autowerkstatt unterhielt. Dem ging es eigentlich gut. Ich fragte ihn, was er hier mache. Wenn er gesehen würde, bekäme er vielleicht Ärger. Er setze seine Existenz aufs Spiel. Aber er sagte, das sei ihm egal. Er wolle jetzt nicht mehr zurückschauen, sondern nur noch nach vorn. Überall war der Wille zur Veränderung zu spüren.

Ihnen ging es aber nach wie vor um eine reformierte DDR.

Am 7. Oktober hatten wir wieder Vertreter der Umweltgruppen aus den 23 Städten zu Gast, die schon im April da waren. Nachts verabschiedeten wir eine Willenserklärung, in der wir schrieben, dass wir in einer solchen Atmosphäre nicht mehr leben wollten. Dabei ging es uns nicht um die Einheit Deutschlands. Es ging tatsächlich um eine bessere DDR. Bis auf eine Stadt haben alle die Erklärung unterschrieben. Dann kam die Demo am 9. Oktober in Leipzig. Und da war uns klar: Wir sind durch! Wir konnten uns nicht mehr vorstellen, dass sich das Blatt noch einmal wenden könnte. Wir wussten zwar nicht, wie es werden würde. Aber dass es anders als zuvor sein wird, war nach der großen Demonstration in Leipzig klar.

Wie konnten Sie sich die ganze Zeit motivieren? Immerhin sind aus Ihrer Generation auch sehr viele gegangen. Die meisten Flüchtlinge waren zwischen 20 und 35, also aus der Generation, die zum Aufbau eines anderen Staates dringend benötigt wird.

Zum einen sind ja auch viele geblieben. Und zum anderen war das für mich keine Frage. Der Osten war spannend. Er war aufregend.

Wenn man für politische Gefangene sammelt, muss man doch selbst damit rechnen, von der Stasi verhaftet zu werden.

Später haben wir erfahren, dass schon unsere Bettnummern für das Internierungslager verteilt waren. Die DDR war ein ordentliches Land. Da war alles schon sortiert.

Wie gingen Sie als Familienvater von drei Kindern mit der Angst davor um?

Einmal ist mir richtig mulmig geworden. Das war auch im Mai, als wir Eingaben gegen die Ergebnisse der Kommunalwahlen machten. Da kamen eines Tages zwei Offiziere der Staatssicherheit. Der eine davon hatte riesige Pranken. Auf die musste man immer schauen, wenn er sie auf den Tisch legte. Die machten Sprüche wie: „Jetzt ist unsere Geduld mit Ihnen endgültig vorbei.“ Sie verlangten, dass ich in einer Kirche öffentlich Abbitte leisten sollte. Sie meinten, dass einige Leute auf mich hörten. Und deshalb sollten ich und einige andere erklären, dass die Wahl in Ordnung gewesen sei. Zusätzlich bauten sie Druck über die Kinder auf. Meine geschiedene Frau war stark in der kirchlichen Opposition engagiert und deshalb auch im staatlichen Sinne „nicht zuverlässig“. Aus diesem Grund sei es doch besser, die Kinder kämen in ein Heim. Da würden die drei Mädchen dann wenigstens gut erzogen, drohten die Stasileute. Dass ich keine Abbitte leisten würde, stand für mich fest, aber ins Grübeln bin ich schon gekommen. Abends traf ich mich dann mit Freunden. Dabei einigten wir uns darauf, ringsrum zu erzählen, dass die Stasi da war und was sie wollte.

Sie haben also den heimlichen Druck öffentlich gemacht.

Und das hat gewirkt. Welchen Sinn hätte es noch gehabt, wenn ich mich auf die Kanzel gestellt hätte? Alle hätten ja gewusst: Die arme Sau macht das nur, weil sie ihm sonst die Kinder wegnehmen. Diese Art der Dekonspiration half immer am besten. Das ist bei allen Geheimdiensten so. Sobald etwas öffentlich ist, sind ihnen die Hände gebunden.

Für Kinder und Jugendliche, die die DDR nicht erlebten, ist so etwas kaum mehr vorstellbar. Wie haben Sie sich eine andere DDR vorgestellt?

Da ging es vor allem um Freiheit und Selbstbestimmung. In unseren Debatten spielten auch unabhängige Gerichte eine große Rolle. Es gab ja in der DDR keine Möglichkeit, eine Verwaltungsentscheidung anzufechten. Obwohl auf der ganzen Welt Menschen mit Verwaltungsentscheidungen unzufrieden sind. In der DDR konnte man sich nur mit einer Eingabe an Erich Honecker wenden. Ob man damit Erfolg hatte, hing vom Gutdünken ab. Aber es gab keinen Rechtsweg. Eine zweite Frage war die Möglichkeit in alle Welt zu reisen. Das Gefühl, es zu können, war wichtig. Ich selbst habe nach dem Fall der Mauer Wochen gebraucht, um das erste Mal etwas im Westen richtig anzuschauen. Die Zeit war viel zu spannend. Aber das Gefühl, nicht eingesperrt zu sein, sondern jederzeit losfahren zu können, war ganz wichtig. Und dann natürlich andere Zeitungen. Ich war schon damals ein Zeitungsmensch, habe selbst in der DDR mehrere Zeitungen gelesen, obwohl da nicht viel Unterschiedliches drinstand. Lesen bestand nur aus Zwischen-den-Zeilen-lesen. Das alles zusammen vermittelte ein bedrückendes Gefühl: Wir verleben die Substanz, und es wird immer enger – auch geistig.

Diese Bilanz ist tatsächlich sehr deprimierend.

Ja. Als Summe blieb, dass wir für diese DDR keine Perspektive mehr sahen. Soll es noch grauer, noch enger werden? Angst vor Hunger hatten wir keine. Aber es war außerhalb von Familie und Freunden nichts Lebendiges, nichts Kreatives mehr zu spüren. Ich glaube auch nicht, dass der Kapitalismus der Weisheit letzter Schluss ist, aber ich will eine Gesellschaft, die nach vorne offen ist. Ich will, dass ich mich einbringen kann. Und wenn ich das tue, will ich eine Chance, es zu ändern. Genau das war nicht mehr möglich. Christa Wolf hat 1982 geschrieben: „Über alles und alle legt sich Mehltau, Resignation breitet sich aus.“ Genau das war das Gefühl. Ich erwarte nicht, in einem Land zu leben, das ideal ist – das gibt es nicht. Aber ich will in einem offenen Land leben, in dem man die Chance hat, etwas zu machen.

Hat Sie die SED noch interessiert? War sie noch ein potenzieller Partner, oder hatten Sie die SED schon völlig abgeschrieben?

Als Partner haben wir sie 1989 nicht mehr gesehen. Manches war richtig skurril: Da hat das neue Politbüro im November getagt und gesagt, es wolle nun in die Offensive kommen. Solche Sprüche waren so weit weg vom Volk. Das hat keinen mehr interessiert. Aber die Partei machte noch immer ihre mechanischen oder mechanistischen Dinge. Für uns spielte die SED keine Rolle mehr.

Ein ganz zentraler Auslöser für die friedliche Revolution, waren die Kommunalwahlen. Erstmals gingen Bürger hin und zweifelten die SED massiv an. Hatten Sie Bedenken wegen des Protestes gegen die Kommunalwahlen?

Wir waren im Sonderwahllokal vorher wählen, wegen der anstehenden Ungarnreise. Es war im Mai in bestimmten Kreisen schon zum Volkssport geworden, in die Kabine zu gehen – also nicht öffentlich zu falten. Wer in die Kabine ging, wurde aufgeschrieben. Wir haben die Aufschreiber dann fröhlich gegrüßt – sie waren deutlich verunsichert. Die Wahlbeobachter mussten nur zählen, wie viele Wähler in die Kabine gegangen sind, und schon wussten sie, wie viele gegen den Einheitsvorschlag stimmten oder sich enthielten. Und es waren mehr denn je. In dieser Situation ein Wahlergebnis von 99 Prozent zu verkünden, war schon skurril.

Sie sprechen auch jetzt noch mit spürbarem Enthusiasmus von der Zeit. Warum und wann hat die DDR-Opposition, zu der Sie ja gehörten, die Deutungshoheit über die Ereignisse aufgegeben?

Im Dezember 1989. Ich habe gerade ein Buch geschrieben über die Zeit und genau auch darüber nachgedacht Ich glaube, wir – damit meine ich die Bürgerbewegung im weitesten Sinne – haben uns mit Fragen beschäftigt, die große Teile des Volkes nicht mehr interessierten. Themen wie eine neue Verfassung, die Sicherung von Freiheitsrechten, die Sicherung von Umweltrechten, alles richtig, aber die Debatten drehten sich längst um Wiedervereinigung und Währungsunion. Im März 1990 machten wir noch Wahlkampf unter dem Slogan: „Kein Anschluss unter dieser Nummer – Artikel 23“. Die Einführung der D-Mark sollte bei uns nach einer langen Phase der Selbstständigkeit kommen. Das war blauäugig. Schon im Dezember gab es bei den Demonstrationen in Leipzig Streit. Wenn ein Redner zur Vernunft aufforderte und sagte, geht doch nicht gleich in den Westen, dann wurden Pfeifkonzerte veranstaltet. Kurz darauf waren dann überall die Deutschlandfahnen. Und damit war der langsame Übergang gegessen.

Was die Wahlen im März 1990 ja auch zeigten.

Wir standen im Palast der Republik und waren sauer, als die Ergebnisse über die Bildschirme flimmerten: mehr als 40 Prozent für die Allianz für Deutschland und nicht mal fünf Prozent für alle Bürgerbewegungen einschließlich Grüner Partei. Da ist uns mit einem Mal klar geworden, wo der Hammer hängt. Selbst die klugen, besonnenen Sätze des allseits geachteten Wolfgang Ullmann waren nicht mehr angekommen. Insofern war der Prozess politisch wohl nicht aufzuhalten. Hätte es schon im November Volkskammerwahlen gegeben, dann hätte das Neue Forum wahrscheinlich 60 Prozent bekommen. So schnell geht das. Im März waren es noch fünf. Also, ich bleibe dabei: Im Dezember haben wir die Deutungshoheit verloren.

Wie nennen Sie den damaligen Prozess heute? Wende oder friedliche Revolution? Oder wäre eine andere Bezeichnung treffender?

Das, was im Oktober stattfand, war eine friedliche Revolution. Immerhin ist die DDR komplett beendet worden. Eine Militärmacht mit Polizei und Staatssicherheit mit mehreren Hunderttausend Mann unter modernsten Waffen ist friedlich abgelöst und entwaffnet worden. Die Geheimdienstzentralen wurden besetzt. Freie Wahlen abgehalten. Verwaltungen wurden neu aufgebaut. Das sind die Ergebnisse einer Revolution. In unserem Falle glücklicherweise sogar friedlich. Deshalb bezeichne ich das als friedliche Revolution.

Aber der Begriff Wende hat sich durchgesetzt.

Das hat Egon Krenz gut hinbekommen. Der prägte ihn nach einer ZK-Sitzung, als er ankündigte, eine Wende eingeleitet zu haben. Sei’s drum. Mit Revolution verbinden die meisten wohl noch immer Barrikaden auf den Straßen, und genau das hat ja glücklicherweise nicht stattgefunden.

Aber Hunderttausende standen den bewaffneten Organen der DDR bei Demonstrationen doch gegenüber. Die haben doch erlebt, dass sie als friedliche Macht die Kraft hatten, den Staat aus den Angeln zu heben.

Aber das wird nicht mit dem Begriff „Revolution“ verbunden.

Und das Gefühl? Warum ist der Stolz darüber nicht geblieben? Mit Begriffen wie friedlicher Revolution kann man bei Schülern, die das nicht erlebt haben, bestimmt leichter Interesse wecken als. . .

. . . als mit dieser Wende. Tja, warum ist das Gefühl nicht geblieben? Westdeutsche Kollegen fragen mich oft, warum wir Ostdeutsche nicht in gleichem Maße demokratieaffin seien. Da muss man sagen: Wenn man, wie der Westen, über Jahrzehnte hinweg Aufschwung erlebt hat, dann verliebt man sich in diese Gesellschaftsordnung, die das ermöglichte. Zweitens darf man die Rolle der Alliierten nicht verkennen. Demokratie wurde ja verordnet und erlernt.

Aber auch erkämpft.

Zweifelsohne. Doch lange Jahre war die Bundesrepublik eine Wohlstandsgesellschaft, die mit sich im Reinen war. Dazu kam dann ein neuer Teil mit Menschen, die auch diese Ziele hatten, die dafür sogar Gefährdungen eingegangen sind. Aber diese Menschen im Osten mussten Demokratie anders lernen. Viele wurden mit Arbeitslosigkeit konfrontiert. In jeder Familie gab es die. Das ist eine ganz andere Demokratieerfahrung. Völlig unterbewertet ist die Tatsache, dass für viele Menschen nichts mehr war wie zuvor. Die Qualifikationen galten nichts mehr. Das ganze Sozialverhalten musste neu gelernt werden. Alle Rechtsnormen waren neu. Die Lebensleistung zählte nichts mehr. Das, wofür man gearbeitet hatte, wurde oft sogar abgerissen. Das mag man ökonomisch logisch finden und sachlich begründen können, doch für denjenigen, den es erwischte, ist es ein Verlust. Insofern ist der Verweis auf die Milliarden aus dem Westen zwar richtig und dankenswert, aber für die persönlich Betroffenen nicht unbedingt ein Grund zur Dankbarkeit.

Dennoch ist es erstaunlich, dass die PDS als Erbe der SED so viele Wähler hat.

Wenn wir dieses Wählerverhalten analysieren, dann stoßen wir genau auf die genannten Ursachen. Man muss konstatieren, dass da etwas über den Osten gekommen ist, was meistens gut gemeint war, aber nicht immer fruchtete. In Gesprächen werde ich oft genau damit konfrontiert. Vor allem, wenn es darum geht, dass Polikliniken oder Gemeindeschwestern wieder eingeführt werden oder das zwölfjährige Abitur, Ganztagesschulen und Kitas. Dann heißt es: „Damals habt Ihr das alles weggefegt. Jetzt kommt Ihr 15 Jahre später wieder an und entdeckt das wieder, tut sogar so, als wäre es eine neue Idee. Aber das hatten wir in der DDR alles schon.“ Daran spürt man Gefühlslagen. Dieses: „Hättet Ihr uns damals nur ernster genommen.“

Dennoch geht es sehr vielen viel besser, etwa jedem einzelnen Rentner. Die leben in einem Wohlstand, den sie als DDR-Rentner nicht gehabt hätten. Von der Freiheit gar nicht zu reden. Wo kommt diese Unzufriedenheit her?

Viele leben in dem Gefühl, auch noch dankbar sein zu müssen. Das hört man bei Rentnern sehr oft. Wenn Westrentner sagen: Jetzt bekommen die von unserem eingezahlten Geld ihre Rente, dann stimmt das ja nicht. Wir wissen doch, dass wir ein Umlageverfahren haben. Da ist nichts früher eingezahlt worden, was heute verfressen wird. Aber selbst wenn man das weiß, dennoch aber das Gefühl vermittelt wird, dass es nicht deine Leistung ist, auf der dein Wohlstand beruht, dann ist das unbefriedigend. Die Entwertung von Lebensleistung macht unglücklich. Man kann nicht einfach 20, 30, 40 Jahre gelebtes Leben in den Abfall treten. Das wissen wir heute alles besser. Anfang der 90er-Jahre wurde das völlig unterbewertet. Heute spüren wir die Langzeitwirkung, gegen die wir nicht ankommen. In diesem Gefühl treffen sich viele Ostdeutsche, die früher gegeneinander standen: Ob Blockpartei, SED oder Kirche. Da haben wir Fehler gemacht.

Aber das ist doch im Kern nur eine ökonomische Begründung.

Nein, das ist auch eine seelische. Aber ganz genau weiß ich das auch noch nicht. In fünf Jahren werden wir wieder klüger sein. Wahrscheinlich kann man solche Prozesse tatsächlich nur historisch bearbeiten. Da ist Nähe falsch, weil man dann über sein eigenes Leben redet. Und das ist falsch. Man braucht Abstand, Nüchternheit und keinen Schaum vor dem Mund. Ich habe neulich einen Vortrag über die unterschiedliche Wahrnehmung von Werbung in Ost und West gehört. Ost und West sind noch heute anders. Wir haben alle vor 19, 20 Jahren gedacht, dass wir alle einfach Deutsche sind. Aber das stimmte schon damals nicht mehr. Nach 40 Jahren ist man anders. Da muss man den anderen auch mal fragen: „Wer seid Ihr eigentlich?“ Es wurde aber nicht gefragt. In der Hektik des Geschehens wurde gesagt: Wir sind das erfolgreiche System, wir haben die Mittel und Möglichkeiten, wir kommen jetzt mal über Euch.

War die Niederlage vom März traumatisch? Sie gehörten nur noch einer kleinen Minderheit an, die zwar viel bewegt hatte, aber offensichtlich schon nach wenigen Monaten von der Mehrheit ausgemustert wurde?

In der Wahlnacht haben wir uns erstmal betrunken. Wir haben bestimmt auch gedacht: So ein undankbares Volk. Aber schon am nächsten Tag mussten wir aus unseren versprengten Truppen eine Fraktion bilden – Neues Forum, Grüne Partei und andere. Ich hatte also schon in den nächsten Tagen wieder voll zu tun, wurde parlamentarischer Geschäftsführer der gemeinsamen Fraktion. Und die Zeiten blieben ja spannend.

Gibt es für Sie einen persönlichen Soundtrack der friedlichen Revolution?

Da fällt mir Silly ein. Deren Texte trafen die Stimmung. Ihr „Februar“ ist für mich die LP der beginnenden friedlichen Revolution.

Was empfehlen Sie Schüler?

Nichts einfach nur zu glauben. Immer zu fragen und neugierig zu bleiben. Und sich einzumischen. Diktatur lebt, wenn sich alle still verhalten. Demokratie geht kaputt, wenn sich keiner einmischt und keiner mitmacht. Und: Demokratie ohne Streit ist keine Demokratie!

(Dieses Interview mit Matthias Platzeck ist im Mai 2009 erschienen)

Wer wir sind (8) – Wut und Trauer über das Scheitern

Sabine Friedrich: Wer wird sind
Sabine Friedrich: Wer wird sind

Die letzten 250 Seiten von „Wer wir sind“ gehen an die Nieren. Sabine Friedrich gelingt es, den Leser emotional so zu packen, dass Wut, Trauer, Verzweiflung aufsteigen. Diese Wut beim Lesen der Passagen über die Verhandlungen des Volksgerichtshofs. Diese Wut über Roland Freissler, dessen Vorsitzenden, der es nicht einmal zugelassen hat, dass sich die Angeklagten verteidigen können. Oder die Wut über Hanns Martin Schleyer, den Sabine Friedrich exemplarisch für all diejenigen auftreten lässt, die sich am Unrecht der Nazis bereicherten. Auf den Seiten 1828 und 1829 schildert sie ganz kurz, wie sich der spätere Arbeitgeberchef eine Villa in Prag unter den Nagel riss, weil die vorherigen Bewohner, die sich selbst schon bereichert hatten, wegen ihres aufrechten Sohnes in Ungnade gefallen waren.

Oder die Verzweiflung, weil Dietrich Bonhoeffer es nicht wagt aus dem Gefängnis zu fliehen, weil inzwischen auch sein Bruder verhaftet wurde – und er nicht will, dass sich an ihm gerächt wird. Die Verzweiflung über die Ignoranz, mit der den Überlebenden des Attentats in der Bundesrepublik begegnet wurde. Und die Trauer über all die Toten, die sich durchgerungen hatten, endlich etwas gegen die braunen Mörder zu unternehmen – und die dafür mit dem Leben bezahlten. Das Mitgefühl mit den Hinterbliebenen, die im untergehenden Dritten Reich, im Bombenhagel und im besetzten Schlesien einen Weg fürs eigenen Überleben suchten.

All das schildert Sabine Friedrich ruhig. Diese Ruhe fesselt den Leser emotional. Den Schicksalen kann man sich nicht entziehen. Friedrich dramatisiert nicht. Dieser Versuchung angesichts des dramatischen Stoffes, den sie sich ausgesucht hat, erliegt sie nicht. Genau darin liegt die Qualität des Romans. Und darin, dass sie all diese Menschen nicht nur ins Gedächtnis zurückholt, sondern sie auch Mensch sein lässt. Mit Stärken und Schwächen. Nicht unanfechtbare Helden, sondern Männer und Frauen mit Sorgen um die Kinder, Freude über ein gutes Essen oder einen besonderen Wein und Befriedigung angesichts gelungener Arbeit.

„Wer wir sind“ ist ein großer, doppeldeutiger Titel. Sabine Friedrich wird ihm gerecht. Der Leser weiß nach 2000 Seiten, wer die Menschen waren, die sich gegen Hitler und den Nationalsozialismus stellten. Er weiß, warum viele so lange dafür brauchten und andere von Anfang an dagegen waren. Aber auch die zweite Ebene, auf wen wir uns im Erinnern beziehen sollten, wird klar. Die Zeit, die das Lesen dieser 2000 Seiten kostet, ist keine vertane Zeit. Sie ist ein Gewinn. Und spätestens, wenn dieses Buch verfilmt wird, wird man den Menschen und ihrem Mut wieder begegnen. Erinnern wird man sich aber immer wieder. Beim Gang durch Berlin, wenn man die Orte passiert, in denen sie lebten und litten und starben.

Mehr zu “Wer wir sind”:
1 Ein verblüffend leichter Einstieg
2 Das Gewebe der Roten Kapelle
3 Das Ende der Roten Kapelle
4 Wie die Rote Kapelle und der Kreisauer Kreis verbunden sind
5 Der Weg nach Kreisau
6 Zwischen Kreisauer Idylle und Morden in Russland
7 Das Attentat
Sabine Friedrich überzeugt im Berliner Literaturhaus

Wer wir sind (7) – Das Attentat

Sabine Friedrich: Wer wird sind
Sabine Friedrich: Wer wird sind

Es ist schon seltsam, wie ein Stoff, den man kennt, so in den Bann ziehen kann. Selbst um das Ende weiß eigentlich jeder. Und doch entwickelt Sabine Friedrich gerade auf den Seiten 1500 bis 1750 von „Wer wir sind“ Spannung. Der Roman nimmt Tempo auf – und das liegt eben nicht an einer anderen Art zu schreiben, sondern an der Art und Weise, wie Friedrich die Ereignisse collagiert.

Auf der einen Seite sind da die Debatten und Manifeste etwa von Carlo von Mierendorff und seiner Sozialistischen Aktion, die als Texte auch Diskussionsgrundlage beim Kreisauer Treffen an Pfingsten 1943 eine große Rolle spielen. Und damit auch die Geschichte der Moltkes, die durch die Verhaftung Helmuths am 19. Januar 1944 eine neue Dramatik bekommt. Und einen fast schon tragikomischen Aspekt: Nicht die Verschwörungspläne lassen die Gestapo anrücken, sondern eine einfache Warnung vor Verhaftung an einen Freund.

Claus Schenk Graf von Stauffenberg (Büste von Frank Mehnert; Foto: Wikipedia.de)
Claus Schenk Graf von Stauffenberg (Büste von Frank Mehnert; Foto: Wikipedia.de)

Zentrales Thema der Seiten 1500 bis 1750 ist das Attentat vom 20. Juli. Ab Seite 1525 bekommt Claus Schenk von Stauffenberg viel Platz. Eingeführt wurde er schon relativ bald, als es um den George-Kreis des Dichters Stefan George ging. Doch jetzt steht der Offizier Stauffenberg im Mittelpunkt. Mit ihm als Figur des Romans gewinnt die Debatte und dann die Planung der Beseitigung Hitlers Gewicht. Julius Leber, die Stauffenberg-Brüder und auch Peter Yorck von Wartenberg sind ab einem bestimmten Zeitpunkt dafür. Helmuth von Moltke lehnt es ab. Doch nach seiner Verhaftung kann er sich an der Diskussion darüber nicht mehr beteiligen.

Gegen Ende dieser 250 Seiten scheitert das Attentat, die Verhaftungen beginnen. Sabine Friedrich hat mit dem Juli 1944 einen Höhepunkt, den die Geschichte vorgibt. Es gelingt ihr, diesen auch literarisch zu bilden. Mit aller Dramatik, die angesichts der zuvor gescheiterten Pläne stets zunimmt. Und mit großen Einfühlungsvermögen in jene, die bereit waren, ihr Leben für die Befreiung vom Diktator zu geben.

Mehr zu “Wer wir sind”:
1 Ein verblüffend leichter Einstieg
2 Das Gewebe der Roten Kapelle
3 Das Ende der Roten Kapelle
4 Wie die Rote Kapelle und der Kreisauer Kreis verbunden sind
5 Der Weg nach Kreisau
6 Zwischen Kreisauer Idylle und Morden in Russland
8 Wut und Trauer über das Scheitern
Sabine Friedrich überzeugt im Berliner Literaturhaus

Wer wir sind (6) – Zwischen Kreisauer Idylle und Morden in Russland

Sabine Friedrich: Wer wird sind
Sabine Friedrich: Wer wird sind

Auf den Seiten 1250 bis 1500 schreibt Sabine Friedrich ihre Geschichte von Helmuth und Freya von Moltke zunächst fort. Der Eindruck verfestigt sich, als wollte sie im zweiten Teil von „Wer wir sind“ eigentlich einen Roman über diese Ehe und die Freunde der beiden verfassen. Dabei verschweigt sie weder die Depressionsattacken Helmuth von Moltkes, noch das Alleingelassenwerdens Freyas in Kreisau, wo sie ohne ihren Mann den Sohn Konrad zur Welt bringt. Aber trotz des vielfach getrennten Lebens der beiden, sind sie eine Einheit. Sabine Friedrich ist sichtlich faszniert von den täglichen Briefen, die beide zwischen Berlin und Kreisau austauschten. Auch daraus formt sie ihren Roman, in diesem Fall einen von der unglaublichen Kraft der Liebe und des Vertrauens.

Richtig stark ist Sabine Friedrich, wenn sie das Grauen im Russlandfeldzug schildert. Etwa wenn Generalleutnant Johann Pflugbeil es nicht wagt, am 27. Juni 1041 in Bialystok ein Massaker durch das Polizeibataillon 309 zu unterbinden. Ein einfacher Polizist kauft dem Divisionskommandeur den Schneid ab, als er direkt vor ihm auf Sterbende uriniert. Ein schreckliches Bild, ja ein widerliches. Aber auch ein starkes, das das Versagen der Wehrmacht gegenüber der SS verdichtet.

Während Helmuth von Moltke schon nach dem Frankreichfeldzug seine Denkschrift „Über die Grundlagen der Staatslehre“ schreibt und sich eine schnelle Ablösung der Nazis wünscht, gefällt anderen Verschwörern der Russlandfeldzug – solange sie das Geschehen hinter der Front ausblenden, etwa Fritz Dietloff von der Schulenburg.

Moltke versucht gegen diese Kriegsverbrechen vorzugehen. Mit den Mitteln des Juristen formuliert er Eingaben gegen die Ermordung von Kriegsgefangenen, von Juden und gezielten Erschießungen der Bevölkerung als vermeintliche Vergeltung für die Unterstützung von Saboteuren. Dabei argumentiert er nicht moralisch. Ihm ist bewusst, dass er in der Logik der Kriegsmaschinerie bleiben muss, um etwas zu erreichen. Und so ist sein Argument, dass die Unterstützung der Bevölkerung notwendig ist, um den Krieg gewinnen zu können.

Henning von-Tresckow; Quelle: WikipediaHenning von Tresckow ist ein anderer Adliger, den diese Gedanken und Verrenkungen umtreiben. Ihn führt Sabine Friedrich auf 60 bis 70 Seiten ein. Der Soldat, der schon als 17jähriger am 1. Weltkrieg teilnahm, der als Freikorps-Soldat gegen Linke kämpfte und nach einer kurzen Karriere als Börsenmakler in die Reichswehr eintrat, drängt als Generalstabsoffizier auf ein Attentat aus Hitler. Während er schon soweit war, ist Helmuth von Moltke mit seinen Freunden Pfingsten und im Oktober 1942 auf Kreisau, um darüber zu debattieren, wie ein Deutsches Reich nach dem Ende der Nationalsozialisten aussehen sollte. Diese Gegensätze im Großen schildert Sabine Friedrich genauso anschaulich, wie die im Alltag: Etwa wenn sich ein Massaker an der Ostfront mit den Sorgen Freya von Moltkes um die Wasserleitungen in Kreisau ablösen. Das genau ist die Stärke des Buches auch nach 1500 Seiten: Die Verknüpfung des Alltags und damit die Fassbarkeit der Handelnden als normale Menschen mit den historischen Ereignissen.

Mehr zu “Wer wir sind”:
1 Ein verblüffend leichter Einstieg
2 Das Gewebe der Roten Kapelle
3 Das Ende der Roten Kapelle
4 Wie die Rote Kapelle und der Kreisauer Kreis verbunden sind
5 Der Weg nach Kreisau
7 Das Attentat
8 Wut und Trauer über das Scheitern
Sabine Friedrich überzeugt im Berliner Literaturhaus

„Wer wir sind“ (5) – Der Weg nach Kreisau

Sabine Friedrich: Wer wird sind
Sabine Friedrich: Wer wird sind

Julius Leber, der Gewerkschafter, und seine Frau Annedore werden ab Seite 1000 in den Roman „Wer wir sind“ genauso eingeführt wie Carlo Mierendorff, der Sozialdemokrat aus Darmstadt oder Edolf Reichwein und seine Frau Romai. Sabine Friedrich erweitert das Personal jetzt ziemlich schnell. Nach den langen Passagen über die Herkunft und den Werdegang von Helmuth und Freya von Moltke sowie von Henning und Erika von Tresckow widmet sich Friedrich jetzt jenen, die in Kreisau vor allem über die Zeit nach dem Fall der Nationalsozialisten nachdachten.

Die Beschleunigung tut dem Lesefluss gut. Zwar waren die Seiten über die Moltkes und Tresckows aufschlussreich. Sie waren wie der Beginn eines Romans über die Freundschaft zweier Familien. Das stimmt ja auch. Aber die Erweiterung um die anderen Mitstreiter öffnet nicht nur den Horizont. Sie bringt auch eine nur Dramatik in das Buch. Denn das Schicksal von Julius Leber, der schon 1933 inhaftiert uns ins KZ kam, dann aber Jahre später wieder auf freien Fuß kam, ist erschütternd – und genauso wie die Geschichte Carlo Mierendorffs voller Hoffnung. Und so kommt ein Aspekt in den Roman, der in der Folge immer wichtiger sein wird – obwohl der Leser ja das (historische) Ende schon kennt.

Julius Leber vor dem Volksgerichtshof; Quelle: Wikipedia
Julius Leber vor dem Volksgerichtshof; Quelle: Wikipedia

Und dann werden auch noch die Familie Stauffenberg, die Schulenburgs und die Yorck von Wartenbergs immer stärker beleuchtet. Dieser Adel, der die Nazis anfangs gar nicht schlecht fand, aber im Laufe der Zeit immer weiter von ihnen abrückt. Sabine Friedrich legt auf diesen Seiten das Fundament, um die Beweggründe von ihnen so verstehen zu können, dass ihr Zögern und dann ihr spätes Handeln verständlich werden wird.

Die Seiten 1000 bis 1250 sind keine, die voller Spannung wären. Aber sie sind welche, die die Menschen, die sich auf dem schlesischen Gut der Moltkes in Kreisau treffen, verstehbar zu machen. Und das wieder vor allem, indem Friedrich ganz behutsam schildert, wie das Gefüge der einzelnen ins Rutschen gerät. Etwa, wenn Helmuth von Moltke von den Erschießungen von Juden im Polenfeldzug erfährt.

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2 Das Gewebe der Roten Kapelle
3 Das Ende der Roten Kapelle
4 Wie die Rote Kapelle und der Kreisauer Kreis verbunden sind
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7 Das Attentat
8 Wut und Trauer über das Scheitern
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“Wer wir sind” (4) – Wie Rote Kapelle und Kreisau verbunden sind

Sabine Friedrich: Wer wird sind
Sabine Friedrich: Wer wird sind

Mit Hilde Coppi beginnt mein vierter Teil von „Wer wir sind“. Es sind ja immer 250 Seiten, die ich in einem kleinen Text über meine Leseerfahrungen mit dem 2000-Seiten-Buch von Sabine Friedrich aufschreibe. Bis Seite 800 geht quasi das erste Buch das auch als solches hätte verkauft werden können. Es ist in sich geschlossen und ein literarisches Denkmal für die Rote Kapelle.

Die letzten 50 Seiten dieses Teils handeln vor allem von Hilde Präsens der Frau. Sie schildert die Verlegung in das Frauengefängnis. Sie beschreibt die Entbindung und das Leben mit ihrem Kind. Und sie macht den Leser fassungslos, wenn er lesen muss, wie Mutter und Kind auseinandergerissen werden. Denn nach einigen Monaten kann Hilde Coppi nicht mehr stillen. Das ist der Moment, in dem sie ihr Leben verliert. Durch Hinrichtung. Für die Nazis hat sie dann genug Leben gespendet.  Brutaler und erschütternder ist bis dahin nichts in „Wer wir sind“. Sabine Friedrich lässt die Ereignisse und die Gefühle der Betroffenen für sich sprechen. Wie vermeidet jede Dramatisierung, obwohl sie das Leben in der Zelle natürlich einfühlsam erfindet. Aber eben nie so, dass sie selbst das Geschehen dominieren könnte.

Hilde Coppi. Quelle: Wikipedia
Hilde Coppi. Quelle: Wikipedia

Und dann beginnt das zweite Buch. Jetzt schreibt Sabine Friedrich über den adligen Widerstand in der Abwehr, der Wehrmacht und dem Auswärtigen Amt, der viel zu spät am 20. Juli 1944 versuchte Deutschland von Adolf Hitler zu befreien. Helmuth James Graf von Moltke begleitet sie zunächst. Und seine Frau Freya. Ihrer beider Einführung in den Roman stellt einen Bruch dar. Was angesichts des abgeschlossenen, tödlichen Handlungsstrangs der Roten Kapelle nicht verwunderlich ist. Jetzt schreibt Friedrich ganz behutsam über die Herkunft der beiden, zeichnet ihren Weg nach – und dennoch verwebt sie auch dies mit dem zuvor gelesenen. Auch die Moltkes haben Bekannte, die bereits eine Rolle spielten. Aber der Tonfall ist jetzt noch ruhiger, ja philosophischer als im ersten Teil.

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5 Der Weg nach Kreisau
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7 Das Attentat
8 Wut und Trauer über das Scheitern
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„Wer wir sind“ (3) – Das Ende der Roten Kapelle

Sabine Friedrich: Wer wird sind
Sabine Friedrich: Wer wird sind

Immer dieses Präsens. Auf den ersten 500 Seiten gab es einige Momente, in denen ich es verfluchte. An Szenenwechsel, Personenwechsel und teilweise Zeitsprüngen über Jahrzehnte muss sich der Leser erst gewöhnen. Aber wenn man in den Lesefluss kommt, dann spielt das ständige Präsens keine Rolle mehr. Dann tritt ein Effekt wie in einem Film ein, in dem Szene für Szene auch in der jeweiligen Gegenwart spielt, selbst wenn es eine Rückblende ist.

Gerade in den Passagen bis zu Seite 750 von „Wer wir sind“ wird das Präsens sogar besonders wirkungsmächtig. Denn Sabine Friedrich nimmt auf ihnen das Ende der Roten Kapelle in den Blick. Unglaublich, dass der lose Ring daran scheiterte, dass der sowjetische Geheimdienst – wenn auch verschlüsselt – Namen und Adressen funkte! Nach der Entschlüsselung war es für die Gestapo nicht schwer, die Akteure festzunehmen.

Harald Poelchau Quelle: Kreisau-Initiative
Harald Poelchau. Quelle: Kreisau-Initiative

Haft, Verhöre, Gerichtsverhandlungen – von allen Auswirkungen des Unrechtsstaates erzählt Sabine Friedrich. Und genau hierbei ist das Präsens stark und anrührend. Beim Lesen verschwimmt jede Distanz. Man wird zum anwesenden Beobachter, nimmt ein bisschen die Perspektive von Harald Poelchau ein, dem Gefängnispfarrer, der zum Bindeglied der Inhaftierten untereinander und deren Familien wird. Und letztlich zum letzten Begleiter der zum Tode Verurteilten. All das ist sehr dicht geschrieben und nimmt den Leser gefangen.

Erstaunlich ist auch weiterhin das Beziehungsgeflecht derer, die sich gegen Hitler engagierten. Falk Harnack, der kleine Bruder von Arvid Harnack, einem der wichtigsten Akteure der losen Gruppe, die von den Nazis dann „Rote Kapelle“ genannt wurde, war mit den Scholls von der Weißen Rose in München befreundet. Deshalb nimmt Sabine Friedrich auch die Münchner Studentengruppe in den Blick.

Libertas Schulze-Boysen. Quelle: Wikipedia
Libertas Schulze-Boysen. Quelle: Wikipedia

Und immer wieder erschreckend ist das Wiedererkennen von Gebäuden oder Landschaften, in denen sich das damalige Leben abspielte. Und die heute genauso belebt sind, oftmals ohne die Erinnerung an deren einst mutige Bewohner zu bewahren. Etwa auf der Insel im Teupitzer See, auf der sich Libertas Schulze-Boysen ein Grundstück gekauft hatte.

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2 Das Gewebe der Roten Kapelle
4 Wie Rote Kapelle und Kreisau verbunden sind 
5 Der Weg nach Kreisau
6 Zwischen Kreisauer Idylle und Morden in Russland
7 Das Attentat
8 Wut und Trauer über das Scheitern
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Wer wir sind (2) – Das Gewebe der Roten Kapelle

Sabine Friedrich: Wer wird sind
Sabine Friedrich: Wer wird sind

Nach den ersten 250 Seiten spielt der beeindruckende Umfang von „Wer wir sind“ keine Rolle mehr. Sabine Friedrich erzählt immer eine konkrete Szene, um dann zu einer ganz anderen zu wechseln. Dabei überspringt sie Jahre, dabei wechselt sie Schauplätze. Die nächste Szene mit anderen Menschen aus dem Widerstand ist wieder ganz konkret. Wieder wird sie in der Gegenwart erzählt und wieder ist die Szene abgeschlossen.

So reiht sich eine Begebenheit an die andere, so verwebt sie das Leben der Akteure der „Roten Kapelle“ zu einem erstaunlich dichten Gewebe. Selbst wenn man angesichts der vielen Namen manchmal den Überblick zu verlieren droht – oder gar verliert, ist es nicht schlimm. Denn schon die nächste Szene eröffnet eine neue Perspektive auf die Menschen, die sich mit Hitlers Diktatur nicht arrangieren wollten oder konnten.

Arvid von Harnack.Quelle: Wikipedia
Arvid Harnack.Quelle: Wikipedia

Erstaunlich, wie viele Beamte und Juristen im Widerstand eine wichtige Rolle spielten, so wie Hans von Dohnanyi. Er diskutierte mit Kollegen und Vorgesetzten im Oberkommando der Wehrmacht recht offen über seine Sicht auf Hitler. Auch Arvid von Harnack, Oberregierungsrat im Wirtschaftsministerium, ist Jurist. Was sie antreibt, wenn sie ausländischen Botschaften wichtige Informationen zukommen lassen, wird in Sabine Friedrichs Buch einfach und klar verständlich – und auch welches Risiko sie dabei eingehen.

Auch die zweiten 250 Seiten sind also nicht langweilig. Sie lesen sich schnell. Und auch sie sind mit ihrer Bandbreite von Verliebtheit bis Zwangsarbeiter-Elend so emotional anrührend, dass das Weiterlesen ein unbedingtes Muss ist.

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