Die Reportagen von Albert Londres verblüffen durch Aktualität

Albert Londres: Ein Reporter und nichts als das
Albert Londres: Ein Reporter und nichts als das

Albert Londres kannte ich bislang nicht. Dass er ein großer französischer Journalist in den Zwischenkriegsjahren war, wusste ich nicht. Aber jetzt habe ich „Ein Reporter und nichts als das“ gelesen. „Die Andere Bibliothek“ hat wieder einmal Texte zugänglich gemacht, die in Deutschland bislang nicht verfügbar waren. Drei Bücher haben Christian Döring als Herausgeber und Linda Vogt als Lektorin in einem Band zusammengefasst. Und alle drei sind Reportagen von großer Klarheit.

„China aus den Fugen“ ist im Mai 1922 erschienen und schildert die Situation zehn Jahre nach der Abdankung des letzten Kaisers. „Ahashver ist angekommen“ ist eine Reise durch das jüdische Leben in Westeuropa, den Ghettos Osteuropas und im Palästina der Zionisten in den Jahren 1929 und 1930. Und „Perlenfischer“ ist das Ergebnis einer Recherche zwischen dem Golf von Oman und dem Golf von Aden im Jahr 1931. Jedes dieser Bücher ist ein erstaunlicher Reportageband. In ihrer Fülle sind sie ein fulminantes Zeugnis davon, was dieses Genre kann.

Das wird vor allem bei „Ahashver ist angekommen“ deutlich. Londres beginnt in London, sich auf die Suche nach dem Leben und dem Denken der Juden zu machen. Er lernt die reichen und die armen Juden kennen. Er besucht Talmud-Schulen und spricht mit Zionisten, die eine jüdische Zukunft nur in Palästina sehen. Von dort macht sich Londres auf den Weg über Westeuropa ins östliche Mitteleuropa, in die Tschechoslowakei, nach Polen und Russland. Er erlebt die kaum vorstellbare Armut der Juden in den Karpaten oder dem Lemberger Ghetto. Er reist zusammen mit Menschen, die sieben Sprachen fließend sprechen, aber es nicht schaffen sich aus den furchtbaren Zuständen ihrer Heimatorte zu befreien. Er lernt Wunderrabbis kennen und überall sieht er Fotografien von Theodor Herzl, dem Begründer des Zionismus. Londres erfährt, was die Juden Europas bewegt, wie unterschiedlich sie denken – und wie antisemitisch die Gesetzgebung Polens war, wie diskriminierend Tschechen, Slowaken, Rumänen, Ukrainer oder Russen mit der Minderheit in ihrer Mitte umgingen. Londres hört überlebenden der Pogrome in Russland zu. Und so versteht er immer besser, warum sich ein Teil der Juden in den tiefen Glauben flüchtete und ein anderer sein Heil in der Auswanderung ins Land der Vorväter in Palästina suchte.

Wer diese Reportage heute, nach der Shoa, liest, erschrickt zwangsläufig. Nicht nur, weil hier eine Welt auflebt, die durch die Mordmaschinerie der Nazis vernichtet wurde. Nein, man erschrickt auch, weil der Hass auf die Juden als ein europäisches Phänomen geschildert wird. Denn das diskriminiert werden, ja das ermordet werden, gehörte für die Juden auch in den 21 Jahren zwischen 1. und 2. Weltkrieg zum Alltag.

Sein Besuch im englischen Mandatsgebiet, in dem sich die Zionisten niederlassen durften, ist ebenfalls von einer ungeheuren Hellsichtigkeit. Londres beschreibt die Konflikte mit den Arabern, er schildert auch dort einen Pogrom gegen die Juden – und er beobachtet verblüfft, wie sie die jüdischen Einwanderer in den Dienst des Aufbaus eines jüdischen Staats stellten, ohne auf die einstige Stellung in Europa zurückzublicken. Wer etwas über das Entstehen des Nahost-Konflikts erfahren will, ist hier richtig. Denn Londres zeichnet bei seiner Reportage aus den Jahren 1929 und 1930 genau die Konfliktlinien nach, die noch heute entscheidend sind. Und er erfasst die Mentalität eines Volkes, das sich aus der Diskriminierung und Verfolgung befreit, um den eigenen Staat zu schaffen. Londres schafft es dabei, immer Distanz zu wahren. Ihn begeistern der Wille und die Zielstrebigkeit. Aber er versteht auch die Araber. Er nimmt keine Partei, sondern schafft es nur Kraft seiner Beobachtung und seiner klaren und prägnanten Stils, aufzuklären. Ein Meisterwerk eben.

Beim Training von Pogon Lwow

Pogon Lwow – das ist ein Name, der einst ein Ruf wie Donnerhall im Fußball hatte. Aber damals gehörte Lemberg noch zu Polen, war noch nicht im Hitler-Stalin-Pakt der Sowjetunion zugeschlagen worden. Bis zum Untergang des polnischen Lwow war der Club fünf Mal polnischer Meister. Dann ging er mit der polnischen Bevölkerung im Krieg unter.

Seit einigen Jahren gibt es den Verein wieder. 70 Jahre nach dem Untergang wurde er wieder gegründet. In der dritten Liga spielt er inzwischen – in der dritten ukrainischen Liga. Der Verein will an die große Vergangenheit anknüpfen, will der wieder präsenten polnischen Minderheit eine Heimstatt sein. Und ist es auch. Aber ganz ohne Nationalitätenstreit. Der Torhüter kommt aus Mazedonien, etliche Spieler sind ukrainische Ukrainer, andere polnische Ukrainier. Auf dem Platz wird Ukrainisch gesprochen. Und selbst die Farben auf dem Platz sind gelb und blau. Nur die Trikots und ein Werbetransparent hinter dem Tor sind in den polnischen Farben rot und weiß.

Trainiert wird übrigens auf einem Platz, der einst einem deutschen Fußballclub in Lemberg gehörte. Bis 1939 Stalins Rote Armee die Stadt von Hitlers Wehrmacht übernahm und die erste große Aussiedlungswelle begann, die der Stadt ihren Charakter, ihre Vielsprachigkeit und einen Großteil ihrer Kultur nahm. Heute knüpft Pogon Lwow an die alte Kultur auf einem Fußballplatz an, der einer anderen Kultur einst zum Spielen diente. Dass dies wieder möglich ist, ist schon ein enormer Fortschritt. Dass Spielern, Trainern und Präsidenten dabei alles Nationalistische abgeht, ein noch größerer.

Schmiedeeiserne Balkone in Lemberg

Es sind die schmiedeeisernen Balkone, die mir in Lemberg als erstes auffallen. Egal aus welcher Epoche die Häuser sind, sie werden von Balkonen geziert. Sie verstecken sich nicht in den Hinterhöfen, sondern blicken stolz auf die Straße. Offensichtlich zeigte man sich hier früher gern, nahm vom Balkon aus am Leben in den Straßen teil. Wo sich in Deutschland die Bewohner der Häuser aus dem Barock, dem Klassizismus oder dem Jugendstil eher vom sicheren Erker einen Blick in die Öffentlichkeit trauten, trat der Lemberger nach außen.

Selbst an so manchem Plattenbau aus sozialistischen Tagen prangen Balkone. Sie sind dann meist aus billigerem Stahlrohr, teilweise auch aus Beton. Aber der dem Leben zugewandte Aufenthalt zwischen sicherer Wohnung und dem Leben draußen, den gibt es auch an diesen Häusern. Heute sehen sie an den Fassaden, die oft noch nicht saniert sind, schäbiger aus, als ihre schmiedeeisernen Vorbilder. Auch wenn diese dringend Anstrich, Entrostung oder vollkommene Restaurierung ebenfalls nötig hätten. Zwar sind die meisten Wohnungen in Privatbesitz, aber die Häuser nicht. Sie gehören der Stadt. Das ist Ergebnis der sowjetischen Politik. Die Wohnungen konnten die Bewohner billigst kaufen. Für die Außenhülle blieb aber die Kommune verantwortlich. Um die vielen schönen Fassaden zu sanieren, fehlt Lemberg aber das Geld. Und so beeindruckt die Pracht, die schon bessere Zeiten erlebte.

Um die vielen schönen Balkone sachgerecht erhalten zu können, wird allerdings Vorsorge getroffen. Jedes Jahr werden an der Kunstakademie in Lemberg mehr als ein halbes Dutzend Kunstschmiede ausgebildet. Sie können ihren Beitrag zur Erhaltung des außergewöhnlichen Erbes der Stadt leisten. Dass sie das tun, zeigen die vielen schon restaurierten Balkone, Gitter und Zäune. Aber die Arbeit wird ihnen in den nächsten 20 Jahren sicherlich noch nicht ausgehen.

Löwen in Lemberg

Als Danilo die von ihm gegründete Stadt nach seinem Sohn Leo benannte, muss es schon den ersten Löwen in Leopolis, Lemberg, Lvov oder Lwow gegeben haben. In allen Formen, aus allen Epochen finden sich Löwen in Lemberg. Ob als Wappen, Glasbild, Zierstuck über dem Fenster, Leuchtreklame oder als staatliche Marmorskulptur. Sie zieren die Stadt mal unauffällig, mal repräsentativ, mal fast schon selbstzufrieden.

Martin Pollack führt durch das untergegangene Galizien

Martin Pollack: Galizien
Martin Pollack: Galizien

Mit Reiseführern ist es ja meist so, dass man sie gerne hat, aber dann doch nicht so intensiv liest. Wer hat schon einen Baedecker oder Lonley Planet komplett gelesen? Wahrscheinlich niemand. Meist sind sie auch gar nicht darauf ausgelegt, weil sie viel zu viele Informationen enthalten, die es aktueller online gibt. Martin Pollacks „Galizien“ hat mit dieser Kategorie Reiseführer fast gar nichts zu tun. Er ist vielmehr ein Führer in die Vergangenheit eines untergegangenen Raumes.

Salka Viertels Erinnerungen an ihren Bruder, den Fußball-Star Zygmunt Steuermann

Zygmunt Steuermann in der Ausstellung des Instituts für angewandte Geschichte. Illustration Thomas Gronel
Zygmunt Steuermann in der Ausstellung des Instituts für angewandte Geschichte. Illustration Thomas Gronle

Das Institut für angewandte Geschichte in Frankfurt (Oder) erinnert in einem schönen Projekt an bedeutende Fußballer Osteuropas. Einer davon ist Zygmunt Steuermann, der von seiner Familie von klein auf Dusko genannt wurde. Seine Schwester Salka Viertel erinnert sich in ihrer Autobiografie „Das unbelehrbare Herz“ immer wieder an den Bruder – „wir waren vier Kinder – Zygmunt, genannt Dusko war der Jüngste“, der weder in die juristischen Fußstapfen des Vaters noch in die künstlerischen seiner Schwester und seines Bruders Edward treten wollte.

In ihren Erinnerungen schreibt Salka Viertel über den kleinen Bruder: „Dusko  (…) führte sein eigenes Leben. Er war immer irgendwo draußen und kommandierte die Bauernjungen, die die Kühe hüteten. Er ritt wie ein Zirkusakrobat, schwamm und spielte Tennis. Er war stark und schön und sah mit seinem kupferfarbenen Haar wie Jung-Siegfried aus. Meine Eltern hatte er völlig unterjocht. Papa kam nie nach Hause, ohne ihm ein Geschenk mitzubringen. Dusko war sich seiner Macht bewusst und nahm sich unglaubliche Freiheiten heraus.“ (Seite 37)

Mit zehn Jahren scheint die Erziehung des wilden Jungen fast gescheitert. Die Eltern und alle Erziehenden verzweifeln an ihm: „Man sprach davon, ihn in ein Pensionat zu stecken, da sämtliche Lehrer und Gouvernanten daran gescheitert waren, seinen entschlossenen Widerstand gegen jede Art von Erziehung zu brechen. Er war der wildeste Junge weit und breit; er spielte wunderbar Tennis und ritt zwei Ponys wie ein Zirkusartist, oft stand er nur mit einem Fuß auf dem Rücken des galoppierenden Tieres. (…) Wenn er schmutzig, übelriechend, das kupferfarbene Haar zerzaust, groß, schlank und schön, endlich zum Essen auftauchte, rügte Papa ihn mit unglaublicher Milde. (…)  Dusko behandelte uns »Künstler« mit Verachtung. Niemand von uns konnte ihn im Tennis schlagen, und von Fußball hatten wir keine Ahnung. Obwohl unsere Eltern Fußball als ein Spiel für Rowdys betrachteten und nur ein sehr begrenztes Verständnis für Sport im Allgemeinen aufbrachten, waren sie von den physischen Leistungen ihres jüngsten Sohnes merkwürdig beeindruckt.“

Aus heutiger Sicht ist dieser Aspekt sehr spannend. Wer regelmäßig Fußballspiele von Kinder- und Jugendmannschaften besucht, wer schon einmal bei einem DFB-Auswahl-Turnier war, der weiß, dass Eltern alles für die Entdeckung ihres Sprößlings tun. Anfang des 20. Jahrhunderts war Sport aber noch so anrüchig, dass Eltern wie die Steuermann alles dafür taten, die Talente Duskos nicht zu fördern, sondern möglichst zu brechen.

Schon 1914, im ersten Kriegsjahr des ersten Weltkrieges mussten die gesamte Familie Steuermann das Gutshaus in Sambor verlassen und nach Wien fliehen. In Galizien verlief die Front genau dort. Sambor wurde mehrfach von Russen und Österreichern erobert und zurück erobert. Salka schreibt über diese Zeit: „Dusko war ein ausgezeichneter Sportler und vernachlässigte dafür sein Studium, so dass Papa ihn schon in der Gosse enden sah, während mir seine ständigen Forderungen nach mehr Taschengeld Sorgen machten. Optimistisch wie immer sagte Mama, sie habe ein ernstes Gespräch mit ihm gehabt, und er habe ihr einige Spielschulden eingestanden, jedoch versprochen, sich zu bessern. Ein paar Tage später suchte Großmutter vergeblich nach ihrer Diamantbrosche. Ich versuchte an Duskos Vernunft zu appellieren und war schockiert von seinem Mangel an Gefühl und von seiner Rücksichtslosigkeit gegenüber meinen Eltern. Er sagte, in einem Jahr würde er bestimmt Soldat sein, und er werde vielleicht fallen. Deshalb wolle er sein Leben genießen, so lange er könne. Ich sah ihn an, wie er so dasaß: stark, störrisch, schön und voll unverhohlener Feindseligkeit gegen mich. »Ich verstehe nicht«, sagte er, »worüber man sich aufregt. Alles, was ich will, ist etwas mehr Geld! Sogar meine Lehrer loben meine sportlichen Fähigkeiten, nur zu Hause betrachtet man Fußball als Verbrechen.« Das stimmte. Einmal hatte ich beim Essen gesagt, Dusko könnte in Amerika Karriere machen, und man solle ihn dorthin schicken. Mein Vater sah mich empört an: »Aber er ist doch kein Verbrecher, dass man ihn nach Amerika schicken müsste!«“

Später meldete sich Dusko freiwillig an die Front. Er diente in einem Artillerieregiment der K.u.K.-Truppen in der Slowakei und später an der Westfront. Nach Ende des Krieges ging es in Osteuropa weiter. Dusko zog nun die polnische Uniform an, da Sambor nun polnisch war – und die Steuermanns damit die polnische Staatsbürgerschaft bekamen. Jetzt wurde gegen die Bolschewisten gekämpft, die große Teile der heutigen Ukraine besetzten, von den Polen aber verdrängt wurden. Als er die Uniform ausziehen konnte, widmete er sich ganz dem Sport: „Dusko war nach wie vor der begeisterte Sportler. Es war schon aufregend, ihn beim Fußballspielen zu sehen, wie er in kurzen Hosen, mit schimmerndem kupfergoldenem Haar, über das Spielfeld rannte. Die Mädchen von Sambor jubelten entzückt! Dusko! Alle himmelten ihn an, außer Papa. »Vom Fußballspielen kann man nicht leben!«“ (Seite 136).

In den 1920er-Jahren wird der Ruhm des Fußballers größer: „Dusko war selten daheim. Er war in bester Form und auf dem Gipfel seines Ruhms als Fußballer. Mit seiner Mannschaft fuhr er zu Spielen in alle möglichen Städte und Länder. Auf unserer Reise nach Sambor war ich mit einem älteren, gut genährten und außerordentlich wissbegierigen Herrn ins Gespräch gekommen. Als ich unser Reiseziel nannte, fragte er mich nach meinem Mädchennamen. Geradezu überwältigt rief er: »Steuermann! Sind Sie vielleicht zufällig mit dem berühmten Steuermann verwandt?« Ich war überzeugt, dass er Edward (der ein bekannter Musiker und Komponist aus der Schule Arnold Schönbergs war – A.O.) meinte, der nach dem Krieg als Pianist und Lehrer Ruhm erlangt und einige Monate zuvor mit riesigem Erfolg in Lemberg gespielt hatte. Der Mann erklärte mir, dass er nicht Edward, sondern Dusko Steuermann meinte, den großen Sportler und Fußballer. Ich erzählte meinem Vater von diesem Intermezzo, doch er ließ sich nicht davon überzeugen, dass man durch Fußballspielen berühmt werden kann.“ (Seite 161)

Salka Viertel lebte in Dresden, Düsseldorf und Berlin mit ihrem Mann, dem Schriftsteller und Regisseur Berthold Viertel. Schon anfangs der 30er-Jahre siedelte sie in die USA um, wo sie in Hollywood eine wichtige Drehbuchautorin wurde – und ihr Haus ein Zentrum des deutschen Exils. Sie schrieb für Greta Garbo und war eine der ganz wenigen, die von der Garbo akzeptiert wurden. Dabei vergaß sie nie ihre Familie: „In diesen Jahren beschwor ich meine Mutter immer wieder, nach Amerika zu kommen und mit uns zu leben. Sobald ich die amerikanische Staatsbürgerschaft erhalten hatte, wollte ich auch Zygmunt und Viktoria herüberkommen lassen. Aber meine Mutter lehnte ab: »Es ist in meinem Alter schwer, sich an eine völlig neue Umgebung zu gewöhnen. Ich würde sehr gern
zu Besuch kommen, aber für immer von hier fortzugehen und meine drei anderen Kinder nicht mehr sehen zu können, alles zu verlassen, auch die GrabsteIle neben Papa, die mir die Stadt geschenkt hat – nein, das ist undenkbar für mich. » Wenn nur Zygmunt – das ewige Sorgenkind – eine Stellung gefunden hätte. Er hatte eine Möglichkeit, nach Palästina zu gehen, war aber nicht sehr begeistert von diesem Gedanken.“ (Seite 262)

Als sie die amerikanische Staatsbürgerschaft annimmt, denkt sie an die Familie: „Trotz meinem Widerwillen gegen Fahnenschwenken und patriotische Demonstrationen stand ich mit Tränen in den Augen da und leistete gemeinsam mit dreihundert weiteren neuen Amerikanern den Treueid, demütig und dankbar, denn von nun an waren meine Söhne freie Menschen, jetzt konnte ich meine Mutter und Dusko aus dem faschistischen Teil Europas herausholen.“ (297)

1939 reist Salka Viertel nach Paris, auch um endlich Mutter und Geschwister wiederzusehen. Doch die Politik macht einen Strich durch die Pläne: „Da Zygmunt mich drängte, nach Polen zu kommen, weil er mich seit Jahren nicht gesehen hatte, kamen wir überein, uns alle drei in Warschau zu treffen. Ich wollte am 23. August fliegen. Als ich am 21. August aus der Bretagne zurückkam, berichteten die Pariser Zeitungen von dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt. Der Hotelportier sagte mir, ich könne nur nach Kopenhagen fliegen und zusehen, wie ich von dort aus weiterkäme. Er riet, die Reise zu verschieben, da kaum Aussicht auf einen Rückflug bestünde.  Während wir noch sprachen, brachte man mir ein Telegramm von Gottfried, in dem er mich eindringlich bat, nicht mehr nach Polen zu reisen; er und alle anderen seien von der Unvermeidlichkeit eines Krieges überzeugt. Auch Mr. Lawrence vom Pariser Büro der MGM riet mir auf telegrafische Weisung von Bernie Hyman dringlich von der Reise nach Polen ab. Traurig schickte ich meiner Mutter ein langes Telegramm. Sie antwortete, sie und Zygmunt hätten gerade nach Warschau fahren wollen, und ihre Enttäuschung sei groß gewesen. Sie glaubte, die politischen Spannungen würden sich wieder legen. Sie hielt es für ein gutes Zeichen, dass Zygmunt, der Reservist war, noch keine Einberufung bekommen hatte. Sie hoffte, mich in den Vereinigten Staaten zu besuchen, sobald sie ihr Visum bekäme.“

1941 leben Mutter und Sohn in Moskau – von den Überweisungen der Tochter und Schwester aus Hollywood. Von dort gelingt es Salka die Mutter in die USA zu holen. Dusko hatte sich nach er sowjetischen Besatzung dazu entschieden, die polnische Staatsbürgerschaft anzulegen und Bürger der UdSSR zu werden. Das hatte verhindert, dass er schnell deportiert wurde. Aber nach dem Angriff Hitlers auf Russland nützt ihm das nichts mehr. Zygmunt Steuermann stirbt in einem KZ.

Die Schwestern Ruzia und Salka sprechen oft darüber: „Wenn Ruzia und ich allein waren, sprachen wir über Zygmunt. Wir konnten nicht begreifen, warum er nicht nach Russland geflohen war. »Ich wage mir gar nicht vorzustellen, was Mama mitgemacht hätte, wenn sie in Sambor geblieben wäre«, sagte Ruzia.“

Hier noch ein Film des rbb-Magazins Theodor über das Projekt…

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Florian Klenk entdeckt das Ende der Welt mitten in Europa

Florian Klenks Buch mit Reportagen
Florian Klenks Buch mit Reportagen

Das Ende der Welt entdeckt Florian Klenk nicht irgendwo in Feuerland oder der Südsee. Der Journalist aus Österreich findet es in seinem Heimatland – und den angrenzenden Ländern der ehemaligen österreichischen Kronlande. Klenk ist stellvertretender Chefredakteur des Wiener „Falter“. Für ihn hat er die Reportagen geschrieben, die in dem Band „Früher war hier das Ende der Welt“ erschienen sind.

Dabei meint dieses „Ende“ in den wenigsten Fällen einen geographischen Ort. Vielmehr schreibt Klenk über diejenigen, die sozial am Ende der Wahrnehmung leben. Etwa die Wiener Huren, die von der Stadtverwaltung und dem Innenministerium immer weiter aus dem Sichtfeld der Stadt gedrängt werden. Das führt natürlich nicht dazu, dass weniger Freier zu ihnen kommen. Aber das Abdrängen macht die Frauen von Zuhältern abhängig, es kriminalisiert sie und es kann dazu führen, dass die schutzlosen Frauen viel leichter Opfer von Gewalt werden. Damit sind sie am Ende der Welt, mitten in Wien angekommen.

Anders ist es bei Klenks Besuch eines ukrainischen Flüchtlingslagers, in dem Menschen aus Pakistan, der Türkei und andern Ländern stranden, die den Sprung in den EU-Schengenraum nicht schaffen. Dort leben sie zwischen der Slowakei, Ungarn und der Ukraine und harren in schlimmsten Zuständen aus, weil sich niemand für die zuständig fühlt. Und weil sie hoffen, dass sie ihrem Elend mit einem – illegalen – Sprung über die Grenze doch noch entkommen können. Hier, wo früher schon keine K.u.K-Herrlichkeit, sondern Elend war.

Florian Klenk rückt mit seinen Reportagen Menschen in den Blick, an die wir in der regel nicht denken. Und auch nicht denken wollen, weil wir uns dieses Elend weder vorstellen wollen noch können. Das macht er sehr anschaulich, vor allem auch deshalb, weil es sich selbst nie in den Blick rückt. Klenk überlässt es dem Leser, ein Bild zu entwerfen und die entsprechenden Schlüsse zu ziehen.

Stasi-Akten verunsichern ganz Osteuropa

Sieben ost- und mitteleuropäische Staaten haben sich zum „Europäischen Netzwerk der für die Geheimpolizei zuständigen Behörden“ zusammengeschlossen. In den ehemaligen Ostblock-Staaten wird sehr unterschiedlich mit den Akten der kommunistischen Diktaturen umgegangen.

Es hat fast 20 Jahre gedauert, bis sich die staatlichen Stellen zur Aufarbeitung der Stasiakten in einem Netzwerk organisierten. Erst im Dezember 2008 schlossen sie sich zusammen. Die ehemaligen Staatsparteien, in deren Auftrag die Geheimpolizeien die Bevölkerung bespitzelten, waren schneller. In vielen Ländern bestimmten ihre Nachfolger die Debatte um den Umgang mit den Akten. Am nachhaltigsten verhinderten sie in Bulgarien und der Ukraine die Archiv-Öffnung. Kein Wunder, wie der bulgarische Journalist Hristo Hristov findet: „Selbst unser aktueller Präsident war Mitarbeiter des Geheimdienstes.“ Sein ukrainischer Kollege Juri Durkot kommt zu einem ähnlichen Ergebnis: „Erst nach der Orangenen Revolution 2004 hat man angefangen, Akten zugänglich zu machen.“ Wobei sich das „Institut für das nationale Gedenken“ vor allem mit Themen befasst, die lange zurückliegen, etwa der großen Hungersnot 1932/33. Einem Thema, das der Abgrenzung zu Moskau dient. Der Unterdrückung von Dissidenten nähert sich das Institut dagegen erst langsam – mit fraglichem Ausgang. Juri Durkot: „Bis zur Trennung 1991 sind viele Akten nach Russland gegangen.“

Solche Probleme kennen alle Behörden. Vor allem der Versuch, die Akten politisch zu instrumentalisieren ärgert sie und auch die Bürger. Die polnische Journalistin Patrycja Bukalska zeigt die Auswirkungen: „In Polen hat sich der Anteil der Gegner der Aktenöffnung von 2007 bis 2009 auf 40 Prozent verdoppelt.“ Die Akten gälten nur noch als Mittel im politischen Kampf, nicht als Teil der Aufarbeitung.

Doch genau dazu wurden sie Wissenschaftlern, Journalisten und Opfern zugänglich gemacht. Ungarn war 1991 der erste Staat des ehemaligen Warschauer Paktes, der ein Lustrationsgesetz erlassen hatte. Lustration war im alten Rom die feierliche Befreiung von Sünden. Die postkommunistischen Staaten nannten jene Gesetze so, die es ermöglichten, sich von Geheimpolizei-Mitarbeitern dank der Akten zu befreien – also von den Sündern der Vergangenheit. Ludek Navara von der tscheschichen Zeitung „Mladá Fronta DNES“ findet das nach wie vor richtig. 20 Jahre nach dem Ende der Diktatur interessiert ihn: „Wer wurde gezwungen und wer arbeitete aus Überzeugung mit der Staatssicherheit zusammen?“

Die Frage nach der Motivation und der Wirkungsweise der Unterdrückung bewegt alle nationalen Institute. Axel Janowitz, Referent für Bildungsarbeit der Birthler-Behörde mahnt: „Wir verlieren 2,3 Millionen SED-Mitglieder aus dem Blick. Und damit die Verantwortung der SED.“ Die Konzentration auf die Stasi, den „Schäferhund der SED“, gefährde die Aufarbeitung. Das sieht auch Dragos Petrescu vom „Nationalrat für das Studium der Securitate-Archive“ in Rumänien so. Dabei hat er die Jugend im Blick, für die die Diktatur Geschichte ist. Petrescu: „Wir müssen der Jugend sagen, dass auch der verantwortlich ist, der mitgemacht hat, ohne für die Securitate gearbeitet zu haben.“

Dieser Ansatz bei der Aufarbeitung wird oft als politische Instrumentalisierung verstanden, da sie zwangsläufig heute aktive Politiker und andere öffentliche Personen mit der Vergangenheit konfrontiert.

Eigentlich wollen die Behörden die europäische Dimension der Diktaturen beleuchten. Und wie kulturelle Fragen der einzelnen Nationen das Funktionieren der Diktatur bestimmt haben. Etwa, weshalb die Stasi in ihren Berichten von „häufig wechselndem Geschlechtsverkehr“ schreibt, der ungarische Geheimdienst aber von einem „aktiven Liebhaber“. Doch noch sind die Behörden nicht so weit. Das gilt auch für die Frage, nach dem Zusammenspiel von KGB und den einzelnen Geheimpolizeien.

Marianne Birthler, Chefin der deutschen Stasi-Behörde, will zudem, dass ein weiterer Aspekt nicht vergessen wird: „Wir finden in den Akten auch viele Menschen, die sich dem System widersetzt haben. Menschen, die einfach anständig geblieben sind.“

Shtetl Superstars – das klingt nach Culcha Candela

Stehtl Superstars
Stehtl Superstars

Mit Russendisko wurde Yuriy Gurzhy bekannt. Er ist der musikalische Kopf hinter Wladimir Kaminers Berliner Tanzprojekt im Café Burger. Zusammen mit Lemez Lovas,
einem Londoner Musiker und DJ hat Gurzhy einen wunderbaren Sampler kompiliert: „Shtetl Superstars – Funky Jewish Sounds from around the World“.

Gurzhy und Lovas stammen aus der Ukraine. Hier haben sie auch die Reste einer jüdischen Musikkultur kennengelernt, die inzwischen über die gesamte Welt verbreitet ist. Die beiden haben danach gesucht, was aus dieser alten Musik in Funk, Ragga oder Rock zu finden ist. Das klingt dann nicht nach Klezmer. Das klingt vor allem nach richtig guter aktueller Musik, die mehr mit Culcha Candela zu tun hat als mit Giora Feidman.

Der musikalische Kosmos ist universell, auch wenn er sich auf traditionelle Wurzeln   bezieht. Für westliche Ohren gibt es noch viel zu entdecken. Gurzhy weiß das aus der Russendisko und Lovas aus seinem Projekt Radio Gagarin, das eine englische Hommage an das deutsche Projekt ist. Wie immer bei Trikont-Samplern ist auch diese CD mit einem super Booklet ausgestattet. Das ist informativ und macht Spaß auf viel mehr Shtetl.