“Wer wir sind” (4) – Wie Rote Kapelle und Kreisau verbunden sind

Sabine Friedrich: Wer wird sind
Sabine Friedrich: Wer wird sind

Mit Hilde Coppi beginnt mein vierter Teil von „Wer wir sind“. Es sind ja immer 250 Seiten, die ich in einem kleinen Text über meine Leseerfahrungen mit dem 2000-Seiten-Buch von Sabine Friedrich aufschreibe. Bis Seite 800 geht quasi das erste Buch das auch als solches hätte verkauft werden können. Es ist in sich geschlossen und ein literarisches Denkmal für die Rote Kapelle.

Die letzten 50 Seiten dieses Teils handeln vor allem von Hilde Präsens der Frau. Sie schildert die Verlegung in das Frauengefängnis. Sie beschreibt die Entbindung und das Leben mit ihrem Kind. Und sie macht den Leser fassungslos, wenn er lesen muss, wie Mutter und Kind auseinandergerissen werden. Denn nach einigen Monaten kann Hilde Coppi nicht mehr stillen. Das ist der Moment, in dem sie ihr Leben verliert. Durch Hinrichtung. Für die Nazis hat sie dann genug Leben gespendet.  Brutaler und erschütternder ist bis dahin nichts in „Wer wir sind“. Sabine Friedrich lässt die Ereignisse und die Gefühle der Betroffenen für sich sprechen. Wie vermeidet jede Dramatisierung, obwohl sie das Leben in der Zelle natürlich einfühlsam erfindet. Aber eben nie so, dass sie selbst das Geschehen dominieren könnte.

Hilde Coppi. Quelle: Wikipedia
Hilde Coppi. Quelle: Wikipedia

Und dann beginnt das zweite Buch. Jetzt schreibt Sabine Friedrich über den adligen Widerstand in der Abwehr, der Wehrmacht und dem Auswärtigen Amt, der viel zu spät am 20. Juli 1944 versuchte Deutschland von Adolf Hitler zu befreien. Helmuth James Graf von Moltke begleitet sie zunächst. Und seine Frau Freya. Ihrer beider Einführung in den Roman stellt einen Bruch dar. Was angesichts des abgeschlossenen, tödlichen Handlungsstrangs der Roten Kapelle nicht verwunderlich ist. Jetzt schreibt Friedrich ganz behutsam über die Herkunft der beiden, zeichnet ihren Weg nach – und dennoch verwebt sie auch dies mit dem zuvor gelesenen. Auch die Moltkes haben Bekannte, die bereits eine Rolle spielten. Aber der Tonfall ist jetzt noch ruhiger, ja philosophischer als im ersten Teil.

Mehr zu „Wer wir sind“:
1 Ein verblüffend leichter Einstieg
2 Das Gewebe der Roten Kapelle
3 Das Ende der Roten Kapelle
5 Der Weg nach Kreisau
6 Zwischen Kreisauer Idylle und Morden in Russland
7 Das Attentat
8 Wut und Trauer über das Scheitern
Sabine Friedrich überzeugt im Berliner Literaturhaus

„Wer wir sind“ (3) – Das Ende der Roten Kapelle

Sabine Friedrich: Wer wird sind
Sabine Friedrich: Wer wird sind

Immer dieses Präsens. Auf den ersten 500 Seiten gab es einige Momente, in denen ich es verfluchte. An Szenenwechsel, Personenwechsel und teilweise Zeitsprüngen über Jahrzehnte muss sich der Leser erst gewöhnen. Aber wenn man in den Lesefluss kommt, dann spielt das ständige Präsens keine Rolle mehr. Dann tritt ein Effekt wie in einem Film ein, in dem Szene für Szene auch in der jeweiligen Gegenwart spielt, selbst wenn es eine Rückblende ist.

Gerade in den Passagen bis zu Seite 750 von „Wer wir sind“ wird das Präsens sogar besonders wirkungsmächtig. Denn Sabine Friedrich nimmt auf ihnen das Ende der Roten Kapelle in den Blick. Unglaublich, dass der lose Ring daran scheiterte, dass der sowjetische Geheimdienst – wenn auch verschlüsselt – Namen und Adressen funkte! Nach der Entschlüsselung war es für die Gestapo nicht schwer, die Akteure festzunehmen.

Harald Poelchau Quelle: Kreisau-Initiative
Harald Poelchau. Quelle: Kreisau-Initiative

Haft, Verhöre, Gerichtsverhandlungen – von allen Auswirkungen des Unrechtsstaates erzählt Sabine Friedrich. Und genau hierbei ist das Präsens stark und anrührend. Beim Lesen verschwimmt jede Distanz. Man wird zum anwesenden Beobachter, nimmt ein bisschen die Perspektive von Harald Poelchau ein, dem Gefängnispfarrer, der zum Bindeglied der Inhaftierten untereinander und deren Familien wird. Und letztlich zum letzten Begleiter der zum Tode Verurteilten. All das ist sehr dicht geschrieben und nimmt den Leser gefangen.

Erstaunlich ist auch weiterhin das Beziehungsgeflecht derer, die sich gegen Hitler engagierten. Falk Harnack, der kleine Bruder von Arvid Harnack, einem der wichtigsten Akteure der losen Gruppe, die von den Nazis dann „Rote Kapelle“ genannt wurde, war mit den Scholls von der Weißen Rose in München befreundet. Deshalb nimmt Sabine Friedrich auch die Münchner Studentengruppe in den Blick.

Libertas Schulze-Boysen. Quelle: Wikipedia
Libertas Schulze-Boysen. Quelle: Wikipedia

Und immer wieder erschreckend ist das Wiedererkennen von Gebäuden oder Landschaften, in denen sich das damalige Leben abspielte. Und die heute genauso belebt sind, oftmals ohne die Erinnerung an deren einst mutige Bewohner zu bewahren. Etwa auf der Insel im Teupitzer See, auf der sich Libertas Schulze-Boysen ein Grundstück gekauft hatte.

Mehr zu „Wer wir sind“:
1 Ein verblüffend leichter Einstieg
2 Das Gewebe der Roten Kapelle
4 Wie Rote Kapelle und Kreisau verbunden sind 
5 Der Weg nach Kreisau
6 Zwischen Kreisauer Idylle und Morden in Russland
7 Das Attentat
8 Wut und Trauer über das Scheitern
Sabine Friedrich überzeugt im Berliner Literaturhaus

 

Wer wir sind (2) – Das Gewebe der Roten Kapelle

Sabine Friedrich: Wer wird sind
Sabine Friedrich: Wer wird sind

Nach den ersten 250 Seiten spielt der beeindruckende Umfang von „Wer wir sind“ keine Rolle mehr. Sabine Friedrich erzählt immer eine konkrete Szene, um dann zu einer ganz anderen zu wechseln. Dabei überspringt sie Jahre, dabei wechselt sie Schauplätze. Die nächste Szene mit anderen Menschen aus dem Widerstand ist wieder ganz konkret. Wieder wird sie in der Gegenwart erzählt und wieder ist die Szene abgeschlossen.

So reiht sich eine Begebenheit an die andere, so verwebt sie das Leben der Akteure der „Roten Kapelle“ zu einem erstaunlich dichten Gewebe. Selbst wenn man angesichts der vielen Namen manchmal den Überblick zu verlieren droht – oder gar verliert, ist es nicht schlimm. Denn schon die nächste Szene eröffnet eine neue Perspektive auf die Menschen, die sich mit Hitlers Diktatur nicht arrangieren wollten oder konnten.

Arvid von Harnack.Quelle: Wikipedia
Arvid Harnack.Quelle: Wikipedia

Erstaunlich, wie viele Beamte und Juristen im Widerstand eine wichtige Rolle spielten, so wie Hans von Dohnanyi. Er diskutierte mit Kollegen und Vorgesetzten im Oberkommando der Wehrmacht recht offen über seine Sicht auf Hitler. Auch Arvid von Harnack, Oberregierungsrat im Wirtschaftsministerium, ist Jurist. Was sie antreibt, wenn sie ausländischen Botschaften wichtige Informationen zukommen lassen, wird in Sabine Friedrichs Buch einfach und klar verständlich – und auch welches Risiko sie dabei eingehen.

Auch die zweiten 250 Seiten sind also nicht langweilig. Sie lesen sich schnell. Und auch sie sind mit ihrer Bandbreite von Verliebtheit bis Zwangsarbeiter-Elend so emotional anrührend, dass das Weiterlesen ein unbedingtes Muss ist.

Mehr „Wer wir sind“:
1 Ein verblüffend leichter Einstieg
3 Das Ende der Roten Kapelle
4 Wie Rote Kapelle und Kreisau verbunden sind 
5 Der Weg nach Kreisau
6 Zwischen Kreisauer Idylle und Morden in Russland
7 Das Attentat
8 Wut und Trauer über das Scheitern
Sabine Friedrich überzeugt im Berliner Literaturhaus

Wer wir sind (1) – Ein verblüffend leichter Einstieg

Sabine Friedrich: Wer wir sind
Sabine Friedrich: Wer wir sind

Das Buch ist so schwer. Mehr als 1250 Gramm. In der Zeit, von der „Wer wir sind“ erzählt, hätte man zweieinhalb Pfund gesagt. 2000 Seiten Dünndruckpapier wurden mit dem Text bedruckt. Sabine Friedrich hat auf Ihnen ein Panorama des deutschen Widerstands gegen Hitler und die Nationalsozialisten entworfen. Es ist also nicht nur das Buch schwer, auch der Inhalt ist alles andere als leicht.

Zwei Wochen habe ich hin und her überlegt, ob ich das Buch wirklich lesen will, ob ich tatsächlich dieses Gewicht mit mir tragen will. Die ersten 250 Seiten zeigen, dass es sich lohnt. Schon der Einstieg ist verblüffend. Das Buch beginnt nicht mit einer explodierenden Bombe, sondern in den USA. In Milwaukee, einer Stadt, in der bis zum 1. Weltkrieg mehr Deutsch als Englisch gesprochen wurde. Aber jetzt, 1917, verändert sich nach dem Eintritt der USA in den Krieg die Wahrnehmung der Einwohner. Deutsche Schilder werden englisch überschrieben. Und Mildred Fish, die spätere Frau von Arvid Harnack, sehnt sich dennoch nach Europa, nach Deutschland.

Dieser Einstieg nimmt dem Buch etwas von der Schwere. Man befindet sich in einer anderen Welt. Man ist weit weg von der Politik und schweren Gewissensentscheidungen. Auf den ersten 250 Seiten geht es so weiter. Schritt für Schritt werden Personen eingeführt, die im Dritten Reich aktiv gegen das Regime gekämpft haben. Verblüffend dabei ist, wer sich alles kannte, wer mit wem verwandt war, wer einst den gleichen Schulweg hatte oder als Kind im Garten des Nachbarn spielte. Die Harnacks und die Bonhoeffers, die von Dohnanyis und viele andere. Sie alle verwebt Sabine Friedrich auf diesen ersten 250 Seiten zu einem Netzwerk, das sie in der Realität auch waren. Nur habe ich das in noch keinem Geschichtsbuch so gelesen. Von Zeile zu Zeile nimmt das Gewicht des Themas ab. Und der Sog mehr erfahren zu wollen nimmt zu.

Mehr zu „Wer wir sind“:
2 Das Gewebe der Roten Kapelle
3 Das Ende der Roten Kapelle
4 Wie Rote Kapelle und Kreisau verbunden sind 
5 Der Weg nach Kreisau
6 Zwischen Kreisauer Idylle und Morden in Russland
7 Das Attentat
8 Wut und Trauer über das Scheitern
Sabine Friedrich überzeugt im Berliner Literaturhaus

Wer wir sind – Sabine Friedrich überzeugt im Berliner Literaturhaus

Susanne Friedrich bei der Lesung im Berliner Literaturhaus
Susanne Friedrich bei der Lesung im Berliner Literaturhaus

Zwei Stunden Geschichte über eine unglaubliche Anzahl von Geschichten sollten die Scheu vor 2019 Seiten Dünndruck-Roman nehmen. Zwei Stunden über den Widerstand gegen Hitler und die Nationalsozialisten sollten die Gedanken öffnen für die Frage, was Menschen dazu bringt moralisch integer zu bleiben und bis zum Äußersten zu gehen. Zwei Stunden über den Übermut einen Roman aus dem Leben von Dietrich Bonhoeffer über Arvid Harnack, Claus Schenck Graf von Stauffenberg, Helmut James Graf von Moltke bis hin zu Harald Poelchau.

Sabine Friedrich sitzt aufrecht auf ihrem Stuhl. Sie spricht frei über den Roman „Wer wir sind“. Sie ist sicher, dass dieses Buchprojekt nur so zu bewältigen war. Manfred Görtemaker, der Historiker von der Uni Potsdam, ist im Berliner Literaturhaus verblüfft über das, was Sabine Friedrich da aus den Biografien, Briefen, Nachlässen und vielen Gesprächen geformt hat. Ihm geht es da wie dem Publikum, das sich meist schon mit dem dicken Buch befasst hat. Das Erstaunlichste daran ist, dass und wie Sabine Friedrich aufzeigt, wie sich viele der späteren Widerstandskämpfer schon aus der Kindheit kennen – zumindest über ein oder zwei Ecken. Das nötigt auch Manfred Görtemaker Respekt ab, da sie hier eine Arbeit gemacht hat, die selbst den Historikern in diesem Umfang nicht bekannt war.

Die Textpassagen, die sie liest, machen neugierig. Die Fülle der Seiten wird dadurch nicht kleiner, aber sie scheinen durchdringbar zu sein.  Und die Fragen über Moral und Tapferkeit, über Leiden und Kraft, über Gewissen und Leben wollen beantwortet werden. Das geht nur, wenn ich das Buch jetzt lese. So soll es sein.

P.S. Der Lesung und dem Gespräch folgte das Publikum sehr konzentriert. Bis der Stoffel kam, die Tür aufriss und sich lärmend niederließ. Der Stoffel ist dann sofort wieder raus, um kurz danach erneut die Lesung zu stören. Der Stoffel trägt übrigens Scheitel. Er hat eine Brille und ein weißes Hemd mit bunten Punkten. Er ist sich selbst genug. Der Rest im Raum ist ihm egal. Erst gegen Ende wird der Stoffel demütig. Da holt er sich ein Autogramm ab. Von der Autorin. Von Sabine Friedrich, die sich auch durch seinen Auftritt nicht stören ließ.

Mehr zu „Wer wir sind“:
1 Ein verblüffend leichter Einstieg
2 Das Gewebe der Roten Kapelle
3 Das Ende der Roten Kapelle
4 Wie Rote Kapelle und Kreisau verbunden sind 
5 Der Weg nach Kreisau
6 Zwischen Kreisauer Idylle und Morden in Russland
7 Das Attentat
8 Wut und Trauer über das Scheitern

Fritz Rudolf Fries sucht den Weg nach Oobliadooh

Fritz Rudolf Fries: Der Weg nach Obliadooh
Fritz Rudolf Fries: Der Weg nach Oobliadooh

Was für eine Sprache! Was für ein Rhythmus! Nach den ersten Seiten von Fritz Rudolf Fries‘ Roman „Der Weg nach Oobliadooh“ ist eine kleine Pause nötig. Ein Innehalten, um sich zu vergewissern, dass dies ein Roman ist, dass dies ein Stück deutsche Literatur ist, die in der DDR geschrieben wurde, aber in der Bundesrepublik erschienen ist.  Denn auf diesen ersten Seiten dominieren spanische Namen, spanische Erinnerungen. Und eine Art des Schreibens, die ganz neu klingt.

Fries wollte seinen Debüt-Roman ursprünglich in der DDR erscheinen lassen. Aber der angefragte Verlag wollte sich nicht die Finger verbrennen. Und so entschied sich der Angestellte der Akademie der Wissenschaften, es bei Suhrkamp verlegen zu lassen. 1966 – fünf Jahre nach dem Mauerbau – war das mehr als ein harmloser Akt des Ungehorsams gegenüber der SED. Fries musste die Konsequenzen tragen. Mit 31 Jahren verlor er seine Stelle als Wissenschaftler.

Angesichts des Inhalts ist es nicht erstaunlich, dass den Kulturverantwortlichen in der DDR das Buch ein Dorn im Auge war. Da werden Funktionäre als dick und unbeweglich dargestellt. Und vor allem sind da zwei Helden die sich in ein Leben gönnen, das nicht in die gewünschte Konformität passt. Sie sind in den Jahren 1957/58 auf dem Weg nach Oobliadooh. Sie suchen einen Weg, der im Jazz und im Denken Freiheit ermöglicht – und in der Liebe so viel wie möglich. Der Buchtitel ist ein Zitat aus einem Song des Bebop-Jazzers Dizzy Gillespie. Im Song ist dieser fiktive Ort ein Ort der Phantasie. Im Roman ist er der Bezugspunkt für den Raum des Denkbaren und des grenzenlos Phantasievollen.

Die Sprache, die Fries dafür fand, ist eine sehr eigene. Sie muss durchdrungen werden wie die Melodien und Synkopen des Jazz. Wer sich auf den Rhythmus einlässt, wer den Sound der Phantasie zulässt, wird mit einem fulminanten und verwirrend großartigem Roman belohnt. Der noch dazu in der Anderen Bibliothek wunderbar gestaltet wurde.

Mehr über Bücher der Anderen Bibliothek

Jonas Jonassons Schelmenroman unterhält mit viel Witz

Jonas Jonasson: Der Hundertjhrige der aus dem Fenster stieg und verschwand
Jonas Jonasson: Der Hundertjhrige der aus dem Fenster stieg und verschwand

So ein Leben, auf das dieser Allen Karlsson zurückblicken kann. Er hat Franco das Leben gerettet, mit Truman Tequila gesoffen, Stalin verärgert, Nordkoreas Kim getroffen, von Mao eine kräftige Apanage kassiert und mit Churchill Auto gefahren. Ach ja: Allen Karlsson hat den Amerikanern und den Russen den Schlüssel zum Bau der Atombombe geliefert.

Das ist alles unglaublich. Aber damit nicht genug: Karlsson flieht an seinem 100. Geburtstag aus dem Altenheim und legt sich mit Drogenganoven an. Dabei lernt er neue Freunde kennen, mit denen er die Beute fröhlich teilt – und das Leben wieder genießt.

Jonas Jonasson hat wirklich einen erstaunlichen Roman geschrieben. Der Schelm Allan fällt von Abenteuer in Abenteuer und nimmt den Leser auf seinem Lebensweg mit. Mit großer Naivität stolpert er durch sein Leben. Weil er nicht zu viel nachdenkt, übersteht er alle seine Abenteuer – auch wenn mal einige Jahre GULAG in Sibirien dazu gehören. Jonasson hat den amüsanten Plot zu einem stringenten Roman gefügt, der immer wieder neue Überraschungen enthält. Das Lesen wird zu einer fröhlichen Lust, die sich durch Schmunzeln und Lachen zeigt.

Anfangs dachte ich, das ist doch alles ziemlich dick aufgetragen. Aber das ist beim  Simplizissimus auch der Fall. Oder bei Oskar Matzerath. Allen Karlsson gehört in die Reihe dieser Schelme, die ein Zeitpanorama schaffen. Und den Leser dabei herrlich unterhalten.

Jakob Arjounis heiliger Eddy ist ein liebenswerter Gauner

Jakob Arjouni: Der heilige EddyDieser Roman hat nur knapp 250, sehr groß bedruckte Seiten. Er liest sich also schnell weg – und bleibt doch fest im Kopf. Jakob Arjounis „Der heilige Eddy“ ist eine Mischung aus Krimi und Schelmenroman, in der ein sympathischer Kleinkrimineller einen Fehler macht – mit katastrophalen Konsequenzen.

Denn Eddy irritiert einen reichen Mann so sehr, dass dieser stürzt und dabei stirbt. Da dieser Mann ein in Berlin sehr umstrittener Unternehmer ist, wird nach Auffinden der Leiche in den Medien spekuliert, ob rechte oder linke Terroristen für den Tod verantwotlich sind. Und schon spielt Arjouni mit Kapitalismuskritik und Medienschmäh. Da er ein glänzender Autor ist, der wie wenige in Deutschland wunderbar leicht und ironsich erzählen kann, entsteht aus all diesen Zutaten nichts moralisierend Belehrendes, sondern  erheiternd Unterhaltendes. Wirklich wunderbar!

Jakob Arjouni: Der heilige Eddy, Diogenes.

Josef Bierbichlers Heimatroman ist voller Wut

Josef Bierbichler: Mittelreich
Josef Bierbichler: Mittelreich

Der Josef Bierbichler hat auf der Bühne eine unglaubliche Präsenz und Wucht. Auch vor der Kamera merkt man ihm immer an, dass in ihm eine Kraft sitzt, die rigoros, massiv, uns wütend ist. In einem Alter, in dem andere an die Rente denken, ja die meisten schon Rentner sind, hat der 1948 geborene Oberbayer seinen ersten Roman vorgelegt. Und auch der ist von dieser wütenden Wucht geprägt.

Bierbichler erzählt die Geschichte des Seewirts am Starnberger See über drei Generationen. Er dokumentiert die Veränderung, die der aufkommende Tourismus und die Motorisierung der Landwirtschaft bedeuteten. Er führt ein in eine bäuerliche Gesellschaft, die mit Politik nicht viel zu tun haben will, aber genau deshalb für den Nationalsozialismus so anfällig ist. Er beschaut eine Welt, in der die katholische Kirche die stabilisierende Kraft ist – und für Semi, den Sohn des Seewirts, die zerstörende, weil der in einer Klosterschule sexuell missbraucht wird. Und er zeigt sozialen Druck, der bis zu Mord und Selbstmord führen kann.

Der Roman ist also voller schwerer Themen. Aber Bierbichler scheitert daran nicht. Im Gegenteil: Wie der große Autor vom Starnberger See, wie Oskar Maria Graf, zeichnet Bierbichler ein Sittenbild, das vor Farbe und Kontrasten nur so strotzt. Allerdings sind diese Farben nur selten warm und bunt. Meist sind sie braun, ocker oder grau in allen Schattierungen. Denn das Leben in dieser Gesellschaft ist hart, obwohl der Seewirt zu den Besitzenden, ja zu den Mittelreichen gehört.

All das lebt vom Sprachvermögen Bierbichlers. Und vom Stoff, der im Kern ja ein Heimat-Stoff ist. Bierbichler leidet an der Heimat, die es nicht zuließ, dass der Seewirt zum Sänger ausgebildet werden konnte. Familie, Erbe und Besitz sind wichtiger als das Ausleben der eigenen – noch dazu künstlerischen – Talente. Aber Bierbichler liebt diese Heimat auch. Sonst könnte er sich nicht so an ihr reiben. Das aber tut er, der nicht nur zufällig genauso alt ist wie Semi. Aber anders als der ist Bierbichler nicht im Suff und in der Depression versunken. Dazu hatte und hat er zu viel Kraft. In diesem Roman kommt man der nicht aus. Sie fängt einen ein – und wie!

Josef Bierbichler: Mittelreich. Suhrkamp Verlag. 392 Seiten kosten 22,90 Euro.

T.C. Boyle erheitert mit einem Roman über fanatische Tierschützer

T.C. Boyle: Wenn das Schlachten vorbei ist
T.C. Boyle: Wenn das Schlachten vorbei ist

Wenn jemandem wirklich kein sinnvolles Argument mehr einfällt, dann kommt bestimmt der Spruch vom „Gutmenschen“. Erstaunlich viele, eigentlich intelligent wirkende, Menschen gefallen sich in der Attitüde, sich über andere lustig zu machen, die mehr Gerechtigkeit, weniger Umweltzerstörung oder eine Gesellschaft ohne Rassismus wollen zu diffamieren. Und das, wo es doch gar nicht so schlecht ist, wenn der Mensch gut statt böse ist.

T.C. Boyle hat in seinem neuen Roman Tierschützer und staatliche Naturparkwächter in den Blick genommen. Auf den ersten Blick sind beide Lager Gutmenschen. Die einen versuchen einige Inseln vor Santa Barbara in Kalifornien in einen Zustand zurückzuversetzen, in dem es keine Ratten an Land gab. Die kamen bei der Havarie eines Schiffes mit Treibholz an deren Küste. Und von da verbreiteten sie sich und erwuchsen zu einer Gefahr für die dortigen Vögel. Da es sich dabei  Arten handelt, die es nur auf Anacapa gibt, entschließen sich Alma und ihre Kollegen vom Park-Service, die Ratten auszurotten. Das wiederum bringt Tierschützer auf die Palme. Sie lehnen den Massenmord an den Ratten ab. Denn jede Kreatur hat ein Recht zu leben.

Aus dieser Konstellation baut T.C. Boyle eine wunderbare, teils komische, auf jeden Fall aber lehrreich unterhaltsame Geschichte. Weder die einen, noch die anderen sind wirklich gut. Alle leben sie in ihrem eigenen Kosmos und sind unfähig, die andere Seite wirklich ernst zu nehmen. Beide Seiten steigern sich in unterschiedlich begründete Rigorismen. Und wie das entsteht, wie sich das aufbaut, das ist großartig. Da sind die Protagonisten dann nichts als einfach Menschen, die sich in ihrer Kleinbürgerlichkeit einbunkern und dabei ganz vergessen, dass das Leben mehr ist, als moralische Rechthaberei.

Boyles Figuren sind wie immer klar und gut gezeichnet. Die Geschichte ist schlüssig und zwingend konstruiert. Und so wird aus „Wenn das Schlachten vorbei ist“ ein spannender Öko-Thriller mit allen notwendigen Zutaten. Aber Schiffskatastrophen, Tod, Sex und Liebe sind nicht Hauptzweck, sondern fein gewürzte Zutaten für ein großes Buch.