Wer wir sind (6) – Zwischen Kreisauer Idylle und Morden in Russland

Sabine Friedrich: Wer wird sind
Sabine Friedrich: Wer wird sind

Auf den Seiten 1250 bis 1500 schreibt Sabine Friedrich ihre Geschichte von Helmuth und Freya von Moltke zunächst fort. Der Eindruck verfestigt sich, als wollte sie im zweiten Teil von „Wer wir sind“ eigentlich einen Roman über diese Ehe und die Freunde der beiden verfassen. Dabei verschweigt sie weder die Depressionsattacken Helmuth von Moltkes, noch das Alleingelassenwerdens Freyas in Kreisau, wo sie ohne ihren Mann den Sohn Konrad zur Welt bringt. Aber trotz des vielfach getrennten Lebens der beiden, sind sie eine Einheit. Sabine Friedrich ist sichtlich faszniert von den täglichen Briefen, die beide zwischen Berlin und Kreisau austauschten. Auch daraus formt sie ihren Roman, in diesem Fall einen von der unglaublichen Kraft der Liebe und des Vertrauens.

Richtig stark ist Sabine Friedrich, wenn sie das Grauen im Russlandfeldzug schildert. Etwa wenn Generalleutnant Johann Pflugbeil es nicht wagt, am 27. Juni 1041 in Bialystok ein Massaker durch das Polizeibataillon 309 zu unterbinden. Ein einfacher Polizist kauft dem Divisionskommandeur den Schneid ab, als er direkt vor ihm auf Sterbende uriniert. Ein schreckliches Bild, ja ein widerliches. Aber auch ein starkes, das das Versagen der Wehrmacht gegenüber der SS verdichtet.

Während Helmuth von Moltke schon nach dem Frankreichfeldzug seine Denkschrift „Über die Grundlagen der Staatslehre“ schreibt und sich eine schnelle Ablösung der Nazis wünscht, gefällt anderen Verschwörern der Russlandfeldzug – solange sie das Geschehen hinter der Front ausblenden, etwa Fritz Dietloff von der Schulenburg.

Moltke versucht gegen diese Kriegsverbrechen vorzugehen. Mit den Mitteln des Juristen formuliert er Eingaben gegen die Ermordung von Kriegsgefangenen, von Juden und gezielten Erschießungen der Bevölkerung als vermeintliche Vergeltung für die Unterstützung von Saboteuren. Dabei argumentiert er nicht moralisch. Ihm ist bewusst, dass er in der Logik der Kriegsmaschinerie bleiben muss, um etwas zu erreichen. Und so ist sein Argument, dass die Unterstützung der Bevölkerung notwendig ist, um den Krieg gewinnen zu können.

Henning von-Tresckow; Quelle: WikipediaHenning von Tresckow ist ein anderer Adliger, den diese Gedanken und Verrenkungen umtreiben. Ihn führt Sabine Friedrich auf 60 bis 70 Seiten ein. Der Soldat, der schon als 17jähriger am 1. Weltkrieg teilnahm, der als Freikorps-Soldat gegen Linke kämpfte und nach einer kurzen Karriere als Börsenmakler in die Reichswehr eintrat, drängt als Generalstabsoffizier auf ein Attentat aus Hitler. Während er schon soweit war, ist Helmuth von Moltke mit seinen Freunden Pfingsten und im Oktober 1942 auf Kreisau, um darüber zu debattieren, wie ein Deutsches Reich nach dem Ende der Nationalsozialisten aussehen sollte. Diese Gegensätze im Großen schildert Sabine Friedrich genauso anschaulich, wie die im Alltag: Etwa wenn sich ein Massaker an der Ostfront mit den Sorgen Freya von Moltkes um die Wasserleitungen in Kreisau ablösen. Das genau ist die Stärke des Buches auch nach 1500 Seiten: Die Verknüpfung des Alltags und damit die Fassbarkeit der Handelnden als normale Menschen mit den historischen Ereignissen.

Mehr zu “Wer wir sind”:
1 Ein verblüffend leichter Einstieg
2 Das Gewebe der Roten Kapelle
3 Das Ende der Roten Kapelle
4 Wie die Rote Kapelle und der Kreisauer Kreis verbunden sind
5 Der Weg nach Kreisau
7 Das Attentat
8 Wut und Trauer über das Scheitern
Sabine Friedrich überzeugt im Berliner Literaturhaus

„Wer wir sind“ (5) – Der Weg nach Kreisau

Sabine Friedrich: Wer wird sind
Sabine Friedrich: Wer wird sind

Julius Leber, der Gewerkschafter, und seine Frau Annedore werden ab Seite 1000 in den Roman „Wer wir sind“ genauso eingeführt wie Carlo Mierendorff, der Sozialdemokrat aus Darmstadt oder Edolf Reichwein und seine Frau Romai. Sabine Friedrich erweitert das Personal jetzt ziemlich schnell. Nach den langen Passagen über die Herkunft und den Werdegang von Helmuth und Freya von Moltke sowie von Henning und Erika von Tresckow widmet sich Friedrich jetzt jenen, die in Kreisau vor allem über die Zeit nach dem Fall der Nationalsozialisten nachdachten.

Die Beschleunigung tut dem Lesefluss gut. Zwar waren die Seiten über die Moltkes und Tresckows aufschlussreich. Sie waren wie der Beginn eines Romans über die Freundschaft zweier Familien. Das stimmt ja auch. Aber die Erweiterung um die anderen Mitstreiter öffnet nicht nur den Horizont. Sie bringt auch eine nur Dramatik in das Buch. Denn das Schicksal von Julius Leber, der schon 1933 inhaftiert uns ins KZ kam, dann aber Jahre später wieder auf freien Fuß kam, ist erschütternd – und genauso wie die Geschichte Carlo Mierendorffs voller Hoffnung. Und so kommt ein Aspekt in den Roman, der in der Folge immer wichtiger sein wird – obwohl der Leser ja das (historische) Ende schon kennt.

Julius Leber vor dem Volksgerichtshof; Quelle: Wikipedia
Julius Leber vor dem Volksgerichtshof; Quelle: Wikipedia

Und dann werden auch noch die Familie Stauffenberg, die Schulenburgs und die Yorck von Wartenbergs immer stärker beleuchtet. Dieser Adel, der die Nazis anfangs gar nicht schlecht fand, aber im Laufe der Zeit immer weiter von ihnen abrückt. Sabine Friedrich legt auf diesen Seiten das Fundament, um die Beweggründe von ihnen so verstehen zu können, dass ihr Zögern und dann ihr spätes Handeln verständlich werden wird.

Die Seiten 1000 bis 1250 sind keine, die voller Spannung wären. Aber sie sind welche, die die Menschen, die sich auf dem schlesischen Gut der Moltkes in Kreisau treffen, verstehbar zu machen. Und das wieder vor allem, indem Friedrich ganz behutsam schildert, wie das Gefüge der einzelnen ins Rutschen gerät. Etwa, wenn Helmuth von Moltke von den Erschießungen von Juden im Polenfeldzug erfährt.

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