Mit 101 Jahren ist Hans Keilson gestorben. Der Ehrenbürger Bad Freienwaldes erlebte noch das Erscheinen seiner Erinnerungen. Der Jude emigrierte 1936 nach Holland und überlebte die deutsche Besatzung im Untergrund. Seine Bücher stoßen vor allem in den USA auf großes Interesse. Er wird als „Weltschriftsteller“ geehrt. „Da steht mein Haus“ ist der Titel seiner Erinnerungen, die im April bei S. Fischer erschienen sind. Hans Keilson meint damit sein Haus in Bussum bei Amsterdam, in dem er mehr als die Hälfte seines langen Lebens verbrachte. Es ist ein typisch niederländisches Klinkerhaus, das an einer ruhigen Kreuzung knapp zehn Minuten vom Bahnhof entfernt, umgeben von Einfamilien- und kleinen Reihenhäusern, liegt. Der Garten und das Haus selbst strahlen eine bescheidene Zufriedenheit aus. Alles wirkt, als wären die Bewohner mit sich im Reinen.
Das MOZ-Interview zum 100. Geburtstag
Obwohl er vor den Nazis fliehen musste und seine Eltern, die er in die Niederlande nachholte, nicht vor der Ermordung in Birkenau retten konnte, bestimmte nicht die Verbitterung sein Leben. „Das Gefühl der Schuld, dass ich meine Eltern nicht gerettet habe, das ist immer da,“ sagte er einmal. Doch Keilson begann deshalb nicht zu hassen. Im Gegenteil: Er bekämpfte mit den Mitteln der Psychoanalyse und der Literatur den Hass: „Weil der Hass eine selbstvernichtende Doktrin ist.“ Wer hasst, mache sich die Definition des Feindes zu eigen. Davon war er überzeugt. Deshalb setzte er Zeit seines Lebens seinen Verstand ein, um sich nicht vom Denken derer, die ihm Böses wollten und seinen Eltern taten, leiten zu lassen.
1909 kam Hans Keilson in Bad Freienwalde auf die Welt. Sein Vater hatte zwei Geschäfte im Ort. Seine Mutter kümmerte sich um diese, als der Vater im 1. Weltkrieg an der Westfront in den Schützengräben kämpfen musste. Die Welt war beengt für die wenigen Juden in Bad Freienwalde. Dennoch erinnerte sich Keilson auch im persönlichen Gespräch gern an sie zurück. Über den letzten Besuch seiner Heimat im September 2010 sagte er: „Als ich zu Besuch war, waren alle Kindheitserinnerungen wieder da, an jeder Ecke.“ Diese Erinnerungen schilderte er in seinem letzten Buch. Er beschreibt die bescheidenen Verhältnisse, in denen er aufwuchs. Er schildert die sich ändernde Stimmung den drei Juden in seiner Klasse gegenüber. Während im und kurz nach dem 1. Weltkrieg kaum Antisemitismus zu spüren war, nahmen die Zurücksetzungen, das Ausgegrenztwerden bis zum Abitur 1928 stetig zu. Hans Keilson war ein warmherziger, auch im hohen Alter noch sehr auf das Leben neugieriger Mann. Bei einem fast dreistündigen Interview kurz vor dem 100. Geburtstag schaffte es der Autor, Sportlehrer und Analytiker, mehr Fragen an mich zu richten als umgekehrt. Er wollte wissen, wie sich die Heimat verändert. Ihn interessierte, was der 60 Jahre jüngere über die Vergangenheit weiß. Ihn faszinierte, wie Internet und Technik das Leben erleichtern und Entfernung und Nichtwissen schrumpfen lassen.
Dazu passt auch, dass er mit über 80 anfing, am Computer zu arbeiten. Kein Wunder: Die Praxis betrieb der Psychiater bis weit über 90. Den bescheidenen Mann trieb eine ungeheure Energie an. Erst 1979 – mit fast 70 Jahren – promovierte er: „Sequentielle Traumatisierung bei Kindern“ ist das Ergebnis seiner jahrzehntelangen Arbeit mit jüdischen Kindern, die aus den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten in die Niederlande zurückkehrten. Die meisten von ihnen hatten ihre Eltern und die ganze Familie verloren. An die wissenschaftliche Arbeit machte er sich so spät noch, weil ihn seine Frau und andere ihm nahestehende Menschen darum baten, seine Erfahrungen aufzuschreiben. Das Ergebnis hat sich bis auf die Rechtsprechung ausgewirkt. Dieses Buch schätzte er selbst als sein wichtigstes ein.
1933 erschien bei S. Fischer sein erster Roman, der letzte eines Juden für lange Zeit. Die Übersetzungen seiner Bücher stoßen derzeit vor allem in den USA auf großes Interesse. Ein Interview mit ihm erschien sogar auf der Titelseite der „New York Times“. Seine Romane und Erzählungen zeichnet ein klare Sprache und ein feiner Humor aus. Auch in ihnen gibt er dem Leser nicht vor, was er zu denken hat. Er eröffnet – wie seinen Patienten – Wege, die Welt zu verstehen, weil man über seine Fragen nachdenkt. Wer sich darauf einlässt, begreift, dass Hass kein Weg ist, um leben zu können.
Wenn Hans Keilson von seinen Berliner Jahren erzählte, dann strahlten die fast erblindeten Augen. Wie er als Trompeter einer Jazz-Band das Studium finanzierte erfreute ihn auch mit 100 noch. Und wie ihm die Großstadt die Chance gab, durch das Studium das Rüstzeug zum Überleben im Untergrund zu geben, machte ihn dankbar. Mit Hans Keilson ist ein Mensch gestorben, der Ungeheuerliches erlebte, der gute Bücher schrieb, der als Arzt und Psychiater vielen Kindern den Weg zurück ins Leben erleichterte, der als Chef des deutschen Exil-P.E.N. politisch seine Stimme erhob und der vor allem als Mensch eine große Wärme, tiefe Neugier und sanften Humor ausstrahlte. Beerdigt wird Hans Keilson auf dem jüdischen Friedhof in Amsterdam neben seiner ersten Frau. Das war schon lange sein Wunsch. Seine Heimatstadt hat die Bibliothek nach ihm benannt. Und einen Findling haben sie dort für ihn aufgestellt. „Das Schöne ist, dieser Findlingsblock ist so groß, dass er bleiben wird – er ist einfach zu schwer, um ihn zu stehlen,“ freute sich Keilson noch kurz vor seinem Tod.
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