Erneut gelesen: Christoph Ransmayrs „Die letzte Welt“

Die Erstausgabe von Ransmayrs "Die letzte Welt"
Die Erstausgabe von Ransmayrs „Die letzte Welt“

Wenn es ein Buch gibt, in dem es ständig regnet, dann war dies für mich immer „Die letzte Welt“ von Christoph Ransmayr. Ganz fest in meiner Erinnerung sind Regen und Schwarzes Meer und „Die letzte Welt“ eins. Umso erstaunlicher war beim erneuten Lesen des Buches, dass es in der ersten Hälfte überhaupt nicht regnet. Und auch in der zweiten nur ab und an. Dann aber ganz massiv und heftig.

Erstaunlich, was sich von einem Buch im Gedächtnis festsetzt. Die neue Lektüre bestätigte aber die Faszination des Textes, den ich 1989 verschlungen hatte. Auch 23 Jahre nach dem ersten Lesen hat „Die letzte Welt“ von Christoph Ransmayr nichts von ihrer Faszination verloren. Im Gegenteil: Das Buch hat gewonnen, weil das Wissen um die historischen und literaturwissenschaftlichen Hintergründe größer geworden ist. Auch heute noch ist der Roman eine treffende Parabel auf die Angst des Diktators vor der Kraft des freien Wortes. Und ein wunderbarer Text über das Weiterleben von literarischen Figuren und Erfindungen.

Ransmayr hat Ovids Metamorphosen in einen zeit- und raumlosen Roman über die Veränderung der Welt verwandelt. In dem Roman geht es darum, dass ein römischer Bürger, Cotta, den verbannten Dichter Ovid sucht. Dazu fährt er ans Schwarze Meer, wo der Dichter auf Geheiß Augustus‘ leben muss. Es gelingt ihm zwar nicht, Ovid zu finden, aber seine Erzählungen, seine Figuren finden sich überall. Ein bisschen ist es wie bei „Alice im Wunderland“: Cotta tritt nach stürmischer Seefahrt in eine andere Welt ein und wird Schritt für Schritt Teil von ihr. Mit jeder Figur, mit jeder Erzählung kommt Cotta so seinem Vorbild Ovid näher, ohne ihn aber jemals zu sehen. Das Buch hat nichts an seiner Kraft verloren. Nur meine eigene Vorstellung vom ständigen Regen musste ich beim Wiederlesen revidieren. Und der Reiz der völligen Aufhebung von Zeit und Raum hat mich jetzt viel mehr begeistert.

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de Sades Schädel hat eine tödliche Faszination

Der Schädel des Marquis de Sade
Der Schädel des Marquis de Sade

Er ist widerlich. Er ist abstoßend. Er ist faszinierend und er ist auch anziehend. Dieser Marquis de Sade, der am 2. Dezember 1814 in einer Irrenanstalt gestorben ist, gehört zu den historischen Figuren, die in jeder Generation neu entdeckt und verdammt wird. Alle setzen sich mit dem Lüstling und Philosophen, mit dem Revolutionär und Irrenhaus-Insassen auseinander.

Der mittlerweile verstorbene französischsprachige Autor Jacques Chessex aus der Schweiz hat das in seinem letzten Roman getan. Wobei Roman für die 127 Seiten eigentlich nicht der richtige Begriff ist. Das Buch handelt vom Schädel des Marquis, der nach seinem Tod ein Eigenleben entfaltet hat. Denn schon sein letzter Arzt hatte fest im Blick zu untersuchen, ob sich an und im Schädel die Abartigkeiten des Sadisten, Sodomisten und vor allem unbändigen Freigeistes materialisiert ablesen lassen. Deshalb bemächtigt er sich des Schädels, um ihn zu sezieren.

Chessex orientiert sich an historischen Begebenheiten. Er schildert den Insassen und Wüstling, der seinen sexuellen Passionen dank gut gefüllter Schatullen immer ausleben konnte. Er erzählt von den pathologischen Experimenten. Und er forscht dem Schädel nach. denn nicht nur der Arzt erliegt dem Totenkopf. Immer wieder bemächtigen sich unterschiedliche Mensches des Knochenstücks. Und immer wieder geschehen Unglücke in seiner Nähe; meist tödliche. Der erste Ausländer als Prix-Goncourt-Preisträger formt so eine Reihe von Episoden zu einer Erzählung über die Strahlkraft und Faszination des Marquis de Sade, die im nekrophilen Glauben an dessen Schädel gipfelt. Das passt natürlich zu dem Mann, der zu den schillerndsten Figuren der Aufklärung gehört.

Chessex verdichtet und verknappt historische und fiktive Begebenheit so sehr, dass dabei ein erstaunliches Porträt de Sades entsteht, obwohl der nur im ersten Viertel des Buches als Person beschrieben wird. „Der Schädel des Marquis de Sade“ ist ein faszinierender, abstoßender und dennoch fesselnder Solitär. Ein Buch, das schnell, in einem Zug gelesen wird und den Leser seltsam erregt und verwirrt zurücklässt.

Kurban Said schrammt die Kitsch-Grenze

Kurban Said: Das Mädchen vom Goldenen Horn
Kurban Said: Das Mädchen vom Goldenen Horn

Er steckt an, dieser Kurban Said alias Essad Bey alias Lew Noussimbaum.Wer seine Biografie kennt und das bekannteste Buch von ihm, „Ali und Nino“ gelesen hat, will mehr von ihm lesen. Und mehr über ihn wissen. „Das Mädchen vom Goldenen Horn“ ist ein weiterer Liebesroman, der sich mit den unterschiedlichen Vorstellungswelten in Orient und Okzident auseinandersetzt.

Der Roman spielt nach dem Untergang des Osmanischen Reiches. Asiadeh ist die Tochter eines vormaligen Ministers. Sie lebt mit ihrem Vater in Berlin und studiert die Sprachen, die im einstigen Großreich des Goldenen Halbmonds gesprochen wurden. Vater und Tochter trauern Istanbul nach. Aber Asiadeh lässt sich dennoch auf einen jungen Arzt aus Wien ein, der ihr den Hof macht und sie schließlich heiratet. Das geht für die junge Frau aber erst, nachdem sie der Mann, dem sie einst versprochen worden war, freigibt.

Der lebt als Drehbuchautor in New York und ist eigentlich ein türkischer Prinz. Spätestens jetzt wird klar, dass der Roman erhebliches Kitsch-Potenzial enthält. Doch wie so oft liegt es am Autor, ob der Kitsch zu einer klebrigen Soße wird, oder ob aus dem Kitsch ehrliche Gefühle und etliche kluge Gedanken destilliert werden. Kurban Said beherrscht das Destillieren. Das liegt an seiner klaren Sprache. Er hat es nicht nötig Gefühle durch Adverbien zu erzeugen. Seine Sätze sind Beobachtungen der Figuren, die diese nachvollziehbar beschreiben. Seine intimen – in diesem Fall trifft dieser Begriff es wirklich – Kenntnisse von Orient und Okzident verblüffen den Leser immer wieder mit ihren modernen und nach wie vor gültigen Erklärungsmustern. Bei Kurban Said taucht man in einen Orient ein, den es so nicht mehr gibt, dessen mentale Grundlagen aber auch heute noch vielfach anzutreffen sind.

Natürlich begreift der Prinz irgendwann, dass sein Leben voller Alkohol und Filmen leer ist. Diese Leerstelle soll Asiadeh füllen. Da ist viel vorhersehbar. Und dennoch legt man das Buch am Ende zur Seite und bereut die Lektüre nicht. Als das Buch Ende der 1930er-Jahre erschien, hatte Lew Noussimbaum schon etliche Jahre in Berlin, Wien und New York verbracht. Seine Beobachtungen des Lebens und der Lebenslügen der Menschen sind das Nachhaltige. Und die Modernität. Zwar werden noch keine SMS verschickt, aber Telegramme können die gleiche Wirkung entfalten.

Julian Barnes nimmt die Furcht vor dem Tod

Julian Barnes: Nichts, was man fürchten müsste
Julian Barnes: Nichts, was man fürchten müsste

„Ich glaube nicht an Gott, aber ich vermisse ihn.“ Schon wegen dieses ersten Satzes muss man das letzte Buch von Julian Barnes mögen. Wie lässt sich der Zweifel und die letzte Hoffnung auf einen übergeordneten und regelnden Sinn des Daseins besser auf den Punkt bringen?

Julian Barnes wird eindeutig älter. Mit Mitte 60 rückt der Tod in den Blick des britischen Romanciers. Mit seinem Humor und einer guten Anordnung seiner Figuren schafft er es, ein packendes und sehr hintergründiges Buch über das Sterben zu schreiben, das ich nicht mehr aus der Hand legen wollte, ehe ich viele neue Perspektiven auf das endgültige Ende präsentiert bekam. Ausgangspunkt des autobiografischen Romans ist die Auseinandersetzung mit seinem Bruder, einem Philosophen, um den Tod. Dem setzt er auch das obige Zitat entgegen, wenn der die Sinnsuche als überflüssig abtut.

Das ganze Buch ist eine Diskussion der Interpretation des Todes. Der Ich-Erzähler ist Schriftsteller. Er liest die großen Dichter, um sich dem Tod zu nähern. Sein Bruder, der Atheist und Rationalist, hält sich an den Philosophen fest. Das klingt sehr trocken. Ist es aber nicht. Und genau da zeigt sich die schriftstellerische Klasse von Julian Barnes. Er packt dieses Auseinandersetzung in eine Famlienchronik. Und so werden die sich wandelnden Einstellungen zum Tod an einem Jahrhundert Familiengeschichte greifbar. Die damit verbundenen Gefühle und der so verschiedene Umgang andersartiger Menschen mit dem Tod wird warm und voller liebenswerter Ironie geschildert. Und in den Worten und Gedanken der großen Dichter und Phliosophen gespiegelt.

Das ist wunderbar leicht trotz des schweren Themas. Wahrscheinlich kann nur ein frankophiler Brite so ein feines Buch über unser aller Ende schreiben.

Schweskas Roman schildert den Niedergang der DDR anhand der IT-Subkultur

Marc Schweska: Die letzte Instanz
Marc Schweska: Die letzte Instanz

Über die Widerständigen in der DDR ist schon viel geschrieben worden. Meist handelt es sich um Bürgerrechtler, Umweltschützer, Hippies oder auch Skinheads. Musik und Kirche ist immer wichtig. Aber dass die ersten Computerfreaks der Arbeiter- und Bauerndiktatur Teil der Berliner Subkultur von Prenzlauer Berg und Friedrichshain waren, war mir neu. In Marc Schweska Roman „Zur letzten Instanz“ erweckt er die untergehende DDR zum Leben. Der Roman gehört zu den überraschendsten Büchern der „Anderen Bibliothek“ der vergangenen Jahre. Denn die Collage um Lem, den Sohn eines einst wichtigen Kybernetikers, der am Theater arbeitet, in einer Band spielt und vor allem in seiner Freizeit Computer und Elektrogeräte bastelt, zeigt alle Aspekte des absurden Staates zwischen Elbe und Oder.

Dabei entwirft Schweska nicht nur ein Panorama des Untergangs. Er schreibt auch eine Geschichte der Kybernetik, die als gemeinsame Sprache jenseits der Ideologien für einen Moment in Ost und West von einigen Wissenschaftlern als Möglichkeit gesehen wurde, anhand der logischen Informationstechnologie den starren ideologischen Systemen eine Alternative an die Seite zu stellen. Das ist natürlich nicht immer ganz einfach zu lesen. Denn Schweska scheut auch nicht davor zurück, mal eine Seite Programmcode abzudrucken. Aber in Kombination mit Überwachungsprotokollen der Stasi und absonderlichen Nachrufen entsteht ein facettenreiches Bild. Schweska kann sprachlich für unterschiedliche Akteure auch eigene Dukti entwerfen. Das sorgt für mehr Spannung.

Obwohl das Buch kein spannendes, sondern eher ein verwunderliches ist. Es hat etwas von einem Bildungsroman. Nur dass der sich bildende nicht ein einzelner Mensch ist, sondern eine Idee, die sich in den Menschen zweier Generationen ausbreitet. Wobei der Sohn die Errungenschaften des Vaters nur als Pervertierung kennenlernt. Wo der Vater anhand der IT den Fortschritt beflügeln wollte, spürt der Sohn die negativen Auswirkungen: Denn die Stasi nutzt die IT, um besser und effizienter überwachen zu können. Dieser Aspekt ist auch heute noch aktuell, wenn man an die aktuellen politischen Debatten denkt. Im Roman steht das Beispiel Computertechnologie für den gesamten Niedergang der Ideen, die der DDR anfangs Legitimität gaben und am Ende nur noch hohles Pathos verwirrter Greise war, die über die Mittel verfügten, das Leben von Menschen zu vernichten.

Marc Schweska: Zur letzten Instanz. Eichborn – Die Andere Bibliothek. 32 Euro.

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Pamuk lesen – Türkei verstehen

Orhan Pamuk: Cevdet und seine Söhne
Orhan Pamuk: Cevdet und seine Söhne

In Berlin war es. Im März. Da hat Orhan Pamuk sein aktuelles Buch vorgestellt. Die Situation war komisch. Denn „Cevdet und seine Söhne“ ist fast 20 Jahre alt. Der reife Autor musste also seinen Erstling präsentieren, der in Deutschland noch nicht zu haben war, weil derselbe Autor eine Übersetzung lange nicht wollte. Dem war das Buch zu traditionell. Eine Familiensaga, die stark an die Buddenbrocks erinnert. Die sehr chronologisch eine große Gesellschaftsgeschichte anhand einer Familie erzählt. Das ist tatsächlich große Literatur. Der Roman ist eine Mentalitätsgeschichte der Türkei in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts.

Wer die Türkei in ihrer Zerrissenheit zwischen Orient und Okzident, zwischen europäischer Moderne und orientalischer Tradition begreifen will, ist bei dem Debüt Pamuks gut aufgehoben. Dennoch ist es auch gut verständlich, weshalb Pamuk sich mit der Übersetzung so schwer tat. In der Türkei werde er immer auf den Erstling angesprochen, erzählte er. Und das, wo er doch anschließend literarisch ambitioniertere Bücher geschrieben habe. Auch in Deutschland wird dieses Buch geliebt werden. Es ist so schön überschaubar, so klar in den Personen und Dialogen. Es ist gut erzählt und öffnet eine neue Welt. Das ist alles fein. Und dennoch ist es auch etwas langweilig. Man muss die 660 Seiten fressen, um im Geschehen zu bleiben. Ansonsten verschwinden die vielen Details sehr schnell wieder aus dem Bewußtsein.

Mit Espresso schmeckt der neue Veit Heinichen noch besser

Veit Heinichen: Eine Frage des Geschmacks
Veit Heinichen: Eine Frage des Geschmacks

Proteo Laurenti ist inzwischen eine bekannte Krimi-Figur. Dank der Verkörperung durch Henry Hübchen in der ARD ist der Commisario aus Triest einen großen Publikum bekannt. Doch anders als im Fernsehen ist in den Büchern von Veit Heinichen die Stadt Triest der eigentliche Star. Und nicht der Polizist.

Grimmelshausens Gefährten sind immer auf Reisen

Eigentlich sind in diesem Buch zwei Reiseromane. Die „Lebensbeschreibung der Erzbetrügerin und Landstörzerin Courage“ und „Der seltsame Springinsfeld“ sind mit dem „Simplizissimus“ verbunden. Hans Jakob von Grimmelshausen hat sie nach dem Erfolg des Simplizissimus geschrieben, um die Geschichte weiterzudrehen. Dabei nutzte er Personen aus dem eigentlichen Buch.

Reiseromane sind die Bücher deshalb, weil die Lebenserzählungen der Courage und des Springinsfeld nicht aneinem Ort spielen. Vielmehr ziehen die Helden durch Europa, dem Dreißigjährigen Krieg nach. Der Leser kommt so an Orte in Deutschland, Böhmen, Italien, Griechenland, Russland der Türkei und vielen anderen Ländern. Die Courage folgt zunächst als Offiziersfrau, später als Hure und noch später als Zigeunerkönigin den Heeren und Schlachten.

Springinsfeld ist als Soldat Teil dieser Maschinerie. Die Courage schreibt eine fiktive Autobiografie, weil sie sich vom Simplizissimus in dessen Lebensbeschreibung verhöhnt fühlt. Es geht um ein Kind, das sie von ihm haben will oder auch nicht. Obwohl sich beide nur sehr kurz getroffen haben, schildert sie ihr Leben, um es diesem einen Mann heimzuzahlen. Und das, wo sie doch so viele Männer hatte. Männer, die sie verehrten, Männer, die sie benutzten und Männer, die sie bezahlten. Aber der eine Simplizissimus hat ihre Würde, die sie trotz ihrer entgegen gesetzten Karriere von der adligen Tochter sozial abwärts zur Zigeunerin führte, so sehr verletzt, dass sie diesen Umstand in die Welt hinausschreit.

Genau aus diesen Gegensätzen entsteht der Grimmelshausensche Witz in den Romanen. Die Courage hat übrigens so gut wie gar nichts mit der des Bert Brecht zu tun. Moral und Moralisieren sind ihre Kategorien nicht. Dafür die ständige Bewegung auf der Suche nach dem Wohlstand – und letztlich auch nach dem Glück. Sie ist immer auf Tour, kann nicht sesshaft werden. Und so nimmt sie den Leser mit auf ihre Lebensreise, die stets auch eine Reise durch die reale Welt ist. Ähnlich ist es beim Springinsfeld. Dem hat die Courage ihr Leben diktiert. Und der erzählt in dem Buch alles dem Simplizissimus in einer Straßburger Kneipe, wo er den alten Kameraden zufällig trifft. Sein Leben ist das eines typischen Landsknechts in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Da der Krieg nicht enden will, bietet er Ernährung für all jene, die lieber kämpfen, räubern und marodieren, als Äcker zu bestellen oder ein Handwerk auszuüben.

Die stete Bewegung, das stete Reisen hält ihn genauso wie die Courage davon ab, sein Glück festzuhalten, wenn sie es einmal gefunden haben. Aber diese Kategorie ist für diese Menschen nichts. Sie erdulden kein Schicksal, sondern leben eine Freiheit, die eben auch das Risiko in sich trägt, zu scheitern. Grimmelshausen schildert in den Büchern genau dies. Seine Bildungsromane sind kurzweilig und lehrreich. Denn die Courage ist zwar faszinierend, aber eben auch auf der schiefen Bahn nach unten. So viel Moral muss in den satirischen Schriften schon sein. Und Springinsfeld macht sich als Bettler sogar zum Gespött. Doch seine Würde behält er. Ja, er ist sogar glücklich und zufrieden. Schließlich hat er mehr von der Welt gesehen, als die meisten Zeitgenossen. Zwangsläufig fragt sich der Leser, ob sich Glück festhalten lässt oder ob es immer nur ein Momentum sein kann.

Egal, ob man in Bewegung oder fest verankert ist. Das Reisen bietet die Chance auf Veränderungen stärker als das Verharren. Aber ob das Treiben oder das feste Verzurren besser und richtiger ist, lässt Grimmelshausen für den Leser offen. Auch wenn die vordergründige Moral der Texte, etwas anderes suggeriert. Aber die Satire eröffnet neue Gedankenspiele. Reinhard Kaiser hat die beiden Romane wie schon den gesamten Simplizissimus ins Hochdeutsche übersetzt. Das war sehr mutig, denn auf den ersten Blick ist das Barockdeutsch noch immer gut verständlich. Doch Keiser eröffnet mit seinen Übersetzungen einem neuen Publikum die Chance, diese wunderbaren Simplizianischen Bücher kennenzulernen, die sich an das alte Deutsch nie getraut hätten. Da er sein Handwerk versteht, schafft er so wunderbare, gut verständliche und auch in der Übersetzung großartig abwechslungsreiche und unterhaltsame Texte. Egal ob man auf Reise ist, geht oder daheim beleibt, die Lebensbeschreibungen von Simplizissimus, Courage und Springinsfeld sind eine Entdeckung wert. Zumindest bei einer vergnüglichen Lesereise ins Innere der Texte und des Lesers selbst.

Das Buch in der Anderen Bibliothek…

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Kurban Saids “Ali und Nino” ist zeitlos gut

Essad Bey: Ali und Nino
Essad Bey: Ali und Nino

Dieses Cover ist eigentlich abschreckend. Es sieht aus, wie ein furchtbarer Kitsch-Roman. Und doch ist dieser Roman von Kurban Said alias Essad Bey alias Lew Noussimbaum einer der schönsten und anrührendsten Romane der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Und er ist ein wunderbarer Einblick in eine untergegangene Welt, an der Nahtstellen von Orient und Okzident.

Wirklich verblüffend an diesem Buch aus der 30er-Jahren ist aber, dass in ihm alle Konfliktlinien des Kaukasus der Gegenwart zu finden, obwohl er vor und während des 1.Weltkrieges spielt. Kurban Said erzählt von der Liebe eines Orientalen und einer Europäerin in Baku, als die Stadt eine internationale war. Seine Sätze sind klar und präzise und transportieren dennoch eine kaum fassbare Sympathie für das unterschiedliche Heimatgefühl aller Personen. Niemand wird verurteilt. Alle werden einfach als Menschen beschrieben, die Sehnsüchte haben und Liebe suchen.

Bei Ali und Nino ist es eine Liebe, die alle Grenzen und Fesseln sprengen kann – und am Ende doch scheitern muss. Auch wenn sie viele wunderbare Momente erlebt. Kurban Said hat einen Roman geschrieben, der sich ganz auf das Erzählen konzentriert. Obwohl es gerade die gesellschaftlichen Zustände sind, die das Leben und Lieben von Ali und Nino so stark beeinflussen, ideologisiert der Autor nicht. Und dadurch wird das Ungeheure der Geschichte noch viel klarer. Diese Gabe, so erzählen zu können, hatten und haben in Deutschland nicht viele Autoren. Deshalb die Empfehlung: Auch seine anderen Bücher lohnen sich. Demnächst dazu hier mehr. Und das kann das Buch auslösen…

Robert Seethaler erfindet einen bizarr-realen Bildungsroman

Diese Geschichte ist eigentlich ganz banal. Da wächst ein Bub in der Provinz auf, versucht sich und die Welt zu begreifen und scheitert an ihr. Bis er das Theater für sich entdeckt und mit ihm seine Rolle in der Welt.

Was sich wie eine knappe Inhaltsangabe von Goethes „Wilhelm Meister“ liest, fasst das neue Buch von Robert Seethaler zusammen. „Jetzt wirds ernst“ ist sein dritter Roman. Vor allem der Vorgänger „Die weiteren Aussichten“ war ein Erfolg. Genauso wie der darauf basierende Fernsehfilm „Die andere Frau“, für den Seethaler mit Dem Grimme-Preis ausgezeichnet wurde.

Seethaler ist ein Meister lakonischer Sätze, die nicht sofort ihre Wirkung entfalten. Die Summe der simplen Beobachtungen erzeugen eine Stimmung, die jeder in seiner Pubertät erlebt hat. Denn davon handelt der Roman vor allem. Er schildert, wie aus einem Baby, das bei einer Sturzgeburt das Licht der Welt erblickte, ein Junge wird, der die Schule seltsam findet und in der Pubertät langsam zu sich selbst findet. Insofern ist der Vergleich zu Wilhelm Meister ein guter. Nur dass Seethalers Bildungsroman viel humorvoller und direkter ist.

Der Titel „Jetzt wird ernst“ beschreibt eigentlich das Ende des Buches. Bis dahin ist für den Jungen natürlich auch alles ernst. Der Tod der Mutter, die Mitarbeit im väterlichen Friseursalon, die erste unglückliche Liebe oder die Versagensangst vor dem ersten Auftritt auf der Theaterbühne. Doch richtig ernst wird es halt erst, wenn man erwachsen ist und sich der Welt richtig stellen kann.

Robert Seethaler gelingt es, alle seine Figuren mit echter Zuneigung zu schildern. Selbst unangenehme Personen wirken nicht abstoßend. Sie sind ein Teil des Lebens und schon deshalb auch gut. Seinen eigentlichen Helden, aus dessen Ich-Perspektive der Roman geschrieben ist, begleitet er mit Herzlichkeit und Frische. Angesichts der vielen Fettnäpfchen, die das langsame Erwachsenwerden so mit sich bringt, ist das gar nicht so einfach. Genau diese Spannung trägt den Roman und macht ihn zu einem großen Lesegenuss.

Robert Seethaler: Jetzt wird’s ernst. 303 Seiten, Kein & Aber, 19,90 Euro

MOZ-Rezension…