Wer wir sind (8) – Wut und Trauer über das Scheitern

Sabine Friedrich: Wer wird sind
Sabine Friedrich: Wer wird sind

Die letzten 250 Seiten von „Wer wir sind“ gehen an die Nieren. Sabine Friedrich gelingt es, den Leser emotional so zu packen, dass Wut, Trauer, Verzweiflung aufsteigen. Diese Wut beim Lesen der Passagen über die Verhandlungen des Volksgerichtshofs. Diese Wut über Roland Freissler, dessen Vorsitzenden, der es nicht einmal zugelassen hat, dass sich die Angeklagten verteidigen können. Oder die Wut über Hanns Martin Schleyer, den Sabine Friedrich exemplarisch für all diejenigen auftreten lässt, die sich am Unrecht der Nazis bereicherten. Auf den Seiten 1828 und 1829 schildert sie ganz kurz, wie sich der spätere Arbeitgeberchef eine Villa in Prag unter den Nagel riss, weil die vorherigen Bewohner, die sich selbst schon bereichert hatten, wegen ihres aufrechten Sohnes in Ungnade gefallen waren.

Oder die Verzweiflung, weil Dietrich Bonhoeffer es nicht wagt aus dem Gefängnis zu fliehen, weil inzwischen auch sein Bruder verhaftet wurde – und er nicht will, dass sich an ihm gerächt wird. Die Verzweiflung über die Ignoranz, mit der den Überlebenden des Attentats in der Bundesrepublik begegnet wurde. Und die Trauer über all die Toten, die sich durchgerungen hatten, endlich etwas gegen die braunen Mörder zu unternehmen – und die dafür mit dem Leben bezahlten. Das Mitgefühl mit den Hinterbliebenen, die im untergehenden Dritten Reich, im Bombenhagel und im besetzten Schlesien einen Weg fürs eigenen Überleben suchten.

All das schildert Sabine Friedrich ruhig. Diese Ruhe fesselt den Leser emotional. Den Schicksalen kann man sich nicht entziehen. Friedrich dramatisiert nicht. Dieser Versuchung angesichts des dramatischen Stoffes, den sie sich ausgesucht hat, erliegt sie nicht. Genau darin liegt die Qualität des Romans. Und darin, dass sie all diese Menschen nicht nur ins Gedächtnis zurückholt, sondern sie auch Mensch sein lässt. Mit Stärken und Schwächen. Nicht unanfechtbare Helden, sondern Männer und Frauen mit Sorgen um die Kinder, Freude über ein gutes Essen oder einen besonderen Wein und Befriedigung angesichts gelungener Arbeit.

„Wer wir sind“ ist ein großer, doppeldeutiger Titel. Sabine Friedrich wird ihm gerecht. Der Leser weiß nach 2000 Seiten, wer die Menschen waren, die sich gegen Hitler und den Nationalsozialismus stellten. Er weiß, warum viele so lange dafür brauchten und andere von Anfang an dagegen waren. Aber auch die zweite Ebene, auf wen wir uns im Erinnern beziehen sollten, wird klar. Die Zeit, die das Lesen dieser 2000 Seiten kostet, ist keine vertane Zeit. Sie ist ein Gewinn. Und spätestens, wenn dieses Buch verfilmt wird, wird man den Menschen und ihrem Mut wieder begegnen. Erinnern wird man sich aber immer wieder. Beim Gang durch Berlin, wenn man die Orte passiert, in denen sie lebten und litten und starben.

Mehr zu “Wer wir sind”:
1 Ein verblüffend leichter Einstieg
2 Das Gewebe der Roten Kapelle
3 Das Ende der Roten Kapelle
4 Wie die Rote Kapelle und der Kreisauer Kreis verbunden sind
5 Der Weg nach Kreisau
6 Zwischen Kreisauer Idylle und Morden in Russland
7 Das Attentat
Sabine Friedrich überzeugt im Berliner Literaturhaus

Wer wir sind (7) – Das Attentat

Sabine Friedrich: Wer wird sind
Sabine Friedrich: Wer wird sind

Es ist schon seltsam, wie ein Stoff, den man kennt, so in den Bann ziehen kann. Selbst um das Ende weiß eigentlich jeder. Und doch entwickelt Sabine Friedrich gerade auf den Seiten 1500 bis 1750 von „Wer wir sind“ Spannung. Der Roman nimmt Tempo auf – und das liegt eben nicht an einer anderen Art zu schreiben, sondern an der Art und Weise, wie Friedrich die Ereignisse collagiert.

Auf der einen Seite sind da die Debatten und Manifeste etwa von Carlo von Mierendorff und seiner Sozialistischen Aktion, die als Texte auch Diskussionsgrundlage beim Kreisauer Treffen an Pfingsten 1943 eine große Rolle spielen. Und damit auch die Geschichte der Moltkes, die durch die Verhaftung Helmuths am 19. Januar 1944 eine neue Dramatik bekommt. Und einen fast schon tragikomischen Aspekt: Nicht die Verschwörungspläne lassen die Gestapo anrücken, sondern eine einfache Warnung vor Verhaftung an einen Freund.

Claus Schenk Graf von Stauffenberg (Büste von Frank Mehnert; Foto: Wikipedia.de)
Claus Schenk Graf von Stauffenberg (Büste von Frank Mehnert; Foto: Wikipedia.de)

Zentrales Thema der Seiten 1500 bis 1750 ist das Attentat vom 20. Juli. Ab Seite 1525 bekommt Claus Schenk von Stauffenberg viel Platz. Eingeführt wurde er schon relativ bald, als es um den George-Kreis des Dichters Stefan George ging. Doch jetzt steht der Offizier Stauffenberg im Mittelpunkt. Mit ihm als Figur des Romans gewinnt die Debatte und dann die Planung der Beseitigung Hitlers Gewicht. Julius Leber, die Stauffenberg-Brüder und auch Peter Yorck von Wartenberg sind ab einem bestimmten Zeitpunkt dafür. Helmuth von Moltke lehnt es ab. Doch nach seiner Verhaftung kann er sich an der Diskussion darüber nicht mehr beteiligen.

Gegen Ende dieser 250 Seiten scheitert das Attentat, die Verhaftungen beginnen. Sabine Friedrich hat mit dem Juli 1944 einen Höhepunkt, den die Geschichte vorgibt. Es gelingt ihr, diesen auch literarisch zu bilden. Mit aller Dramatik, die angesichts der zuvor gescheiterten Pläne stets zunimmt. Und mit großen Einfühlungsvermögen in jene, die bereit waren, ihr Leben für die Befreiung vom Diktator zu geben.

Mehr zu “Wer wir sind”:
1 Ein verblüffend leichter Einstieg
2 Das Gewebe der Roten Kapelle
3 Das Ende der Roten Kapelle
4 Wie die Rote Kapelle und der Kreisauer Kreis verbunden sind
5 Der Weg nach Kreisau
6 Zwischen Kreisauer Idylle und Morden in Russland
8 Wut und Trauer über das Scheitern
Sabine Friedrich überzeugt im Berliner Literaturhaus

Wer wir sind (6) – Zwischen Kreisauer Idylle und Morden in Russland

Sabine Friedrich: Wer wird sind
Sabine Friedrich: Wer wird sind

Auf den Seiten 1250 bis 1500 schreibt Sabine Friedrich ihre Geschichte von Helmuth und Freya von Moltke zunächst fort. Der Eindruck verfestigt sich, als wollte sie im zweiten Teil von „Wer wir sind“ eigentlich einen Roman über diese Ehe und die Freunde der beiden verfassen. Dabei verschweigt sie weder die Depressionsattacken Helmuth von Moltkes, noch das Alleingelassenwerdens Freyas in Kreisau, wo sie ohne ihren Mann den Sohn Konrad zur Welt bringt. Aber trotz des vielfach getrennten Lebens der beiden, sind sie eine Einheit. Sabine Friedrich ist sichtlich faszniert von den täglichen Briefen, die beide zwischen Berlin und Kreisau austauschten. Auch daraus formt sie ihren Roman, in diesem Fall einen von der unglaublichen Kraft der Liebe und des Vertrauens.

Richtig stark ist Sabine Friedrich, wenn sie das Grauen im Russlandfeldzug schildert. Etwa wenn Generalleutnant Johann Pflugbeil es nicht wagt, am 27. Juni 1041 in Bialystok ein Massaker durch das Polizeibataillon 309 zu unterbinden. Ein einfacher Polizist kauft dem Divisionskommandeur den Schneid ab, als er direkt vor ihm auf Sterbende uriniert. Ein schreckliches Bild, ja ein widerliches. Aber auch ein starkes, das das Versagen der Wehrmacht gegenüber der SS verdichtet.

Während Helmuth von Moltke schon nach dem Frankreichfeldzug seine Denkschrift „Über die Grundlagen der Staatslehre“ schreibt und sich eine schnelle Ablösung der Nazis wünscht, gefällt anderen Verschwörern der Russlandfeldzug – solange sie das Geschehen hinter der Front ausblenden, etwa Fritz Dietloff von der Schulenburg.

Moltke versucht gegen diese Kriegsverbrechen vorzugehen. Mit den Mitteln des Juristen formuliert er Eingaben gegen die Ermordung von Kriegsgefangenen, von Juden und gezielten Erschießungen der Bevölkerung als vermeintliche Vergeltung für die Unterstützung von Saboteuren. Dabei argumentiert er nicht moralisch. Ihm ist bewusst, dass er in der Logik der Kriegsmaschinerie bleiben muss, um etwas zu erreichen. Und so ist sein Argument, dass die Unterstützung der Bevölkerung notwendig ist, um den Krieg gewinnen zu können.

Henning von-Tresckow; Quelle: WikipediaHenning von Tresckow ist ein anderer Adliger, den diese Gedanken und Verrenkungen umtreiben. Ihn führt Sabine Friedrich auf 60 bis 70 Seiten ein. Der Soldat, der schon als 17jähriger am 1. Weltkrieg teilnahm, der als Freikorps-Soldat gegen Linke kämpfte und nach einer kurzen Karriere als Börsenmakler in die Reichswehr eintrat, drängt als Generalstabsoffizier auf ein Attentat aus Hitler. Während er schon soweit war, ist Helmuth von Moltke mit seinen Freunden Pfingsten und im Oktober 1942 auf Kreisau, um darüber zu debattieren, wie ein Deutsches Reich nach dem Ende der Nationalsozialisten aussehen sollte. Diese Gegensätze im Großen schildert Sabine Friedrich genauso anschaulich, wie die im Alltag: Etwa wenn sich ein Massaker an der Ostfront mit den Sorgen Freya von Moltkes um die Wasserleitungen in Kreisau ablösen. Das genau ist die Stärke des Buches auch nach 1500 Seiten: Die Verknüpfung des Alltags und damit die Fassbarkeit der Handelnden als normale Menschen mit den historischen Ereignissen.

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3 Das Ende der Roten Kapelle
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7 Das Attentat
8 Wut und Trauer über das Scheitern
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