Der Krieg Russlands in der Ukraine hat Europa viel nachhaltiger verändert, als es den meisten politischen Beobachtern und der Öffentlichkeit bewusst ist. Davon ist Karl Schlögel überzeugt. Der Osteuropa-Historiker, der bis zu seiner Emeritierung an der Viadrina in Frankfurt (Oder) lehrte, hat in seinem neuen Buch nicht nur eine Einordnung der russischen Aggression vorgelegt, sondern auch eine persönliche Überprüfung des eigenen Denkens über die ukrainische Geschichte. Dazu hat er sich vor allem seiner wichtigsten Methode bedient, der Städteporträts, bei denen er die historischen Schichten der Stadtgeschichte freilegt.
Doch die ersten knapp 100 Seiten seiner „ukrainischen Lektionen“ – so der Untertitel des Buches – sind ein Essay, in dem er fragt, warum die Ukraine nach wie vor nicht als selbständiges Subjekt im Westen wahrgenommen wird. Schlögel schildert, wie auch er Kiew und die anderen Städte der Ukraine immer aus der Sicht des russischen, beziehungsweise sowjetischen Imperiums wahrgenommen hat. Als Orte in der Peripherie wurden sie immer auf Moskau und das Reich bezogen. Ihre Eigenständigkeit ist dabei vergessen worden. Und doch ist die Ukraine ein Land mit einer lange historischen Tradition, mit einer Sprache, die kein russischer Bauerndialekt ist, sondern eigenständig ist. Wer das vergisst und immer nur den Blickwinkel der imperialistischen Herrscher in Moskau einnimmt, denkt die Ukraine zwangsläufig als Teil Russlands – und wird damit einem der größten europäischen Länder nicht gerecht.
Ein weiteres Problem ist nach Schlögels Sicht die Gleichsetzung von Russland und der Sowjetunion, wenn es um den 2. Weltkrieg geht. Schlögel wählt deshalb des Begriff „Sowjetmensch“, wenn er von den Opfern in generalisierter Form spricht. Denn die deutsche Wehrmacht und die SS haben auf dem Gebiet der Sowjetunion vor allem in Weißrussland und der Ukraine ihren brutalen Krieg geführt. Millionen sowjetischer Zwangsarbeiter waren Ukrainer – mehr als Russen. Und bei Rückzug fielen der „verbrannten Erde“ tausende ukrainische Dörfer und Städte zum Opfer. Schlögel wirbt dafür, sich das bewusst zu machen, um die Ukrainer besser verstehen zu können.
In seinen Städteporträts der wichtigsten ukrainischen Städte legt er die historischen Schichten frei, die in ihn zu entdecken sind. Und dabei ist er wiederum sehr genau in den Benennungen. Sowjetische, russische, ukrainische Einflüsse werden als solche benannt, genauso wie jüdische, griechische, polnische oder deutsche. Wer sich mit Schlögel auf den geistigen Stadtrundgang durch Kiew macht, erlebt die enorme Vielfalt der Stadt, sieht die Narben, die deutsche und sowjetische Diktatoren und ihre Schergen hinterlassen haben, lernt wo welcher Opfer gedacht wird – und wie enorm der Blutzoll im Krieg war – und in der Ära Stalins. Schlögel zeigt aber auch die Schönheit und die positiven Hinterlassenschaften. Er enthält sich eines Urteils. Und wird den Städten so gerecht.
Das gilt auch und gerade für Donezk, der inzwischen teilweise zerstörten Stadt des angeblichen Bürgerkriegs, der de facto das Ergebnis russischer Aggression mit russischen Soldaten und russischen Waffen ist. Schlögel war erst in diesem Jahr wieder in der Stadt. Er erzählt von den Menschen, die geflohen sind, von ganzen universitären Lehrkörpern, die ihre Tätigkeit in andere ukrainische Städte verlegt haben. Gerade am Beispiel Donezk macht er deutlich, wie nachhaltig die Veränderungen durch die russische Aggression für ganz Europa sind.
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