Bettina Baltschev schlendert durch Amsterdam. Dabei spürt sie einem Verlag, seinem Verleger, den Lektoren und den Autoren nach. Die hießen Joseph Roth, Heinrich und Klaus Mann, Lion Feuchtwanger, Ernst Toller, Alfred Döblin oder Irmgard Keun. Der Querido-Verlag war einer der wichtigsten Exil-Verlage für die Deutschen Schriftsteller, die vor den Nazis fliehen mussten. „Hölle und Paradies“ ist das Buch, in dem Baltschev ihre Liebe zu Amsterdam und zur Exil-Literatur auf eine lesenswerte Art zusammenführt.
Schlagwort: Amsterdam
Hans Keilsons Jahrhundert ist vorbei
Mit 101 Jahren ist Hans Keilson gestorben. Der Ehrenbürger Bad Freienwaldes erlebte noch das Erscheinen seiner Erinnerungen. Der Jude emigrierte 1936 nach Holland und überlebte die deutsche Besatzung im Untergrund. Seine Bücher stoßen vor allem in den USA auf großes Interesse. Er wird als „Weltschriftsteller“ geehrt. „Da steht mein Haus“ ist der Titel seiner Erinnerungen, die im April bei S. Fischer erschienen sind. Hans Keilson meint damit sein Haus in Bussum bei Amsterdam, in dem er mehr als die Hälfte seines langen Lebens verbrachte. Es ist ein typisch niederländisches Klinkerhaus, das an einer ruhigen Kreuzung knapp zehn Minuten vom Bahnhof entfernt, umgeben von Einfamilien- und kleinen Reihenhäusern, liegt. Der Garten und das Haus selbst strahlen eine bescheidene Zufriedenheit aus. Alles wirkt, als wären die Bewohner mit sich im Reinen.
Das MOZ-Interview zum 100. Geburtstag
Obwohl er vor den Nazis fliehen musste und seine Eltern, die er in die Niederlande nachholte, nicht vor der Ermordung in Birkenau retten konnte, bestimmte nicht die Verbitterung sein Leben. „Das Gefühl der Schuld, dass ich meine Eltern nicht gerettet habe, das ist immer da,“ sagte er einmal. Doch Keilson begann deshalb nicht zu hassen. Im Gegenteil: Er bekämpfte mit den Mitteln der Psychoanalyse und der Literatur den Hass: „Weil der Hass eine selbstvernichtende Doktrin ist.“ Wer hasst, mache sich die Definition des Feindes zu eigen. Davon war er überzeugt. Deshalb setzte er Zeit seines Lebens seinen Verstand ein, um sich nicht vom Denken derer, die ihm Böses wollten und seinen Eltern taten, leiten zu lassen.
1909 kam Hans Keilson in Bad Freienwalde auf die Welt. Sein Vater hatte zwei Geschäfte im Ort. Seine Mutter kümmerte sich um diese, als der Vater im 1. Weltkrieg an der Westfront in den Schützengräben kämpfen musste. Die Welt war beengt für die wenigen Juden in Bad Freienwalde. Dennoch erinnerte sich Keilson auch im persönlichen Gespräch gern an sie zurück. Über den letzten Besuch seiner Heimat im September 2010 sagte er: „Als ich zu Besuch war, waren alle Kindheitserinnerungen wieder da, an jeder Ecke.“ Diese Erinnerungen schilderte er in seinem letzten Buch. Er beschreibt die bescheidenen Verhältnisse, in denen er aufwuchs. Er schildert die sich ändernde Stimmung den drei Juden in seiner Klasse gegenüber. Während im und kurz nach dem 1. Weltkrieg kaum Antisemitismus zu spüren war, nahmen die Zurücksetzungen, das Ausgegrenztwerden bis zum Abitur 1928 stetig zu. Hans Keilson war ein warmherziger, auch im hohen Alter noch sehr auf das Leben neugieriger Mann. Bei einem fast dreistündigen Interview kurz vor dem 100. Geburtstag schaffte es der Autor, Sportlehrer und Analytiker, mehr Fragen an mich zu richten als umgekehrt. Er wollte wissen, wie sich die Heimat verändert. Ihn interessierte, was der 60 Jahre jüngere über die Vergangenheit weiß. Ihn faszinierte, wie Internet und Technik das Leben erleichtern und Entfernung und Nichtwissen schrumpfen lassen.
Dazu passt auch, dass er mit über 80 anfing, am Computer zu arbeiten. Kein Wunder: Die Praxis betrieb der Psychiater bis weit über 90. Den bescheidenen Mann trieb eine ungeheure Energie an. Erst 1979 – mit fast 70 Jahren – promovierte er: „Sequentielle Traumatisierung bei Kindern“ ist das Ergebnis seiner jahrzehntelangen Arbeit mit jüdischen Kindern, die aus den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten in die Niederlande zurückkehrten. Die meisten von ihnen hatten ihre Eltern und die ganze Familie verloren. An die wissenschaftliche Arbeit machte er sich so spät noch, weil ihn seine Frau und andere ihm nahestehende Menschen darum baten, seine Erfahrungen aufzuschreiben. Das Ergebnis hat sich bis auf die Rechtsprechung ausgewirkt. Dieses Buch schätzte er selbst als sein wichtigstes ein.
1933 erschien bei S. Fischer sein erster Roman, der letzte eines Juden für lange Zeit. Die Übersetzungen seiner Bücher stoßen derzeit vor allem in den USA auf großes Interesse. Ein Interview mit ihm erschien sogar auf der Titelseite der „New York Times“. Seine Romane und Erzählungen zeichnet ein klare Sprache und ein feiner Humor aus. Auch in ihnen gibt er dem Leser nicht vor, was er zu denken hat. Er eröffnet – wie seinen Patienten – Wege, die Welt zu verstehen, weil man über seine Fragen nachdenkt. Wer sich darauf einlässt, begreift, dass Hass kein Weg ist, um leben zu können.
Wenn Hans Keilson von seinen Berliner Jahren erzählte, dann strahlten die fast erblindeten Augen. Wie er als Trompeter einer Jazz-Band das Studium finanzierte erfreute ihn auch mit 100 noch. Und wie ihm die Großstadt die Chance gab, durch das Studium das Rüstzeug zum Überleben im Untergrund zu geben, machte ihn dankbar. Mit Hans Keilson ist ein Mensch gestorben, der Ungeheuerliches erlebte, der gute Bücher schrieb, der als Arzt und Psychiater vielen Kindern den Weg zurück ins Leben erleichterte, der als Chef des deutschen Exil-P.E.N. politisch seine Stimme erhob und der vor allem als Mensch eine große Wärme, tiefe Neugier und sanften Humor ausstrahlte. Beerdigt wird Hans Keilson auf dem jüdischen Friedhof in Amsterdam neben seiner ersten Frau. Das war schon lange sein Wunsch. Seine Heimatstadt hat die Bibliothek nach ihm benannt. Und einen Findling haben sie dort für ihn aufgestellt. „Das Schöne ist, dieser Findlingsblock ist so groß, dass er bleiben wird – er ist einfach zu schwer, um ihn zu stehlen,“ freute sich Keilson noch kurz vor seinem Tod.
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Hans Keilson ist tot
Hans Keilson ist am Dienstag in einem Krankenhaus in Hilversum mit 101 Jahren gestorben. Er war der letzte deutsche Exilschriftsteller. Sein Debütroman Das Leben geht weiter. Eine Jugend in der Zwischenkriegszeit ist 1933 bei S. Fischer erschienen. Es war das letzte Buch eines jüdischen Schriftstellers, das in dem Traditionsverlag in Druck gelegt wurde. Noch vor Erscheinen haben es die Nazis verboten. Es dauerte über 50 Jahre, bis es das Licht der Öffentlichkeit sah.
Hans Keilson war ein warmherziger, auch im hohen Alter noch sehr auf das Leben neugieriger Mann. Bei einem fast dreistündigen Interview kurz vor seinem 100. Geburtstag schaffte es der Schriftsteller, Sportlehrer und Psychiater mehr Fragen an den Interviewer zu richten als umgekehrt. Er wollte wissen, wie sich seine alte Heimat verändert. Ihn interessierte, was der 60 Jahre jüngere über die Vergangenheit weiß. Ihn faszinierte, wie Internet und Technik das Leben erleichtern und Entfernung und Nichtwissen schrumpfen lassen.
Dazu passt auch, dass er mit über 80 Jahren noch einen Computer anschaffte. Überhaupt trieb ihn eine ungeheure Energie an. Erst 1979 promovierte er sich mit einer Arbeit über Traumata von Kindern. Sequentielle Traumatisierung bei Kindern ist das Ergebnis seiner jahrzehntelangen Arbeit mit jüdischen Kindern, die aus den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten in die Niederlande zurückkehrten. Die meisten von ihnen hatten ihre Eltern und die ganze Familie verloren. An die wissenschaftliche Arbeit machte er sich so spät noch, weil ihn seine Frau und andere ihm nahestehende Menschen darum baten, seine Erfahrungen aufzuschreiben. Das Ergebnis hat sich bis auf die Rechtsprechung ausgewirkt.
Keilson stammt aus Bad Freienwalde. Dort wuchs er als Sohn eines Kaufmanns auf, ging zur Schule, machte Abitur und sang als Jude sogar im Kirchenchor. Sein erster Roman schildert diese Zeit. In Berlin studierte er Medizin, durfte als Jude den Beruf aber nicht ausüben. Deshalb arbeitete er als Sportlehrer an jüdischen Schulen, bis er 1936 ins Exil nach Holland ging. Dort engagierte er sich im Widerstand und überlebte im Untergrund die deutsche Besatzung. Anders als seine Familie, die in Auschwitz ermordet wurde. Dennoch schafft er es, weiter in Deutsch zu schreiben, nach Deutschland zu reisen und Deutschland nicht zu verdammen. Sein Verstand trennte schwarz zwischen Tätern, Mitläufern und Opfern. Den folgenden Generationen bürdete er keine Schuld auf. Aber es erwartete Verantwortung von ihr. Mit Hans Keilson ist ein Mensch gestorben, der Ungeheuerliches erlebte, der gute Bücher schrieb, der als Arzt und Psychiater vielen Kindern den Weg zurück ins Leben erleichterte, der als Chef des deutschen Exil-P.E.N. politisch seine Stimme erhob und der eine große Wärme, tiefe Neugier und sanften Humor ausstrahlte.
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Schönes Ende eines Interviews
Das Gespräch mit Hans Keilson vor dessen 100. Geburtstag ist mir auch 18 Monate später noch ganz präsent. Mit seiner Frau hatte ich den Termin abgestimmt und mich auf den Weg über Amsterdam nach Bussum gemacht.
Dort lebt der letzte deutsche Exilschriftsteller in einem schönen, typisch holländischen Haus. Die Wärme des Empfangs, die Güte des Gesprächs, der Humor beim Nachdenken an die Jugend in Bad Freienwalde und Berlin, die Trauer über den Zwang ins Exil gehen zu müssen und die Klarheit beim Nachdenken über die Folgen des Nationalsozialismus wirken noch immer nach.
Keilson musste seine Heimat verlassen und hat sich eine neue erarbeitet. Keilson hat Familie verloren und eine neue begründet. Keilson hat Kindern, die aus den KZs zuück kamen als Arzt geholfen und dennoch angesichts des Leids nicht auf Rache gehofft. Keilson galt 1933 als ein verheißungsvolles Talent, als sein Debütroman bei S. Fischer erschien, und hat sich nach dem Krieg als Psychoanalytiker einen Namen gemacht. All das ist schon faszinierend und Ehrfurcht erfüllend. Aber wenn man dann mit so einem Menschen sprechen kann und eine gute Wellenlänge zueinander findet, verschwimmt das alles.
Dann sitzt einem nur ein wunderbarer, humorvoller Mensch gegenüber, der auch mit 100 Jahren noch neugierig ist. Und das so sehr, dass die Hälfte des mehr als zweistündigen Gesprächs aus meinen Antworten auf seine Fragen bestand. Die sind in dem gerade erschienenem Band nicht zu finden. Aber das Interview, das aus dem Gespräch entstand, ist die Eröffnung der Textsammlung. Und damit ein schönes Ende eines Interviews.
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Amsterdam lockt aufs Eis
Amsterdam riecht nicht wie andere Städte. Wer zu Fuß die Altstadt erkundet, wird von Abgasen recht wenig belästigt. Dafür ziehen hin und wieder die süßlichen Schwaden von Marihuana über die Gehsteige. Und der Duft von Gewürzen, der an die koloniale Vergangenheit der Niederlande erinnert.
Dieser Winter ist auch in Amsterdam knackig kalt. Die Grachten sind gefroren. Vor dem Rijksmuseum tummeln sich die Schlittschuhfahrer. Dort lockt der Geruch von Glühwein und „warmer Chocoladenmelk“. Eine friedliche Atmosphäre liegt über der Stadt. Die Kälte dämpft den Lärm auf den wenigen größeren Straßen der Altstadt. Aber immer wieder ist das Lachen von Kindern zu hören, die sich die Grachten auf Kufen aneignen. Und von Erwachsenen, die gerade am Wochenende der außergewöhnlichen Freizeitbeschäftigung nachgehen. Fast wirkt diese Schlittschuhleidenschaft wie die auf den Bildern von Hendrick Avercamp (1585–1634) oder Pieter Brueghel (1564–1637). Sie hielten schon im 16. und 17. Jahrhundert auf ihren Landschaftsbildern die Holländer fest, wie sie über gefrorene Flüsse schlittern.
Hendrick Avercamp widmet das Rijksmuseum momentan eine Sonderausstellung. Er gilt als der bedeutendste Maler von Winterlandschaften im „Goldenen Zeitalter“, Hollands wirtschaftlicher und kultureller Blütezeit im 17. Jahrhundert. Schöner kann der Besuch dieser Ausstellung gar nicht sein, als in diesen Tagen. Wer die Holländer auf dem Weg zur Schau auf den Schlittschuhen sieht und sie mit den ebenso heiteren Gesichtern auf den Avercampschen Bildern vergleicht, entdeckt die gleiche Freude, den Spaß am Schneeballwerfen, die Paare, die im Gleichschritt zu einer liebevollen Einheit geworden sind und sogar die Hunde, die sich auf dem ungewohnten Untergrund schwer tun.
Wer sich in der Ausstellung etwas Zeit nimmt und den Details der Bilder widmet, der belohnt sich bei seinem anschließenden Rundgang durch Amsterdam mit einem geschärften Blick für die vielen Besonderheiten am Rande. Etwa für die Verzierungen und Simse an den alten Häusern. Oder für die Geländer aus Schmiedeeisen, die nicht nur Kellerfenster und den Tritt auf vereisten Treppen sichern, sondern auch viele Hausboote, die in den gefrorenen Grachten liegen, schmücken.
Unweigerlich irritiert bei einem solchen Spaziergang durch Amsterdam immer wieder der Haschischduft die ihn ungewohnte Nase. Der legale Verkauf von Cannabisprodukten aller Art sorgt dafür, dass vor und in den unzähligen Coffeeshops gekifft wird. Es sind hauptsächlich Touristen, die sich dort eindecken. Und natürlich auch sofort rauchen.
Das Rijksmuseum widmet sich in seiner Ausstellung „The Masterpieces“ auch der Zeit, in der Amsterdam einmal so etwas wie eine Hauptstadt der Welt war. Im „Goldenen Zeitalter“ war die Stadt das Zentrum des europäischen Gewürzhandels. Nach der Übernahme der portugiesischen Kolonien in Indonesien kontrollierte die Niederländische Ostindische Kompanie den Handel mit Muskat und mit Nelken.
Das Schiffsmodell der „Prinz Willem“ aus dem Jahr 1651 ist mit seiner Länge von mehr als einem Meter nicht nur imposant. Es dokumentiert auch die Flotte, mit der dieser Reichtum in die Stadt kam. Er ließ dann die Kunst aufblühen, die mit Rembrandt oder Vanmeer ebenfalls in der Ausstellung präsent ist. Die stolze Architektur der hohen und schmalen Häuser an den Grachten aus dieser Zeit dominiert noch heute das Stadtbild.
Das Rijksmuseum zeigt in der kompakten Ausstellung das Zusammenwirken von wirtschaftlicher und militärischer Expansion und der Förderung der Künste ebenso wie das erstarkende Selbstbewusstsein der Handelsnation, an das noch heute vieles erinnert: die Giebel der Häuser, die dezente, aber edle Ausstattung der Kirchen oder so imposante Gebäude wie der Hauptbahnhof und das Rijksmuseum selbst.
Exotische Lokale sind in Amsterdam nicht erst in den vergangenen 30 Jahren entstanden. Indonesische Küche gibt es dort schon so lang, dass sie selbst an jeder „Frituur“, den holländischen Imbissbuden, zu bekommen ist. Zwar mussten die Niederlande sich Ende der 40er-Jahre des vorigen Jahrhunderts nach einem brutalen Krieg aus Indonesien zurückziehen. Aber das koloniale Erbe ist nicht zuletzt im bunten Gemisch der Menschen weiterhin sichtbar.
Auch das Rijksmuseum ist Ausdruck der kolonialen Größe. Nicht umsonst nennt es sich nach einem Reich, das längst vergangen ist. Nicht nur wegen der Rembrandtschen Nachtwache lohnt sich also der Besuch. Wobei auch sie vom Stolz der reichen Bürger zeugt, die ihr Geld mit dem Handel verdienten.
Die Ausstellung versäumt es übrigens nicht, den ersten Börsencrash der Welt darzustellen. 1637 platzte die Spekulationsblase auf Tulpenzwiebeln. Der Duft und die Schönheit der Blumen hatten den Preis für eine Zwiebel höher getrieben als den für ein Haus an der Amsterdamer Keizersgracht. Das konnte nicht gut gehen. Aber auch davon hat sich die Stadt zügig erholt.
„Ich lebe. Als Sieger und Besiegter“
Hans Keilson ist 100 Jahre alt, Psychoanalytiker, Schriftsteller, Musiker – und Überlebender des Holocaust. Ein Gespräch über das Leben, seine Arbeit und Heimat Holland
Der Freitag: Herr Keilson, in Ihrem Jahrhundert wurde vieles erfunden. 1909, dem Jahr Ihrer Geburt, gab es weder Radio noch Fernsehen, weder Waschmaschine noch Rührgerät …
Hans Keilson: … und auch kaum Autos.
Gibt es eine Erfindung, die Sie besonders bewegt hat?
Das Telefon. Das ist es sehr wichtig für mich. Aber sonst?
Glauben Sie, dass die Entwicklung von Technik und Medien die Menschen verändert hat?
Sind Sie auch auf die großen Fragen der Menschheit von heute, auf die Energie- und Klimapolitik neugierig?
Eines Ihrer großen Themen war der Tod. Schon in ihrem ersten Roman spielt er eine große Rolle. In diesem Fall der reale Selbstmord des Freundes Fritz.
War es Ihre erste Konfrontation mit dem Tod?
Im Buch heißt es, dass Selbstmord auch ein Stück Erlösung sein kann.
Egal ob Selbstmord oder Mord?
Im zweiten Buch geht es dann um den Grippe-Tod des bei Holländern versteckten Juden Nico. Da¬raus machen Sie eine Komödie.
War das im Exil für Sie eine Notwendigkeit, über den Tod auch lachen zu können?
Wie ist es, ein Überlebender zu sein, der eigenen Familie, der Freunde, vielleicht sogar einer ganzen Welt?
Nach dem Motto: Wen ich alles gekannt habe?
Dennoch ist die Frage erlaubt: Wie es ist zu überleben?
Das Thema Überleben haben Sie sich aber auch zum Beruf gemacht, indem Sie mit Kindern gearbeitet haben, deren Eltern die Konzentrationslager nicht überlebten.
Sie haben erst mit 70 promoviert. Was war so spät der Antrieb?
Wirkt die lange Beschäftigung damit in Ihnen nach?
Im Tod des Widersachers spielen sie dieses Thema durch: Der Tod des Anderen ist auch immer ein eigener Tod?
In einer Szene schänden Jugendliche einen jüdischen Friedhof. Und zwar mit dem Satz: „Wir waren gekommen, die Toten umzubringen.“
Warum gibt es noch Schändungen jüdischer Friedhöfe?
Was einige Pfarrer ja taten.
Das hätte er wohl nicht. Die Verwurzelung der Kirchen in der Bevölkerung war ja noch eine ganz andere als heute.
Sie glauben nicht, dass Antisemitismus besiegt werden kann?
Wie konnten Sie all die Probleme der jüdischen Kinder verkraften, die Sie als Psychotherapeut auf sich geladen haben?
Wer trainiert, kann seinen Körper anders erleben, und wer sich mit Problemen beschäftigt, kann Geist und Seele abhärten?
Das führte dazu, dass Sie kleinere Texte veröffentlichten.
Ist Ihnen das schwer gefallen?
Aber Wagner war kein sonderlich angenehmer Mensch. Bestimmt nicht. Viele Genies sind nicht angenehm.
Das ist wahr. Entschuldigen Sie.
Wagner gilt als typisch Deutsch.
Was unterscheidet Deutsch und Niederländisch? Sie habe ein ganzes Leben Deutsch geschrieben und ein halbes Niederländisch gesprochen.
Sie haben über Fußball-Reportagen im Radio Holländisch gelernt. Schauen Sie heute noch Fußball?
Sind Sie dann für Deutschland oder für Holland?
Dachten Sie nach dem Krieg jemals daran, nach Deutschland zurückzukehren?Nein, niemals.Sie sind 1990 Ehrenbürger Ihrer Heimatstadt Bad Freienwalde geworden.
Wollen Sie hier in Holland beerdigt werden?
Hat der Tod für Sie seinen Schrecken verloren?
Inzwischen lösen sich die Grenzen auf. Es gibt die Europäische Union, es gibt eine gemeinsame Währung.
Die Lehre aus der Geschichte?
In Ihrem ersten Buch schildern Sie, wie die Wirtschaftskrise die Existenz ihrer Eltern vernichtet. Hat die momentane Krise Ängste geweckt?
Darf ich fragen, wie der Tagesablauf eines 100-Jährigen aussieht?
Aber Sie kochen nicht selber?
Das Gespräch führte Andreas Oppermann. Er ist Redakteur bei der Märkischen Oderzeitung
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Raymond van de Klundert über Brustkrebs und Sterbehilfe
Als seine Frau im Alter von 36 Jahren an Krebs starb, ging Kluun (41), mit bürgerlichem Namen Raymond van de Klundert, nach Australien, wo er seinen Roman „Mitten ins Gesicht“ schrieb. Das Buch des Schriftstellers aus den Niederlanden wurde zum Bestseller und bot vielfach Zündstoff zur Diskussion.
Ihr Buch handelt davon, wie der Brustkrebs das ganze Leben einer 35 Jahre jungen Frau und vor allem ihres Mannes verändert. Auf dieses Thema reagieren viele mit Abwehr.
Ich habe bei Lesungen viele erlebt, die sagten: „In dem Buch geht es um einen Mann, der fremdgeht, weil seine Frau stirbt? Das möchte ich gar nicht lesen!“ Mein Buch ist eines
von denen, die von anderen Lesern empfohlen werden müssen. Die wissen dann, dass es vor allem ein Buch über eine tiefe Liebe ist.
War Ihnen klar, dass das Leben mit und das Sterben an Brustkrebs ein so heikles Thema ist?
Ja. Für die Betroffenen, im Buch für Carmen und Stijn, ist das ein Thema, das viel wichtiger ist, als für Freunde und Familienangehörige. Für die zählt nur die Gesundheit und das Überleben. Aber für Carmen und Stijn geht es um mehr. Das, was sie erleben, habe ich auch mit meiner Frau erlebt. All unsere Freunde haben den Krebs mitbekommen. Wir waren junge, urbane Leute. Da wurde mit Freunden und Freundinnen auch immer über Sex geredet. Aber was die Brustamputation mit meiner Frau gemacht hat, danach hat keine von den Freundinnen gefragt. Keine wollte wissen, wie es ist, ohne Brust zu leben. Und keiner meiner Freunde hat mich gefragt, wie das ist, mit einer Frau ohne Brust zu leben.
Also ein richtiges Tabu?
Ob Tabu das richtige Wort ist? Es ist mehr eine Art Verdrängung. Wenn du eine lebensbedrohende Krankheit bekommst, dann ist für die Außenwelt nur dein Überleben
wichtig. Alles andere ist unwichtig. Genau das hat meine Frau und mich frustriert. Diese Reaktion der Außenwelt ist Quatsch.
Warum?
Ich glaube, dass Brüste das Symbol für Sexualität schlechthin sind. In Werbung, Film oder Mode, überall werden die Brüste als das Symbol für Weiblichkeit inszeniert. Wenn eine junge Frau krank wird, dann ist das für die Umwelt aber auf einmal nicht mehr wichtig.
Noch nicht bei der ersten Diagnose. Da war eine Brustamputation noch keine Option, weil der Tumor zu groß war. Aber als dann die Ärzte über die Brust meiner Frau diskutierten, war uns klar, dass sich unser Leben verändern wird. Wenn meine Frau noch zehn oder fünfzehn Jahre gelebt hätte, wäre die Wirkung eine andere gewesen.
Aber die Amputation kann doch nicht rückgängig gemacht werden.
Ich glaube, dass mit den Jahren der Einfluss der Brustamputation auf die Beziehung unwichtiger wird. Wenn eine Frau mit 30 oder 40 Jahren ihre Brust verliert und dann
noch 70 oder 80 Jahre alt wird, dann ist der Zustand irgendwann bestimmt normal. Dann ist es wie eine Art Schönheitsfehler. Aber wir hatten diese Zeit nicht. Uns blieb nur ein Jahr. Wir hatten nicht die Chance, damit leben zu lernen.
War es eine schreckliche Erfahrung, wie die Ärzte damit umgehen?
In Holland ist gerade ein Foto-Band von Frauen erschienen, die nur noch eine Brust haben. Die Herausgeberin ist Chirurgin. In ihrem Vorwort hat sie geschrieben, dass sie die Probleme bis zur Lektüre meines Buches nie sah. Obwohl sie selbst eine Frau ist, habe sie Brüste immer genauso operiert wie Arme oder Ohren. Aber jetzt verstehe sie, welche Belastung eine solche Operation für die Frau und auch den Mann sei.
Stijn, der Mann der kranken Frau, geht fremd. Irgendwie ist er ein Drecksack, aber ein sympathischer.
In Stijn habe ich die schwarze, die schlechte Seite von mir selbst vergrößert. Stijn schaut jeder Frau hinterher – und auf jeden Busen.
Wenn man Umfragen trauen darf, wird Treue wieder wichtiger.
Viele Menschen hoffen, dass das Treue-Versprechen bei der Hochzeit gehalten werden kann. Auch ich hoffte, dass das Versprechen, in guten wie in schlechten Zeiten treu zu bleiben, bis dass der Tod uns scheidet, hält. Mein Buch hält den Spiegel in dem Moment vor, in dem es schlecht geht. Märchen funktionieren nur in guten Zeiten. Aber was passiert in schlechten? Das weiß keiner. Deshalb ist das Buch so hart. Ich denke, es ist mir gelungen, Stijn als Drecksack darzustellen. Und dennoch die Frage aufzuwerfen: Wie wärst du selbst, wenn dir so etwas passiert?
Stijn geht nicht nur fremd. Er hat auch ein Verhältnis.
Von allen Arten des Fremdgehens ist ein Verhältnis die moralisch verwerflichste. Von vielen Lesern habe ich jedoch gehört, dass Stijn die One-Night-Stands, das rein sexuelle Fremdgehen, mehr verübelt werden als das Verhältnis mit Roos. Die Leser verstehen, dass dieses Verhältnis wichtig ist.
Ihr Buch kann einem die Tränen in die Augen treiben. Ging Ihnen das beim Schreiben auch so?
Ja. Der dritte Teil ist zu 99 Prozent autobiografisch. Hier sind die Briefe von Carmen an die Tochter Luna, fast genauso wie die meiner Frau an unsere Tochter. Der Abschied von Luna ist zu 100 Prozent so geschehen. Das war beim Schreiben emotionaler als in Wirklichkeit. Da war ich ein Manager des Trauerns. Da wollte ich mich um den Abschied kümmern, um es meiner Frau so schön wie möglich zu machen. Das Buch ist die zwölfte Version des
Originalmanuskripts. Am Ende ist das Buch kein Roman mehr, sondern eine Lebensgeschichte.
Es ist auch ein Buch über Sterbehilfe. Die beschreiben Sie als etwas Selbstverständliches
Ja, in Holland ist das selbstverständlich, aber in Deutschland nicht. Auch deshalb bin ich stolz darauf, dass die Deutsche Krebshilfe das Buch adoptiert hat. Sie sagt, dass ich keinen Leitfaden für Sterbehilfe geschrieben habe. Aber dennoch habe ich wohl den Vorgang so beschrieben, wie man es noch nie gelesen hat.
Ich habe das Buch als Plädoyer für Sterbehilfe wahrgenommen, weil eine junge, starke Frau bewusst entscheidet, wann für sie Schluss ist.
Mir geht es nicht um die Auseinandersetzung, ob Sterbehilfe gut oder schlecht ist. Ich verstehe, dass es für deutsche Politiker ein sehr schwieriges Thema ist. Nachdem die Nazis
ihre Morde an Behinderten als Euthanasie, als Sterbehilfe bezeichneten, ist das in Deutschland sehr problematisch. Insofern ist es gut, dass ein Ausländer wie ich darüber
schreibt. Dann können die Leute selbst darüber nachdenken und sich fragen: Was ist so schlimm daran?
Worum geht es im nächsten Buch?
Das neue Buch fängt da an, wo „Mitten ins Gesicht“ aufgehört hat. Fertig ist die Geschichte erst am Ende des zweiten Buches. Das heißt „Der Witwer“. Witwer ist ein Wort, das nur für Leute im Alter von 70 oder 80 Jahren benutzt wird. Zu 30- oder 40-Jährigen sagt man das
nicht. Aber die Betroffenen sind es tatsächlich.