Karl-Ludwig von Klitzing schreibt spannende Erinnerungen mit „Atemlos“

Karl-Ludwig von Klitzing: AtemlosDer Mauerfall und die friedliche Revolution in der DDR jähren sich in diesem Jahr zum 25. Mal. Einer der Akteure in Frankfurt (Oder) war Karl-Ludwig von Klitzing. Schon am 1. November 1989, also acht Tage vor dem Mauerfall, forderte er vor 35.000 Demonstranten auf dem Frankfurter Brunnenplatz: „Wir brauchen eine vollkommene Demokratisierung, Reisefreiheit, Rede- und Pressefreiheit.“ Von Klitzing war Arzt und hat jetzt ein Erinnerungsbuch geschrieben.

Birk Meinhardt lässt die „Brüder und Schwestern“ in der DDR aufleben

20130818-203501.jpg Wenn ein Autor 700 Seiten für einen Roman benötigt, grenzt das oft an Zumutung. Schließlich erwartet der Autor, dass die Leser viel Zeit mit ihnen und ihrem Werk verbringen. Ich zögere bei dicken Büchern häufig, bis ich beginne zu lesen. Bei Birk Meinhardts „Brüder und Schwestern“ habe ich keine Minute des Lesens bedauert, nur mein Zögern, das sich über einige Wochen hinzog.

Meinhardt schreibt eine Familiengeschichte aus der DDR. Willy ist der Sohn eines aufrechten Sozialdemokraten, der sich trotz innerer Widerstände zum Zusammenschluss mit den Kommunisten zur SED bereiterklärte. Willy steigt zum Druckereileiter auf, ist in der Partei, aber doch immer ein wenig auf Distanz zu ihr. Sein Sohn Erik studiert Außenhandel und arrangiert sich mit den Umständen. Anders als Tochter Britta und Sohn Matti. Sie geht zum Zirkus, um sich den Zwängen des Staates zu entziehen, er wird Binnenschiffer, nachdem er von der Schule relegiert wurde.

Die familiäre Loyalität wird auf die Probe gestellt, als infolge der Biermann-Ausbürgerung dienZahlen in der Schule angezogen werden. Erik verleugnet seinen Bruder Matti, um sein Studium nicht zu gefährden. Vater Willy ist hin- und hergerissen, fürchtet die Folgen von Mattis Konsequenz, bewundert sie aber auch. Und Britta entflieht allem, ohne die familiäre Loyalität zu verleugnen.

Birk Meinhardt formt aus all diesen Zutaten – und noch vielen anderen – eine aufrechte und spannende Geschichte. Dabei liegt die Sympathie des Autors aus Eichwalde eindeutig bei Matti und Britta. Aber das hat nicht zur Folge, dass er die anderen, die sich den Zwängen des Systems nicht entziehen oder auch nur wollen, denunzieren würde. Auch deren Beweggründe sind transparent und klar. So wie wie die teils schrecklichen Geheimnisse in der Familie, die eruptiv an die Oberfläche des Lebens gespült werden.

Das Leben in der DDR beschreibt der Ostdeutsche plastisch, humorvoll und nie bitter. Da, wo die Diktatur erbarmungslos zuschlägt, rückt Meinhardt eher das Groteske in den Blick. Und vermeidet so Verbitterung. Dadurch kann der Stoff, die Geschichte seine Kraft entfalten und den Leser fesseln. So sehr, dass jede der 700 Seiten unbedingt gelesen werden muss. Der Sog der Verästelungen ist faszinierend. Etwa wenn die Willy über Kontakte zu einem Verlag im Westen dafür sorgt, dass Mattis Roman, den er in der Ruhe und Einsamkeit des Schipperns über die ostdeutschen Wasserstraßen schreiben könnte, in der Bundesrepublik gedruckt wird. Mit allen Verwicklungen, die daraus emotional und politisch entstehen. 1989 dann, ist das Buch fertig. Da stehen als letztes die Worte: „wird fortgesetzt“. Als Verheißung. Und nicht als Drohung.

Matthias Platzeck: „Ich wollte aus meiner DDR etwas machen“

Matthias Platzeck hat gestern seinen Rücktritt als Ministerpräsident erklärt. Im Mai 2009 konnte ich ein längeres Interview mit ihm führen. Der Anlass: ein Rückblick auf die Ereignisse 20 Jahre zuvor, als die Bürgerbewegung in Potsdam und in vielen anderen Städten und Orten in der DDR widerständig wurde.

Die friedliche Revolution des Jahres 1989 hat Deutschland, die Öffnung des Eisernen Vorhangs die Welt verändert. Im Interview erinnert sich der brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) an die bewegten Zeiten vor 20 Jahren – und erklärt, warum mancher Traum von damals nur ein Traum geblieben ist.

Herr Platzeck, wie war heute vor 20 Jahren Ihre persönliche Perspektive?

Das war eine sehr bewegte Zeit. Die Phase bis zum 4. Juni war mit viel Hoffnung verbunden, weil sich überall was tat. Ich war Anfang Mai in Ungarn. Dorthin bin ich immer wieder zu Freunden geflüchtet, wenn es mir in Potsdam zu dicke wurde. Als ich dort war, verkündete Ungarns Regierung, dass der Schießbefehl an der Grenze abgeschafft wird. Das war so ein Punkt Hoffnung, auch wenn das Land unsere Leute bei der Entdeckung des Fluchtversuches noch an die DDR auslieferte. Auch der 1. Mai war für mich im positiven Sinne ein innerer Vorbeimarsch. Mein ungarischer Freund wollte mit mir zur Demonstration.

Zur jährlichen Mai-Demonstration?

Ich sagte: Ich bin doch extra hier, um da nicht hinzumüssen. Doch er bestand darauf. Wir sind zuerst zu den Kommunisten und haben uns den üblichen Aufmarsch angeschaut. Dann sind wir zu den Grünen, die eine völlig freie Kundgebung machten. Das war für einen DDR-Bürger wie mich nicht vorstellbar. Und dann sind wir auch noch zu den Sozialdemokraten, haben Peter Glotz getroffen, der in Budapest als SPD-Generalsekretär auftrat. Das muss man sich mal vorstellen. In Ungarn `89! Die Polizei stand dazwischen. Aber nicht wie bei uns, um irgendetwas zu unterbinden. Die Polizei regelte nur den Verkehr und sicherte die Umzüge.

Das ist heute schwer vorstellbar, wie außergewöhnlich das für Sie gewesen sein muss.

Wir sind völlig beschwingt zurück nach Potsdam.

Beschwingt? Oder nicht doch voller Angst, weil es in der DDR noch kein Zeichen für eine solche Öffnung gab?

Nein, beschwingt. Es tat sich doch noch mehr. In Polen tagte der Runde Tisch. Ich erinnere mich noch an die kleine Meldung in der Märkischen Volksstimme, in der ganz verschämt am Ende stand, dass nicht nur die PVAP, sondern auch Vertreter von Solidarnosc am Tisch sitzen. Wir von Argus hatten im April nach Potsdam uns bekannte Umweltgruppen aus der DDR eingeladen. Aus 23 Städten kamen Gleichgesinnte, die wir privat unterbrachten und verpflegten. Wir gründeten das erste Mal nichtkirchliche landesweite Verbünde jenseits des legalen Apparats. Ich baute mir dann ein Informationsnetzwerk auf. Das war für uns ein Quantensprung. Das erste Mal haben wir gesehen, dass wir nicht nur in Potsdam Probleme hatten und dagegen versuchten vorzugehen. Was Mut machte, war zu sehen, dass es in anderen Städten Gleichgesinnte mit ähnlichen Zielen gab.

Wie groß war die Angst, dass der Staat, dass die Partei oder die Stasi diese Entwicklung unterdrückt?

Wir hatten keine Angst. Erst später habe ich in den Akten gelesen, dass schon diese Veranstaltung beobachtet wurde. Da stand die Formel: „Feindlich negative Kräfte haben sich am Heiligen See getroffen.“ So haben wir uns selbst gar nicht gesehen. Wir wollten ja nichts zerstören. Wir wollten diese DDR ein Stück offener gestalten, ein Stück besser machen. Wir wollten in dieser DDR zu Hause sein. An Westdeutschland hat von uns damals kaum jemand gedacht. Die meisten von uns gehörten zu den Hier-Bleibern. Es gab zwar auch unter uns spätere Botschaftsbesetzer und Ausreisewillige, aber wie gesagt die meisten wollten nicht weg.

Die Frage nach der Ausreise hat sich Ihnen nie gestellt? Sie waren in Budapest und hätten es doch wagen können.

Einmal hat sie sich mir gestellt. Ich war auch am 10. September in Ungarn. Da schauten wir um 20 Uhr Nachrichten, und mein Freund begann zu übersetzen, was Gyula Horn, der ungarische Außenminister, sagte. Wir glaubten zuerst an einen Übersetzungsfehler, aber er verkündete wirklich, dass ab sofort jeder DDR-Bürger mit seinem Personalausweis von Ungarn nach Österreich reisen kann. Einfach so. Mein Freund sagte zu mir, komm doch morgen mit nach Wien. Doch ich wollte zurück. Tausende nutzten noch in der Nacht die offene Grenze. Auf meinem eigentlich ausgebuchten Rückflug blieben fast alle Plätze leer.

Sie hatten nie den Drang, auf die andere Seite der Mauer zu schauen? Immerhin lag Potsdam ja direkt an der Westberliner Grenze.

Na klar wollte ich die Welt sehen, aber nie rüberziehen. Für mich war Westdeutschland nicht das Ziel meiner Wünsche. Es war mir fremd. Mein Land war die DDR. Ich bin hier groß geworden, war nie irgendwo im Westen. Ich wollte zusammen mit anderen aus diesem, meinem Land DDR etwas machen.

Was hat Sie an der DDR am meisten gestört?

Vieles. Aber ich hole mal etwas aus. Ich stamme aus einem christlichen Elternhaus. Mein Großvater war Pfarrer, mein Vater Arzt am katholischen Krankenhaus. Er war sehr sozialdemokratisch und gegen die DDR eingestellt. Bei mir hat sich daraus – wie das ja oft so ist – ein Gegenimpuls entwickelt. Ich war zu Hause der Rote, ein überzeugter Sozialist.

Und wann wurde aus dem Roten ein Dissident? Wann begruben Sie Ihre Staatstreue?

In den 70er-Jahren hat die sich in einem schleichenden Prozess aufgelöst. Die Biermann-Ausbürgerung spielte dabei eine große Rolle. Der Endpunkt war für mich erreicht, als das sogenannte Bruderland in Afghanistan einmarschierte. In den 80er-Jahren diskutierten wir in der Küche bei schlechtem Rotwein mit Freunden immer wieder Fragen wie: Welche Zukunft haben wir und unsere Kinder? Dabei differenzierten sich Hier-Bleiber und Antragssteller aus. Die einen wollten oder konnten nicht mehr, hatten mit der DDR Schluss gemacht. Wir anderen sagten uns immer: Was werden uns unsere Kinder später einmal fragen? Und was antworten wir auf die Frage: Was habt Ihr damals eigentlich gemacht? Wir selbst hatten unseren Eltern diese Frage im Bezug auf die 30er- und 40er-Jahre ja auch gestellt.

Das klingt sehr theoretisch. Störte sie nicht das praktische Leben in der DDR?

Weniger. Ich habe ein fröhliches Wesen und lasse mich von welchen Umständen auch immer nicht so beeindrucken. Aber anderes hat mich gestört: Ich arbeitete im Umweltschutz und habe gesehen, was los war. Luft, Wasser und Boden waren dramatisch belastet. Wir hatten uns in der DDR schon daran gewöhnt, dass auf Flüssen Schaumkronen schwammen. Viele dachten schon, das gehört dazu. Hinzu kamen viele Kollegen aus den Betrieben, die sagten: Das geht nur noch ein paar Jahre gut. Einen weiteren wichtigen Impuls lieferte der schleichende Verfall unserer Altbausubstanz. Wir Potsdamer erlebten, dass die Innenstadt leer gezogen wurde. Wir wussten damals zwar noch nicht warum, aber später haben wir erfahren, dass sie die komplette, barocke Innenstadt abreißen und mit Plattenbauten ersetzen wollten. Im Sommer 1989 haben sie damit begonnen.

Das war in Cottbus ähnlich, mit dem Wendischen Viertel hatte die Partei schon begonnen.

Ja, das war überall so. Für uns in Potsdam war das 1986/87 auch ein Punkt, weshalb wir uns organisierten. Wir wussten zwar nicht wie, aber Ende 1987 gründeten wir dann eine erste Bürgerinitiative, die sich um den Erhalt des Pfingstberges kümmerte. Wir waren 20 bis 25 Gleichgesinnte.

Angesichts der Probleme, die ja nicht nur Sie wahrnahmen, waren das aber sehr wenige.

So war’s halt. Wir waren Ende 20, Anfang 30, also in dem Alter, indem man anfängt, gründlicher über das Leben nachzudenken. Die Kinder waren aus dem Gröbsten raus, jetzt stellte sich die Frage: „Was mache ich mit meinem Leben?“ Wir waren außerdem nicht in die Parteistrukturen eingebunden, waren also für DDR-Verhältnisse relativ freie junge Leute. Im Frühjahr 1988 hat ein Teil dieser Initiative gesagt, dass er es politischer will. Daraus entstand dann im April ’88 die Arbeitsgemeinschaft Umweltschutz und Stadtgestaltung, kurz Argus, die sich nicht mehr nur um ein Projekt kümmerte. Für die Staatssicherheit war dies das Signal, uns zu beobachten.

Dennoch waren Sie im Mai 1989 nur positiv gestimmt?

Ja. Durch unsere schon erwähnte Tagung der DDR-Umweltinitiativen am Heiligen See im April hatte ich viel Mut gewonnen. Wir merkten, dass die Leute überall ähnlich tickten. Außerdem waren wir in der Vorbereitung des Pfingstbergfestes, des ersten großen alternativen Kulturfestes, zu dem dann am 10. Juni mehr als 3000 Leute kamen – aus der ganzen DDR. Allein 20 Theater- und Musikgruppen reisten an und spielten kostenlos, als sie hörten, um was es geht. Auf dem Pfingstberg war eine Stimmung, wie ich sie in der DDR bis dahin noch nicht erlebt hatte.

Das hat die Stasi zugelassen?

Die Staatssicherheit saß nachts noch zusammen und schrieb in einem Bericht: „Leider war es für die Organisatoren ein Erfolg.“ Obwohl sie das Fest hintertrieben hatte. Wir durften davor keine Plakate kleben. Aber wir haben viele Ladenbesitzer gefunden, die die Plakate ins Schaufenster hingen. So war die Stimmung schon. Für die Leute wurde das Fest dadurch noch interessanter. Jedem war klar, dass es keine staatliche Veranstaltung sein würde. Die Auflagen der Stadt, Versorgungssicherheit zu gewährleisten, garantierten wir über den sowjetischen Stadtkommandanten. Dem sagten wir, dass wir keine Küche und so weiter haben. Er antwortete: „Ich helfe Euch.“

Der sowjetische Stadtkommandant hintertrieb die Auflagen der SED?

Er war ein Gorbatschow-Mann, den wir schon kannten. Er wusste, um was es ging und hat uns dann eine Gulaschkanone mit Soldaten gestellt. Das wiederum hat die SED-Leute in der Bezirks- und der Stadtverwaltung völlig nervös gemacht. Denn noch immer war es sakrosankt, den sowjetischen Stadtkommandanten zu kritisieren.

Aber die SED verweigerte diese vorgelebte Kooperation dennoch?

Ja. Die Staatssicherheit zog sogar die Zügel noch einmal an.

Doch die Initiative war gestärkt?

Ja, obwohl es im Sommer nochmal eine Phase der Unsicherheit gab. Das hing auch mit den Ereignissen in Peking von Juni zusammen. Einige Freunde nutzten in der Zeit auch Chancen zur Ausreise. Ab September ging es dann aber Schlag auf Schlag. Ich war wieder, wie gesagt, in Ungarn. Am 11. oder 12. kehrte ich zurück. Am 13. hat sich das Neue Forum gegründet, am 16./17. September haben wir für dessen Zulassung Unterschriften gesammelt und schon am 4. Oktober die erste Protestveranstaltung auf dem Weberplatz in Babelsberg gemacht. Das war noch vor dem 40. Jahrestag der DDR und noch vor den Großdemonstrationen in Leipzig und Berlin. Wir hatten mit 300 Teilnehmern in einer Kirche gerechnet. Aber der Weberplatz war voller Menschen. Die Bereitschaftspolizei, die sich im nahen Karl-Liebknecht-Stadion vorbereitete, wurde richtig heiß gemacht. Aber auch sie rechnete maximal mit 400 bis 600 Leuten. Als es dann einige Tausend waren, traute sie sich nicht mehr herüber. Abends saßen wir dann im Pfarrhaus und haben Spendengeld gezählt.

Für was haben Sie gesammelt?

Wir sammelten für Inhaftierte. In den Spendenbüchsen waren fast nur Scheine. Schon daran sieht man, wie die Leute drauf waren. Der Pfarrer meinte scherzhaft, das sei in etwa die Kollekte der letzten zehn Jahre, die da an diesem Abend zusammengekommen war.

Die Spender wussten, dass für politische Gefangene in der DDR gesammelt wird?

Ja, das haben wir allen klipp und klar gesagt. Es war ja eine Veranstaltung, auf der sich das Neue Forum öffentlich vorstellte. Von diesem Tag an ahnten wir, das Rad lässt sich nicht mehr zurückdrehen. Ich werde nie vergessen, wie ich mich mit dem Inhaber einer privaten Autowerkstatt unterhielt. Dem ging es eigentlich gut. Ich fragte ihn, was er hier mache. Wenn er gesehen würde, bekäme er vielleicht Ärger. Er setze seine Existenz aufs Spiel. Aber er sagte, das sei ihm egal. Er wolle jetzt nicht mehr zurückschauen, sondern nur noch nach vorn. Überall war der Wille zur Veränderung zu spüren.

Ihnen ging es aber nach wie vor um eine reformierte DDR.

Am 7. Oktober hatten wir wieder Vertreter der Umweltgruppen aus den 23 Städten zu Gast, die schon im April da waren. Nachts verabschiedeten wir eine Willenserklärung, in der wir schrieben, dass wir in einer solchen Atmosphäre nicht mehr leben wollten. Dabei ging es uns nicht um die Einheit Deutschlands. Es ging tatsächlich um eine bessere DDR. Bis auf eine Stadt haben alle die Erklärung unterschrieben. Dann kam die Demo am 9. Oktober in Leipzig. Und da war uns klar: Wir sind durch! Wir konnten uns nicht mehr vorstellen, dass sich das Blatt noch einmal wenden könnte. Wir wussten zwar nicht, wie es werden würde. Aber dass es anders als zuvor sein wird, war nach der großen Demonstration in Leipzig klar.

Wie konnten Sie sich die ganze Zeit motivieren? Immerhin sind aus Ihrer Generation auch sehr viele gegangen. Die meisten Flüchtlinge waren zwischen 20 und 35, also aus der Generation, die zum Aufbau eines anderen Staates dringend benötigt wird.

Zum einen sind ja auch viele geblieben. Und zum anderen war das für mich keine Frage. Der Osten war spannend. Er war aufregend.

Wenn man für politische Gefangene sammelt, muss man doch selbst damit rechnen, von der Stasi verhaftet zu werden.

Später haben wir erfahren, dass schon unsere Bettnummern für das Internierungslager verteilt waren. Die DDR war ein ordentliches Land. Da war alles schon sortiert.

Wie gingen Sie als Familienvater von drei Kindern mit der Angst davor um?

Einmal ist mir richtig mulmig geworden. Das war auch im Mai, als wir Eingaben gegen die Ergebnisse der Kommunalwahlen machten. Da kamen eines Tages zwei Offiziere der Staatssicherheit. Der eine davon hatte riesige Pranken. Auf die musste man immer schauen, wenn er sie auf den Tisch legte. Die machten Sprüche wie: „Jetzt ist unsere Geduld mit Ihnen endgültig vorbei.“ Sie verlangten, dass ich in einer Kirche öffentlich Abbitte leisten sollte. Sie meinten, dass einige Leute auf mich hörten. Und deshalb sollten ich und einige andere erklären, dass die Wahl in Ordnung gewesen sei. Zusätzlich bauten sie Druck über die Kinder auf. Meine geschiedene Frau war stark in der kirchlichen Opposition engagiert und deshalb auch im staatlichen Sinne „nicht zuverlässig“. Aus diesem Grund sei es doch besser, die Kinder kämen in ein Heim. Da würden die drei Mädchen dann wenigstens gut erzogen, drohten die Stasileute. Dass ich keine Abbitte leisten würde, stand für mich fest, aber ins Grübeln bin ich schon gekommen. Abends traf ich mich dann mit Freunden. Dabei einigten wir uns darauf, ringsrum zu erzählen, dass die Stasi da war und was sie wollte.

Sie haben also den heimlichen Druck öffentlich gemacht.

Und das hat gewirkt. Welchen Sinn hätte es noch gehabt, wenn ich mich auf die Kanzel gestellt hätte? Alle hätten ja gewusst: Die arme Sau macht das nur, weil sie ihm sonst die Kinder wegnehmen. Diese Art der Dekonspiration half immer am besten. Das ist bei allen Geheimdiensten so. Sobald etwas öffentlich ist, sind ihnen die Hände gebunden.

Für Kinder und Jugendliche, die die DDR nicht erlebten, ist so etwas kaum mehr vorstellbar. Wie haben Sie sich eine andere DDR vorgestellt?

Da ging es vor allem um Freiheit und Selbstbestimmung. In unseren Debatten spielten auch unabhängige Gerichte eine große Rolle. Es gab ja in der DDR keine Möglichkeit, eine Verwaltungsentscheidung anzufechten. Obwohl auf der ganzen Welt Menschen mit Verwaltungsentscheidungen unzufrieden sind. In der DDR konnte man sich nur mit einer Eingabe an Erich Honecker wenden. Ob man damit Erfolg hatte, hing vom Gutdünken ab. Aber es gab keinen Rechtsweg. Eine zweite Frage war die Möglichkeit in alle Welt zu reisen. Das Gefühl, es zu können, war wichtig. Ich selbst habe nach dem Fall der Mauer Wochen gebraucht, um das erste Mal etwas im Westen richtig anzuschauen. Die Zeit war viel zu spannend. Aber das Gefühl, nicht eingesperrt zu sein, sondern jederzeit losfahren zu können, war ganz wichtig. Und dann natürlich andere Zeitungen. Ich war schon damals ein Zeitungsmensch, habe selbst in der DDR mehrere Zeitungen gelesen, obwohl da nicht viel Unterschiedliches drinstand. Lesen bestand nur aus Zwischen-den-Zeilen-lesen. Das alles zusammen vermittelte ein bedrückendes Gefühl: Wir verleben die Substanz, und es wird immer enger – auch geistig.

Diese Bilanz ist tatsächlich sehr deprimierend.

Ja. Als Summe blieb, dass wir für diese DDR keine Perspektive mehr sahen. Soll es noch grauer, noch enger werden? Angst vor Hunger hatten wir keine. Aber es war außerhalb von Familie und Freunden nichts Lebendiges, nichts Kreatives mehr zu spüren. Ich glaube auch nicht, dass der Kapitalismus der Weisheit letzter Schluss ist, aber ich will eine Gesellschaft, die nach vorne offen ist. Ich will, dass ich mich einbringen kann. Und wenn ich das tue, will ich eine Chance, es zu ändern. Genau das war nicht mehr möglich. Christa Wolf hat 1982 geschrieben: „Über alles und alle legt sich Mehltau, Resignation breitet sich aus.“ Genau das war das Gefühl. Ich erwarte nicht, in einem Land zu leben, das ideal ist – das gibt es nicht. Aber ich will in einem offenen Land leben, in dem man die Chance hat, etwas zu machen.

Hat Sie die SED noch interessiert? War sie noch ein potenzieller Partner, oder hatten Sie die SED schon völlig abgeschrieben?

Als Partner haben wir sie 1989 nicht mehr gesehen. Manches war richtig skurril: Da hat das neue Politbüro im November getagt und gesagt, es wolle nun in die Offensive kommen. Solche Sprüche waren so weit weg vom Volk. Das hat keinen mehr interessiert. Aber die Partei machte noch immer ihre mechanischen oder mechanistischen Dinge. Für uns spielte die SED keine Rolle mehr.

Ein ganz zentraler Auslöser für die friedliche Revolution, waren die Kommunalwahlen. Erstmals gingen Bürger hin und zweifelten die SED massiv an. Hatten Sie Bedenken wegen des Protestes gegen die Kommunalwahlen?

Wir waren im Sonderwahllokal vorher wählen, wegen der anstehenden Ungarnreise. Es war im Mai in bestimmten Kreisen schon zum Volkssport geworden, in die Kabine zu gehen – also nicht öffentlich zu falten. Wer in die Kabine ging, wurde aufgeschrieben. Wir haben die Aufschreiber dann fröhlich gegrüßt – sie waren deutlich verunsichert. Die Wahlbeobachter mussten nur zählen, wie viele Wähler in die Kabine gegangen sind, und schon wussten sie, wie viele gegen den Einheitsvorschlag stimmten oder sich enthielten. Und es waren mehr denn je. In dieser Situation ein Wahlergebnis von 99 Prozent zu verkünden, war schon skurril.

Sie sprechen auch jetzt noch mit spürbarem Enthusiasmus von der Zeit. Warum und wann hat die DDR-Opposition, zu der Sie ja gehörten, die Deutungshoheit über die Ereignisse aufgegeben?

Im Dezember 1989. Ich habe gerade ein Buch geschrieben über die Zeit und genau auch darüber nachgedacht Ich glaube, wir – damit meine ich die Bürgerbewegung im weitesten Sinne – haben uns mit Fragen beschäftigt, die große Teile des Volkes nicht mehr interessierten. Themen wie eine neue Verfassung, die Sicherung von Freiheitsrechten, die Sicherung von Umweltrechten, alles richtig, aber die Debatten drehten sich längst um Wiedervereinigung und Währungsunion. Im März 1990 machten wir noch Wahlkampf unter dem Slogan: „Kein Anschluss unter dieser Nummer – Artikel 23“. Die Einführung der D-Mark sollte bei uns nach einer langen Phase der Selbstständigkeit kommen. Das war blauäugig. Schon im Dezember gab es bei den Demonstrationen in Leipzig Streit. Wenn ein Redner zur Vernunft aufforderte und sagte, geht doch nicht gleich in den Westen, dann wurden Pfeifkonzerte veranstaltet. Kurz darauf waren dann überall die Deutschlandfahnen. Und damit war der langsame Übergang gegessen.

Was die Wahlen im März 1990 ja auch zeigten.

Wir standen im Palast der Republik und waren sauer, als die Ergebnisse über die Bildschirme flimmerten: mehr als 40 Prozent für die Allianz für Deutschland und nicht mal fünf Prozent für alle Bürgerbewegungen einschließlich Grüner Partei. Da ist uns mit einem Mal klar geworden, wo der Hammer hängt. Selbst die klugen, besonnenen Sätze des allseits geachteten Wolfgang Ullmann waren nicht mehr angekommen. Insofern war der Prozess politisch wohl nicht aufzuhalten. Hätte es schon im November Volkskammerwahlen gegeben, dann hätte das Neue Forum wahrscheinlich 60 Prozent bekommen. So schnell geht das. Im März waren es noch fünf. Also, ich bleibe dabei: Im Dezember haben wir die Deutungshoheit verloren.

Wie nennen Sie den damaligen Prozess heute? Wende oder friedliche Revolution? Oder wäre eine andere Bezeichnung treffender?

Das, was im Oktober stattfand, war eine friedliche Revolution. Immerhin ist die DDR komplett beendet worden. Eine Militärmacht mit Polizei und Staatssicherheit mit mehreren Hunderttausend Mann unter modernsten Waffen ist friedlich abgelöst und entwaffnet worden. Die Geheimdienstzentralen wurden besetzt. Freie Wahlen abgehalten. Verwaltungen wurden neu aufgebaut. Das sind die Ergebnisse einer Revolution. In unserem Falle glücklicherweise sogar friedlich. Deshalb bezeichne ich das als friedliche Revolution.

Aber der Begriff Wende hat sich durchgesetzt.

Das hat Egon Krenz gut hinbekommen. Der prägte ihn nach einer ZK-Sitzung, als er ankündigte, eine Wende eingeleitet zu haben. Sei’s drum. Mit Revolution verbinden die meisten wohl noch immer Barrikaden auf den Straßen, und genau das hat ja glücklicherweise nicht stattgefunden.

Aber Hunderttausende standen den bewaffneten Organen der DDR bei Demonstrationen doch gegenüber. Die haben doch erlebt, dass sie als friedliche Macht die Kraft hatten, den Staat aus den Angeln zu heben.

Aber das wird nicht mit dem Begriff „Revolution“ verbunden.

Und das Gefühl? Warum ist der Stolz darüber nicht geblieben? Mit Begriffen wie friedlicher Revolution kann man bei Schülern, die das nicht erlebt haben, bestimmt leichter Interesse wecken als. . .

. . . als mit dieser Wende. Tja, warum ist das Gefühl nicht geblieben? Westdeutsche Kollegen fragen mich oft, warum wir Ostdeutsche nicht in gleichem Maße demokratieaffin seien. Da muss man sagen: Wenn man, wie der Westen, über Jahrzehnte hinweg Aufschwung erlebt hat, dann verliebt man sich in diese Gesellschaftsordnung, die das ermöglichte. Zweitens darf man die Rolle der Alliierten nicht verkennen. Demokratie wurde ja verordnet und erlernt.

Aber auch erkämpft.

Zweifelsohne. Doch lange Jahre war die Bundesrepublik eine Wohlstandsgesellschaft, die mit sich im Reinen war. Dazu kam dann ein neuer Teil mit Menschen, die auch diese Ziele hatten, die dafür sogar Gefährdungen eingegangen sind. Aber diese Menschen im Osten mussten Demokratie anders lernen. Viele wurden mit Arbeitslosigkeit konfrontiert. In jeder Familie gab es die. Das ist eine ganz andere Demokratieerfahrung. Völlig unterbewertet ist die Tatsache, dass für viele Menschen nichts mehr war wie zuvor. Die Qualifikationen galten nichts mehr. Das ganze Sozialverhalten musste neu gelernt werden. Alle Rechtsnormen waren neu. Die Lebensleistung zählte nichts mehr. Das, wofür man gearbeitet hatte, wurde oft sogar abgerissen. Das mag man ökonomisch logisch finden und sachlich begründen können, doch für denjenigen, den es erwischte, ist es ein Verlust. Insofern ist der Verweis auf die Milliarden aus dem Westen zwar richtig und dankenswert, aber für die persönlich Betroffenen nicht unbedingt ein Grund zur Dankbarkeit.

Dennoch ist es erstaunlich, dass die PDS als Erbe der SED so viele Wähler hat.

Wenn wir dieses Wählerverhalten analysieren, dann stoßen wir genau auf die genannten Ursachen. Man muss konstatieren, dass da etwas über den Osten gekommen ist, was meistens gut gemeint war, aber nicht immer fruchtete. In Gesprächen werde ich oft genau damit konfrontiert. Vor allem, wenn es darum geht, dass Polikliniken oder Gemeindeschwestern wieder eingeführt werden oder das zwölfjährige Abitur, Ganztagesschulen und Kitas. Dann heißt es: „Damals habt Ihr das alles weggefegt. Jetzt kommt Ihr 15 Jahre später wieder an und entdeckt das wieder, tut sogar so, als wäre es eine neue Idee. Aber das hatten wir in der DDR alles schon.“ Daran spürt man Gefühlslagen. Dieses: „Hättet Ihr uns damals nur ernster genommen.“

Dennoch geht es sehr vielen viel besser, etwa jedem einzelnen Rentner. Die leben in einem Wohlstand, den sie als DDR-Rentner nicht gehabt hätten. Von der Freiheit gar nicht zu reden. Wo kommt diese Unzufriedenheit her?

Viele leben in dem Gefühl, auch noch dankbar sein zu müssen. Das hört man bei Rentnern sehr oft. Wenn Westrentner sagen: Jetzt bekommen die von unserem eingezahlten Geld ihre Rente, dann stimmt das ja nicht. Wir wissen doch, dass wir ein Umlageverfahren haben. Da ist nichts früher eingezahlt worden, was heute verfressen wird. Aber selbst wenn man das weiß, dennoch aber das Gefühl vermittelt wird, dass es nicht deine Leistung ist, auf der dein Wohlstand beruht, dann ist das unbefriedigend. Die Entwertung von Lebensleistung macht unglücklich. Man kann nicht einfach 20, 30, 40 Jahre gelebtes Leben in den Abfall treten. Das wissen wir heute alles besser. Anfang der 90er-Jahre wurde das völlig unterbewertet. Heute spüren wir die Langzeitwirkung, gegen die wir nicht ankommen. In diesem Gefühl treffen sich viele Ostdeutsche, die früher gegeneinander standen: Ob Blockpartei, SED oder Kirche. Da haben wir Fehler gemacht.

Aber das ist doch im Kern nur eine ökonomische Begründung.

Nein, das ist auch eine seelische. Aber ganz genau weiß ich das auch noch nicht. In fünf Jahren werden wir wieder klüger sein. Wahrscheinlich kann man solche Prozesse tatsächlich nur historisch bearbeiten. Da ist Nähe falsch, weil man dann über sein eigenes Leben redet. Und das ist falsch. Man braucht Abstand, Nüchternheit und keinen Schaum vor dem Mund. Ich habe neulich einen Vortrag über die unterschiedliche Wahrnehmung von Werbung in Ost und West gehört. Ost und West sind noch heute anders. Wir haben alle vor 19, 20 Jahren gedacht, dass wir alle einfach Deutsche sind. Aber das stimmte schon damals nicht mehr. Nach 40 Jahren ist man anders. Da muss man den anderen auch mal fragen: „Wer seid Ihr eigentlich?“ Es wurde aber nicht gefragt. In der Hektik des Geschehens wurde gesagt: Wir sind das erfolgreiche System, wir haben die Mittel und Möglichkeiten, wir kommen jetzt mal über Euch.

War die Niederlage vom März traumatisch? Sie gehörten nur noch einer kleinen Minderheit an, die zwar viel bewegt hatte, aber offensichtlich schon nach wenigen Monaten von der Mehrheit ausgemustert wurde?

In der Wahlnacht haben wir uns erstmal betrunken. Wir haben bestimmt auch gedacht: So ein undankbares Volk. Aber schon am nächsten Tag mussten wir aus unseren versprengten Truppen eine Fraktion bilden – Neues Forum, Grüne Partei und andere. Ich hatte also schon in den nächsten Tagen wieder voll zu tun, wurde parlamentarischer Geschäftsführer der gemeinsamen Fraktion. Und die Zeiten blieben ja spannend.

Gibt es für Sie einen persönlichen Soundtrack der friedlichen Revolution?

Da fällt mir Silly ein. Deren Texte trafen die Stimmung. Ihr „Februar“ ist für mich die LP der beginnenden friedlichen Revolution.

Was empfehlen Sie Schüler?

Nichts einfach nur zu glauben. Immer zu fragen und neugierig zu bleiben. Und sich einzumischen. Diktatur lebt, wenn sich alle still verhalten. Demokratie geht kaputt, wenn sich keiner einmischt und keiner mitmacht. Und: Demokratie ohne Streit ist keine Demokratie!

(Dieses Interview mit Matthias Platzeck ist im Mai 2009 erschienen)

Christine Küster erinnert sich an den 17. Juni 1953 in Fürstenwalde

Christine Küster aus Fürstenwalde.
Christine Küster aus Fürstenwalde.

Christine Küster lebt noch immer in ihrem Elternhaus. Von hier wurde sie vor 60 Jahren, am Abend des 17. Juni 1953 von der Volkspolizei abgeholt. Als junge Sekretärin der Bauunion-Spree protokollierte sie die Streikversammlung der Fürstenwalder Bauarbeiter. Unser Reporter Andreas Oppermann hat Chrstine Küster besucht und über ihre Erinnerungen an den Volksaufstand vom 17. Juni gesprochen.

Wie immer kommt Christine Küster auch am 17. Juni 1953 gegen halb sieben zur Arbeit. Anders als sonst, sind die Arbeiter der Bauunion-Spree in Fürstenwalde aber noch auf dem Hof. Sie diskutieren, was sie im RIAS gehört haben: Die Kollegen der Berliner Stalinallee streiken. Sie wollen sich keine höheren Normen bieten lassen.

Christine Küster: „Wir hatten einen alten Betriebsgewerkschaftsvorsitzenden (BGL),  der auch in der Partei war. Aber die Leute waren damals noch nicht so fanatisch. Es waren ja die Anfänge. Der wusste noch, wie man so Streiks organisiert. Wenn ihr jetzt streiekn wollt, dann müssen wir jetzt erstmal eine Versammlung machen.“

Christine Küster führt dabei das Protokoll. Und sie hält sich an die klare Anweisung des Genossen: „Aber, hat er gesagt, keine Namen dazu schreiben.“

Nach der Versammlung ziehen gut 200 Bauarbeiter ins Fürstenwalder Reifenwerk. Dort schließen sich ihnen die Arbeiter an. Gemeinsam ziehen sie ins Zentrum der Kreisstadt. Es werden immer mehr, die fordern: Freie Wahlen, Wegfall der Leistungsnormen und Preissenkungen für Lebensmittel in HO-Geschäften.

Christine Küster: „Es waren auf jeden Fall weitaus mehr, als am 1. Mai.“

Erst beim Rat des Kreises stockt der Zug. Die Tore sind  verschlossen. Niemand will mit ihnen sprechen. Deshalb kehren sie um, wollen zur SED-Kreisleitung und zur russischen Kommandantur.

Christine Küster: „Da kamen uns plötzlich Russen um die Ecke entgegen, mit Gewehr im Anschlag und Bajonett. Und dahinter kamen Panzer um die Ecke.“

Angst macht sich breit. Die friedliche Menge löst sich in Panik auf. Auch die junge Sekretärin flieht, wird sich jetzt erst bewusst, wie gefährlich Streik und Demonstration waren.

Als die Volkspolizei sie am Abend abholt, verrät sie keine Namen. Auch acht Tage später, als sie ein Stasi-Offizier anwerben will, verweigert sie die Zusammenarbeit.

Christine Küster: „Es war ein gutaussehender, Mann. Ein großer, blonder, hübscher Mann. Aber seine Art. Ich dachte, der sieht nur nett aus, wie so ein SS-Offizier, habe ich gedacht.“

Dennoch macht Christine Küster Karriere. Sie studiert, steigt in die Leitung der Bauunion auf und wird nach dem Ende der SED-Diktatur von den Arbeitern zur Betriebschefin gewählt. Für Kinder und Enkel schreibt die Fürstenwalder Rentnerin jetzt ihre Erinnerungen auf. Denn der 17. Juni hat ihre Haltung gegenüber der DDR geprägt:

„Ich habe schon früher nicht so viel von dem Staat gehalten. Aber danach war mir das klar.“

Hier ist der Beitrag als Audio…

Erinnerungen im Dokzentrum für DDR-Alltagskultur in Eisenhüttenstadt

 

„Mama, so ein Bild hattest Du doch auch mal?!“ Die Frau, die sich über die Entdeckung einer stilisierten Palme aus Stroh auf Holz freut, ist Mitte 40. Ihre Mutter dürfte ungefähr 70 Jahre alt sein. Sie dreht sich um, blickt auf das Holzbildchen und meint: „Das habe ich noch. Es ist runtergefallen und liegt hinter dem Schrank.“ So ist das mit den Ausstellungsgegenständen im Dokumentationszentrum für Alltagskultur der DDR in Eisenhüttenstadt. Allein die Besichtigung der Ausstellung legt Erinnerungen frei. Sie öffnet den Blick auf das Vergangene, das doch so lang Teil des eigenen Lebens war. Fast so, wie der Fund eines alten Bildes, das einst hinter den Schrank fiel und in Vergessenheit geriet, bis der Schrank verrückt werden muss.

Auch die Erinnerungen an den Alltag in der DDR, in diesem Leben, das in einer völlig anderen Welt stattfand, sind oftmals ganz seltsam. Da schwingt viel Wärme mit, wenn es um schöne Feiern, Erfolge im Beruf oder beim Ergattern von Bückware geht. Bei vielen gibt es auch ein Gefühl von sozialer Sicherheit, vor allem dann, wenn die neuen Zeiten mit Arbeitslosigkeit, dem Verlust von sicher geglaubter Qualifikation oder gesellschaftlichem Abstieg einhergingen.

All das ist bekannt und für die betroffenen dennoch schmerzhaft. Im Dokumentationszentrum für DDR-Alltagskultur spielen diese Aspekte der Geschichte der DDR auch eine wichtige Rolle. Viel wichtiger aber ist der Blick auf die Dinge, die das ganz normale Leben ausmachten. Die hat Andreas Ludwig schon kurz nach dem Zusammenbruch der DDR anfing zu sammeln. Da lernt man, dass selbst Mehltüten politisiert wurden, indem Jahreslosungen der Partei aufgedruckt wurden. Hier sieht man, was es zu kaufe gab – und wovon viele träumten (aus Jeans und Platten und Bücher aus dem Westen). All das ist nicht nur einen Besuch wert. Es ist vor allem erhaltenswert. Und zwar nicht nur als Museum, sondern auch und vor allem als Dokumentationszentrum. Also als eine Stelle, die aufarbeitet, wann es welche Produkte gab und warum. Mit jeder Mehltüte, mit jedem Schlüsselanhänger vom Fernsehturm, mit jeder Übungshandgranate, die zum Weitwurf im Sportunterricht eingesetzt wurde, wird bewahrt und erklärt, wie das Leben wirklich war in der DDR  ohne zu verklären und ohne zu verdammen.

Ein lesenswerter Text zum Erhalt des Dokzentrums steht auf Eisenhüttenstadt-Blog…

Einblicke ins DDR-Kunstarchiv II

Das Kunstarchiv in Beeskow beherbergt nicht nur eine große Sammlung von Bildern. Auch Büsten und Skulpturen lagern hier. Ins Auge fallen die Großen der Vergangenheit, die von der Geschichte entsorgt wurden – und hier in Regalen ruhen wie anderswo Tote in Urnengräbern.

Lange bevor sich der Blick mit der Qualität der Werke beschäftigt kommen Mitleid, Genugtuung, Verwunderung, Erstaunen im Betrachter auf. Das ist es also, was übrig bleibt: Karl Marx in der Ecke. Lenin an der Schwelle zur Kellertür oder als Kopf im Regal. Überhaupt haben die Büsten etwas von den Köpfen Enthaupteter. Und irgendwie ist es ja auch so. Die Köpfe, die sich den Kommunismus und die Partei leninscher Prägung ausgedacht haben, waren einst überall aufgestellt. Jetzt sind sie entsorgt. Genauso wie ihre Ideen, wie ihre Parteistrukturen, wie ihre Welt.

Sie sind Geschichte. Und lagern im Inneren von Archiven. So wie hier im DDR-Kunstarchiv in Beeskow.

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Einblicke ins DDR-Kunstarchiv I

Einblicke ins DDR-Kunstarchiv in Beeskow

Das Archiv für DDR-Kunst in Beeskow ist einem ganz unscheinbaren Gebäude. Fast 1700 Bilder werden hier aufbewahrt. Alle sind einst von den Parteien oder den Massenorganisationen der DDR bei Künstlern in Auftrag gegeben worden, um öffentliche Gebäude zu verzieren.

Kunst aus 40 Jahren lagert hier und wird in unterschiedlichen Ausstellungen gezeigt. Aber auch Kitsch findet sich. Die ganze Bandbreite von Heldenverehrung bis zu sensiblen Künstlerporträts, von Stadt- und Landschaftsbildern bis hin zu Gemälden aus der Industrie- und Arbeitswelt ist in Regalen verstaut. Nur abstrakte Bilder sind ganz selten. Also das, was im Westen zur künstlerischen Maxime wurde.

Und so ist das DDR-Kunstarchiv tatsächlich eine einmalige Sammlung von Kunst einer abgeschlossenen Zeitspanne, in der Bilder einen Auftrag zu erfüllen hatten. Und in der hervorragende Künstler nach einem eigenen Weg suchten, dennoch nicht nur Aufträge abzuarbeiten, sondern Kunst zu schaffen.

Fritz Rudolf Fries sucht den Weg nach Oobliadooh

Fritz Rudolf Fries: Der Weg nach Obliadooh
Fritz Rudolf Fries: Der Weg nach Oobliadooh

Was für eine Sprache! Was für ein Rhythmus! Nach den ersten Seiten von Fritz Rudolf Fries‘ Roman „Der Weg nach Oobliadooh“ ist eine kleine Pause nötig. Ein Innehalten, um sich zu vergewissern, dass dies ein Roman ist, dass dies ein Stück deutsche Literatur ist, die in der DDR geschrieben wurde, aber in der Bundesrepublik erschienen ist.  Denn auf diesen ersten Seiten dominieren spanische Namen, spanische Erinnerungen. Und eine Art des Schreibens, die ganz neu klingt.

Fries wollte seinen Debüt-Roman ursprünglich in der DDR erscheinen lassen. Aber der angefragte Verlag wollte sich nicht die Finger verbrennen. Und so entschied sich der Angestellte der Akademie der Wissenschaften, es bei Suhrkamp verlegen zu lassen. 1966 – fünf Jahre nach dem Mauerbau – war das mehr als ein harmloser Akt des Ungehorsams gegenüber der SED. Fries musste die Konsequenzen tragen. Mit 31 Jahren verlor er seine Stelle als Wissenschaftler.

Angesichts des Inhalts ist es nicht erstaunlich, dass den Kulturverantwortlichen in der DDR das Buch ein Dorn im Auge war. Da werden Funktionäre als dick und unbeweglich dargestellt. Und vor allem sind da zwei Helden die sich in ein Leben gönnen, das nicht in die gewünschte Konformität passt. Sie sind in den Jahren 1957/58 auf dem Weg nach Oobliadooh. Sie suchen einen Weg, der im Jazz und im Denken Freiheit ermöglicht – und in der Liebe so viel wie möglich. Der Buchtitel ist ein Zitat aus einem Song des Bebop-Jazzers Dizzy Gillespie. Im Song ist dieser fiktive Ort ein Ort der Phantasie. Im Roman ist er der Bezugspunkt für den Raum des Denkbaren und des grenzenlos Phantasievollen.

Die Sprache, die Fries dafür fand, ist eine sehr eigene. Sie muss durchdrungen werden wie die Melodien und Synkopen des Jazz. Wer sich auf den Rhythmus einlässt, wer den Sound der Phantasie zulässt, wird mit einem fulminanten und verwirrend großartigem Roman belohnt. Der noch dazu in der Anderen Bibliothek wunderbar gestaltet wurde.

Mehr über Bücher der Anderen Bibliothek

Die Deutsche Zeitung kommentiert Mehrings Absage an die DDR

Mehrings Absage an Ulbricht
Ein Schriftsteller bleibt konsequent

“Ich verzichte auf jede ostorientierte Lizenzausgabe meiner Arbeiten”, -. schrieb Walter Mehring aus Ascona an seinen westdeutschen Verleger, der ihm mitgeteilt hatte, der Ost-Berliner Aufbau-Verlag habe um die Lizenz für den Roman “Müller, Chronik einer deutschen Sippe von Tacitus bis Hitler” nachgesucht. Das Angebot der Aufbau-Leute war verlockend genug: Fünftausend Westmark wollte der Pankower Staatsverlag zahlen, und darüber hinaus garantierte er eine Auflage von zehntausend Exemplaren.

Viel für einen Schrlftsteller, der zwar oft genannt, aber seltener gelesen wird. Viel für einen Mann, dessen Chansons für Kabaretts geschrieben wurden, die nicht mehr existieren; dessen Essays in Zeitschriften zu lesen waren, deren Namen längst literarhistorische Legende sind. Die Reaktion Mehrings auf den Vorschlag aus Ost-Berlin war denn auch
mehr als eine bloße Geste, sie bedeutet für ihn ein großes materielles Opfer.

Der ganze Text auf walter-mehring.info…

 

Holzgeschenke für Nazis und Ostalgiker

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Wer kennt sie nicht, diese gebrannten oder bemalten Holztäfelchen mit Sinnsprüchen der eher dümmlichen Art? Neu war mir, dass es sie auch für Nazis und ähnlich gesinnte historisch Zurückgebliebene gibt.

Ein Stand auf einem Volksfest. Dutzende ovale Täfelchen werden angeboten. Darunter Tafeln für den ewiggestrigen Ossi und – noch schlimmer – für den Nazi, der von der rein deutschen Zone träumt. Da es solche Angebote in der Marktwirtschaft nur gibt, wenn Absatz winkt, scheint das Produkt auf dem Volksfest wohl platziert.

Aber fotografieren darf man es nicht. Der Naziausstatter will nur verkaufen, aber auf keinen Fall, dass darüber gesprochen wird. Den Gefallen kann ich ihm nicht erfüllen. Auch wenn er beim Knipsen „Unverschämt!“ schäumt. Und seine Frau versucht das Produkt verschämt zu verdecken. Doch unverschämt sind die Produkte für Nazis und Ostalgiker. Und nicht der angeekelte Blick darauf.