Der Krieg in der Ukraine hat das Land zwischen Polen und Russland buchstäblich ins europäische Bewusstsein geschossen. Je länger die russische Aggression währt, umso mehr beschäftigen sich Öffentlichkeit und Medien, aber auch die Wissenschaft mit der Geschichte des Landes. Und umso klarer schält sich heraus, dass die Ukraine eine eigenständige Kultur, eine eigene Sprache, ein eigenes Nationalbewusstsein hat, das sich klar gegen Russland abgrenzt. Ein wunderbares Beispiel für die ukrainische Literatur ist der kürzlich erschienene Roman „Im Schatten der Mohnblüte“ von Jurij Wynnytschuk.
Im Mittelpunkt des Buches die Freundschaft von vier jungen Lembergern. Ein Pole, ein Ukrainer, ein Jude und ein Deutscher bilden das Quartett, das in den 1930er-Jahren in der damals polnischen Stadt unzertrennlich sind. Jurij Wynnytschuk schildert die multikulturelle Stadt aus der Sicht der dort lebenden Nationalitäten bis in die 1940er-Jahre hinein. Der Roman handelt also von Krieg und Frieden. Er schildert die Besetzung der Stadt durch die Rote Armee in Folge des Hitler-Stalin-Paktes und fast zwei Jahre später durch die Wehrmacht. Wynnytschuk erzählt vom Wüten des NKWD und davon, wie die gleichen Foltergefängnisse dann von der Gestapo genutzt wurden, um nach dem Fall Lembergs 1944 wieder vom NKWD in Besitz genommen zu werden.
Im Grauen, das die Stadt erlebte, fehlt natürlich auch nicht der Untergang und die Vernichtung der Juden durch die Deutschen. Eine furchtbare Rolle dabei muss der jüdische Freund übernehmen. Er muss bei den Exekutionen zusammen mit anderen Juden in einem Orchester musizieren. Dabei spielt er einen ganz speziellen Tango so, dass er kaum gehört werden kann. Aber dessen Melodie hat eine ganz wichtige Funktion: Wer sie beim Sterben hört, erhält die Chance zur Seelenwanderung in einen anderen Menschen, der dann zwei Seelen in sich trägt. Eine gewagte Geschichte, die Jurij Wynnytschuk aber wunderbar erzählt. Diese Seelenwanderung ermöglicht es den Menschen, vertraute Seelen wiederzufinden. Und so finden auch die Freunde wieder – und zwar in der von der Sowjetunion befreiten Ukraine.
„Im Schatten der Mohnblüte“ vereinigt alles, was gute Literatur ausmacht. Es strotzt vor Fabulierfreude, es öffnet den Kopf für phantastische Gedanken, die sich trotz allem irgendwie wahr anfühlen. Denn wer kennt sie nicht, die Situationen, in denen man sich fremden Menschen verbunden fühlt oder sich in einer fremden Stadt auskennt, als sei man schon dort gewesen. Jurij Wynnytschuk verzaubert den Leser, der sich auf das Gedankenexperiment einlässt. Und er zeigt in seinem Lemberg-Roman ganz deutlich, weshalb die Ukraine kein Wurmfortsatz Russlands ist, sondern eigenständig.
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