Was wäre wenn die DDR noch existierte? Dann dürfte Simon Urban bestimmt nicht einreisen

Simon Urban: Plan D
Simon Urban: Plan D

Was wäre wenn? Diese Frage muss sich der Historiker verkneifen. Der Schriftsteller aber darf sie nicht nur stellen, er kann sie auch beantworten. Aber nur, wenn der erzählen kann. Simon Urban kann erzählen. Und wie!

Für einen Debüt-Roman ist es fast schon zu gut, was der Marketing-Texter Urban (Jahrgang 1975) da abgeliefert hat. Ich muss gestehen, dass ich mich zunächst nicht so recht an das Buch wagte, weil mir der Klappentext doch etwas zu krude vorkam. Doch kaum hatte ich angefangen, wollte ich nicht mehr aufhören. Die Folge:  Vier eindeutig zu kurze Nächte!

Simon Urban lässt im Oktober 2011 einen Mord geschehen. Das könnte ja in jedem Krimi passieren. Aber eben nicht in der DDR. Die existiert nach der bekannten Krise von 1989/90 bei Urban noch immer. Egon Krenz ist noch immer Staatsratsvorsitzender, Sarah Wagenknecht ist Schauspielerin und Oskar Lafontaine Kanzler der Bundesregierung in Bonn. Dieses Szenario wirkt anfangs etwas seltsam, entfaltet aber dann auf den mehr als 500 Seiten eine immer größere Faszination.

Das Mordopfer ist ein Professor, der vor der „Wiederbelebung“, so nennt Urban die Phase nach der zweiten Mauerschließung 1992, in die DDR ka, um Krenz zu beraten. Gefunden wird das Opfer erhängt an einer Gazprom-Pipeline in Köpenick. Hintergrund des Mordes sind Verhandlungen über neue Erdgaslieferverträge.

Neben dieses wunderbar skurrilen und bis ins Detail ironisch-überzeugenden Rahmens überzeugen vor allem die Figuren. Der ermittelnde Hauptmann Wegener und sein scharf beobachtetes Liebesleid, an seiner Ex, in die er alle Verlustängste und erotischen Phantasien legt, ist ebenso großartig wie die alle anderen Figuren vom Stasi-Major bis hin zum Terroristen in der DDR. All das ist wirklich wunderbar, packend erzählt. Und neben de m eigentlichen Thriller eine feine intellektuelle Herausforderung. Schließlich will ständig überprüft werden, ob das „Was-wäre-wenn“ auch stimmen könnte. Und siehe da: es könnte! Immerzu. Deshalb: Lesen! Unbedingt! (Und danke Mathias für den Tipp und da Buch!)

Gabriele Riedle blickt in einem Tunnel auf eine depressive Generation

„In ihrer Nutzlosigkeit sind schließlich alle
Menschen wieder gleich. So wie sie es ganz
früher in ihrer Nacktheit waren, am
sechsten Tag der Schöpfung.“

Gabriele Riedle: Überflüssige Menschen
Gabriele Riedle: Überflüssige Menschen

Von „Überflüssigen Menschen“ erzählt Gabriele Riedle in ihrem neuen Roman. Vor allem von Natalie, einer Übersetzerin aus dem Russischen, die sich einst von der schwäbischen Kleinstadt in die Großstadt Berlin aufmachte und jetzt ein Theaterstück von Tschechow für das Ulmer Theater neu in Deutsche bringen soll. Doch statt des neuen Textes entsteht ein innerer Monolog, der sich vor allem an die drei Schwestern des Stückes richtet. Und damit mehr als ein ganzes Jahrhundert Geschichte auf eine ganz spezielle Art in den Blick nimmt.

Dieser Blick ist ein Tunnelblick, den Natalie leidet an einer Erbkrankheit, die ihr das Augenlicht nimmt. Und sie leidet an einer Depression. Denn alles, was sie da aufschreibt ist eine hoffnungslose Gesamtschau auf die Menschheit, auf die eigene (Nachkriegs-) Generation und auf sie selbst. Unfähig zu arbeiten, unfähig zu genießen, unfähig Beziehungen einzugehen und zu leben, unfähig Freude aus dem Leben zu ziehen, igelt sich Natalie ein, denkt nur über den Mann, eine frühere Jugendliebe, der ihr den Übersetzungsauftrag erteilt hat, nach – ohne sich aufzuraffen ihr auch zu treffen. Und somit auch echt zu leben – und nicht nur in ihrem gedanklichen Tunnelblick.

Gabriele Riedle schildert eine Frau, die es geschafft hat, aus der Enge der schwäbischen Provinz, aus der Familie mit SA- und SS-Angehörigen auszubrechen. Natalie ist eines dieser Nachkriegskinder, denen es die Bildungsoffensive der SPD in den 70er-Jahren ermöglicht hat zu studieren und so die Welt für sich selbst zu erobern. Natalie studiert Russisch, sie sympathisiert mit der RAF, sie erliegt auf ihre Art der Faszination der Gewalt, die ihr Großvater in der SA und später auf seinem Marsch nach Moskau auslebte.

All das bündelt Riedle in knappe 34 Kapitel, die in einem Strudel aus Widerholungen von Gedanken, die allerdings immer wieder in neue Zusammenhänge gestellt werden, einen ganz eigenen Sprachrhythmus erzeugen. So werden ganz kleine, persönliche Erlebnisse in den großen Gesamtkontext der Geschichte des 20. Jahrhunderts gestellt. Und auch in den unseres ersten Jahrzehnts. In dem in der Finanzkrise Banker aus Fenstern springen, weil sie überflüssig sind. So wie sich Natalie fühlt, die aber nicht springt, sondern sich in ihren Gedanken vergräbt.  Und den Leser so verwirrt, und dennoch fesselt.

Gabriele Riedle: Überflüssige Menschen. Die Andere Bibliothek, Eichborn Verlag, 32 Euro.

Umberto Ecos „Friedhof in Prag“ verblüfft und verwirrt

Umberto Eco: Der Friedhof in Prag
Umberto Eco: Der Friedhof in PragSimon Simonini

Simon Simonini ist die einzige frei erfundene Figur i n Umberto Eco neuestem Roman. Alle anderen Figuren haben gelebt, haben geschrieben, was Eco zitiert, haben gesagt, was Simonini in seinem Tagebuch aufschreibt. Insofern ist „Der Friedhof in Prag“ vor allem ein Geschichtsbuch und weniger ein Roman.

Auf der einen Seite ist die Gewissheit, dass Eco profund recherchiert, faszinierend. Auf der anderen mindert die Faktenlast immer wieder das Lesevergnügen. Denn Eco hat zwar einen Roman über die wirkungsmächtigste Verschwörungstheorie der Geschichte geschrieben, aber die Spannung, die in dem Stoff liegt, kann er nicht entfalten.

Und das, obwohl dieser Simonini als Fälscher, Geheimagent, Notar und Mörder alle Zutaten enthält, die für einen guten Thriller nötig sind. Nur der Sex fehlt, weil Eco ihm diesen offenbar nicht gegönnt hat. Simonini ist über viele Jahre damit beschäftigt, für unterschiedliche Auftraggeber Dokumente zu produzieren, die die Freimaurer und vor allem die Juden denunzieren sollen. Dazu schreibt der bei Alexandre Dumas, Henri Joly und vielen anderen ab. Er sortiert Versatzstücke neu und überprüft die Plausibilität. Am Ende fertigt er für den russischen Geheimdienst einen Text, der unter dem Titel „Die Weisen von Zion“ das zentrale Dokument des Antisemitismus im frühen 20. Jahrhundert wird.

All das ist wahr. Nur diesen Simonini gab es nicht. Aber all die Texte und ihre Beziehungen stimmen. In der Figur des Fälschers führt Eco unzählige Stränge zusammen. Denn er ist auch derjenige, der die Dokumente fälscht, die die Dreyfus-Affäre auslösen. Eco spielt die Möglichkeiten durch und konstruiert dabei zu sehr. Wobei er es aber dennoch schafft, den Leser ständig zu verblüffen. Denn selbst die absurdesten Figuren und Begebenheiten sind für sich ja historisch belegt. Nur das literarische Scharnier, das alle miteinander verbindet eben nicht.

Dennoch habe ich das Buch gern gelesen. Weil es zu viel enthält, was fasziniert und erschreckt. Weil Eco sich immer in die Karten schauen lässt und den Leser damit dann doch noch mitnimmt.

Umberto Eco: „Der Fredhof in Prag“. Roman. Aus dem Italienischen von Burkhard Kroeber. Hanser Verlag, München 2011. 519 S., geb., 26,- €.

Olga Grjasnowa rollendes „r“ macht Mascha sympathisch

Olga Grjasnowa  kurz nach der Lesung von "Der Russe ist einer, der Birken liebt" in der Berliner Buchhandlung "Moby Dick".
Olga Grjasnowa kurz nach der Lesung von „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ in der Berliner Buchhandlung „Moby Dick“.

Ihr „r“ rollt so schön. Und ihre Betonung der zweiten statt der ersten Silbe erzeugt einen ganz eigenen Lesefluss.  Olga Grjasnowa hat sich gut auf ihre gut einstündige Lesung vorbereitet. Sie liest nicht eine Passage am Stück, sondern hat etliche kleinere Szenen aus ihrem gesamten Roman „Der Russe ist einer, der Birken liebt“, die den Handlungsstrang erkennen lassen.

Leicht aufgeregt wird die Anspannung der Autorin durch mehrere Mikrophon-Aussetzer noch verstärkt. Dann wird ihr Deutsch mit dem schönen leichten Akzent leider etwas monoton. Die Konzentration des Zuhörers darf sich dann nicht von den Bücher- und CD-Regalen der der schönen Buchhandlung „Moby Dick“ in Prenzlauer Berg ablenken lassen. Denn dann wird es schwer zu folgen.

Deutlich wird das vor allem am Ende. Sie habe Mascha, die Protagonistin, ursprünglich noch böser angelegt, als sie dann im Roman wurde, meint Olga Grjasnowa auf eine Frage der Buchhändlerin. Doch Mascha kam bei der Lesung als überhaupt nicht böse an. Eher als Opfer, die einen Todesfall zu beklagen hat und bei der Einreise nach Israel bei der Kontrolle so sehr schikaniert wird, dass sogar der Laptop zerstört wird. Als eine Frau mit bösen Neigungen, wird Mascha nicht greifbar. Im Gegenteil: Die Lesung sorgt für viel Sympathie mit ihr.

Die Buchhandlung ist übrigens fast schon überfüllt. Viele Zuhörer sind um die 30. Sie fühlen sich angesprochen von dieser Geschichte, die im multikulturellen Milieu der gut ausgebildeten, mehrere Sprachen sprechenden Deutschen mit den Migrationshintergrund spielt. Und in der damit verbundenen Bindungslosigkeit, die bis zu zwischenzeitlichen Aufenthalten in der Psychiatrie reicht. Das ist alles auch sehr verwirrend. Und wahrscheinlich ein Grund, weshalb man den Roman doch lesen sollte. Neben der nach wie vor offenen Frage, warum Russen, Birken lieben. Und dieser Titel über einem Text steht, der eine Frau in den Mittelpunkt rückt, die aus Aserbaidschan stammt. Und: rollen die dort das „r“ auch so schön?

Nino Haratischwilis „Mein sanfter Zwilling“ zeigt die Abgründe der Liebe

Nino Haratischwili: Mein sanfter Zwilling
Nino Haratischwili: Mein sanfter Zwilling

Dieser Roman verstört, weil er das Zerstörungspotenzial der Liebe beschreibt. Dieses Buch fesselt, weil es die Suche nach Freiheit zum Thema hat. „Mein sanfter Zwilling“ verwirrt, weil er den Irrsinn einer Familie, einer Liebe und eines Krieges analysiert.

Nino Haratischwili ist erst 28 Jahre alt. Sie ist in Tiflis (Georgien) geboren und in Deutschland aufgewachsen. Sie hat bereits 13 Theaterstücke geschrieben, wurde dafür schon mehrfach ausgezeichnet und legt mit „Mein sanfter Zwilling“ ihren zweiten Roman vor. Für sie ist das Schreiben offenbar eine Sucht, zumindest aber eine Verpflichtung. Bei all den Stoffen, die sie bereits bearbeitet hat, ist klar, dass sie sich nicht mit der Aufarbeitung der eigenen Biografie beschäftigt. Sie sucht die großen Konflikt, die schweren Themen. Und kann sie fesselnd auf einem außerordentlichen sprachlichen und literarischen Niveau bearbeiten.

Im aktuellen Roman geht es um Ivo und Stella, die als (Stief)-Geschwister aufwachsen. Seit sie sich kennen, lieben sie sich. Allerdings ist das keine einfache, sanfte Liebe. Denn etwas steht zwischen ihnen. Deshalb ist ihre Beziehung von Trennungen und Gewalt, von Selbstzerstörung und unglaublichen Glücksmomenten geprägt. Sobald sie sich nahe kommen, können sie kein normales Leben mehr führen, dann müssen sie das Leben in Extase mit Sex und Drogen spüren, dann verschwindet das, was man gemeinhin für Glück hält. Denn in der körperlichen Pein, in der seelischen Qual, aber auch in der unglaublichen Zweisamkeit erleben sie eine ganz andere Dimension des Zusammenseins.

Die Anlage dieses Stoffes wäre den meisten Autoren zu einer klebrigen Kolportage verkommen. Nino Haratischwili formt aus der Ich-Erzählung Stellas aber einen Roman, der sämtliche Zwischentöne der Liebe gekonnt ausformuliert. Sobald der Leser weiß, dass die Beziehung von Ivo und Stella schwierig ist, wird er immer weiter in den Sog dieser Liebe gerissen. Gekonnt hält sie die Ursache offen, ohne Langeweile zu produzieren. Am Ende des Buches ergeben Aufbau und die verschiedenen Szenen ein schlüssiges Bild, das den Leser grübelnd zurücklässt. Und das, weil das Buch so klar und ergreifend ist.

Auch die Szenen in Georgien, die sich mit dem Bürgerkrieg 1992 beschäftigen, sind deutlich mehr als Folklore. Sie sind integraler Bestandteil der Geschichte. Und sie bringen die Auflösung des Dramas. Nino Haratischwilis Roman ist ein großer deutscher Gegenwartsroman.

Nino Haratischwili: Mein sanfter Zwilling, Frankfurter Verlagsanstalt, 379 Seiten, 22,90 Euro.

Pamuks stilles Haus bewahrt schreckliche Familiengeheimnisse

Orhan Pamuk: Das stille Haus
Orhan Pamuk: Das stille Haus

Das stille Haus liegt direkt am Marmarameer. Als es gebaut wurde, stand es ganz allein. Doch inzwischen – 1980 – ist der schöne Fleck zu einem Ort mit Touristenrummel gewachsen. Alles verändert sich. Nur die Bewohnerin des Hauses nicht. Fatma ist 90. Aber eigentlich will sie noch immer so verstockt sein, wie als 17-jähriges Mädchen.

„Das stille Haus“ von Orhan Pamuk bündelt das Leben dieser Frau. Und aller Katastrophen, die aus ihrem Handeln gewachsen sind. Denn das Haus ist zwar still, weil es fast das ganze Jahr nur von der Tyrannin Fatma und ihrem Diener Recep bewohnt wird. Aber diese Stille birgt böse Geheimnisse.

Der Leser erfährt von diesen aus der Perspektive Fatmas, die auf ihr Leben zurückblickt. Recep ist der zweite Erzähler des Buches. Auch er blickt auf sein Leben zurück, ist aber viel stärker in der Gegenwart verankert. Denn er beobachtet seine Umgebung ganz genau. Und dazu gehören die drei Enkel Fatmas, die im Sommer 1980, kurz vor dem Militärputsch in der Türkei, wie jedes Jahr das Haus beleben. Metin, ein Student, und Faruk, ein Historiker sind die nächsten Stimmen, die dem Leser das Leben im und um das stille Haus erzählen. Enkelin Nilgün bekommt keine eigene Stimme. Sie wird vor allem als Objekt der Liebe Hasans beschrieben, der als fünfter und letzter Ich-Erzähler zu Wort kommt.

Hasan hat mit den Enkeln früher gespielt, da er der Neffe Receps ist. Und wie sich im Laufe des Romans herauskristallisiert auch mit den Enkeln verwandt ist. Denn Fatmas Mann ist Receps und Hasans Vater. In dem Roman geht es also um die großen Familienthemen Liebe, Hass, Verachtung, Gewalt und Verdrängung durch Suff. Dem verfiel Fatmas Mann, derm verfiel deren beider Sohn und Enkel Faruk ist auch auf dem besten Weg sein leben dem Raki zu weihen.

Orhan Pamuks zweiter Roman knüpft teilweise an seinen Erstling „Cevdet und seine Söhne“ an. Zum einen tauchte Fatma in diesem als Randfigur bereits auf. Zum anderen ist Cevdet auch Gesprächsthema. Dadurch wird Pamuks eigene Familiengeschichte weitergeschrieben. So wie eigentlich in allen seinen Büchern der autobiografische Anteil sehr groß ist. Sein literarischer Kniff, die Geschichte aus der Perspektive von fünf Ich-Erzählern zu beleuchten, erzeugt für eine große Spannung. Die unterschiedlichen Charaktere kommen durch ihre eigenen Worte besonders gut zur Geltung. Und ihr Denken.

Pamuks Familienroman erzeugt ein bedrückendes Bild von der Türkei, die sich dem Westen öffnete und der Tradition doch verhaftet blieb. Für diese Zerrissenheit stehen Fatma und ihr Mann. Zwei Generationen später spielt die Tradition keine Rolle mehr, aber der Faschist Hasan und die Kommunistin Nilgün stehen für eine neue Zerrissenheit, die der Militärputsch dann mit Gewalt zu kitten versuchte. All diese Dinge spielen im Roman nur eine untergeordnete Rolle – der Putsch sogar gar keine, da er erst nach Ende des Buches passiert. Aber das Private ist in diesem Buch eben immer auch gesellschaftlich relevant, ohne dass es gesagt werden muss. Diese Schicht erschließt sich dem Leser erst auf dem zweiten Blick, nachdem er einen packenden Roman gelesen hat, der sich bis zum Totschlag steigert.

Wenn Braunkohle Heimat frisst, kann das tödlich sein

Ingrid Bachér: Die Grube
Ingrid Bachér: Die Grube

Braunkohle als Energieträger wird derzeit nur noch aus der Sicht des Klimaschutzes kritisch gesehen. Die großen Debatten über die Abbaggerung des brandenburgischen Dorfes Horno zwischen Cottbus und Guben oder in Garzweiler sind lange vorbei. Die Dörfer sind weg. Und inzwischen sollen noch weitere  folgen.

Ingrid Bachér hat sich mit ihrem Roman Die Grube dem mit den Tagebauen verbundenem Heimatverlust gewidmet. Sie nähert sich dem Thema ganz behutsam. Im Mittelpunkt steht ein Bauernhof in Garzweiler, in dem anfangs der Hoferbe mit Frau und Sohn, ein Knecht, eine Haushälterin und die Schwester des Bauern leben. Diese ist Lehrerin und erzählt die Geschichte von der schrittweisen Entsiedlung Garzweilers und den dramatischen Folgen für die Menschen.

Da gibt es diejenigen, die im Bergbau ihr Geld verdienen und deshalb das Angebot zur Absiedlung gern annehmen. Auf der anderen Seite stehen vor allem die Bauern, deren Familien seit Generationen die Höfe und Äcker bewirtschaften, die der Braunkohle weichen müssen. Bachér beschreibt in leisen Tönen, wie sich die Spaltung der Dorfgemeinschaft vollzieht. Sie erzählt von den Versuchen mit Demonstrationen und Bürgerversammlungen die großen Bagger aufzuhalten. Sie schildert, wie Politik und der allmächtige Konzern verbandelt sind. Auch dabei wählt sie keine bösen Wörter.

Genau das macht das Buch so beklemmend. Es sind die leisen Töne, die sich wie die herannahenden Bagger in die Erde ins Gemüt des Leser fräsen. Die Bagger nähern sich ganz langsam. Die Gedanken über den Heimatverlust, die unwiederbringliche Vernichtung von Geschichte und Erinnerung verdichten sich auch ganz behutsam. Aber sie werden so stark, dass man sich ihnen nicht entziehen kann. Auch, weil die Beraubung der Heimat eine der Hauptpersonen so krank macht, dass sie darüber stirbt.

Ingrid Bachér: Die Grube. Dittrich Verlag; 17,80 Euro.

Viktor Paskows Autopsie ist ein verwirrender Berlin-Roman

Viktor Paskow: Autopsie
Viktor Paskow: Autopsie

Jazz und Literatur vermischen sich in Viktor Paskows Roman „Autopsie“ genauso wie die Leben von Charlie und Ina. Beide kommen wie der Autor aus Bulgarien, beide finden sich auf unterschiedliche Weise in Berlin ein. Und beide werden wahnsinnig, wenn der geliebte Mensch nicht da ist.

Aus dieser recht einfachen Konstellation formt Paskow einen Roman, dem sich der Leser nicht entziehen kann. Die Liebe spielt der dabei in all ihre psychologischen und erotischen Dimensionen durch. Manche Stelle grenzt an Pornografie, doch sind selbst diese Passagen nie blanker Voyeurismus. Sie sind zur Verdeutlichung der Liebe von Ina und Charlie unabdingbar, zeigen sie doch, wie anhängig beide voneinander sind. Wo Charlie meint, Ina in neue Formen von Sex – etwa im Swingerclub – einzuführen, kehrt sie sein Dominanz-Bestreben um.

Der Roman spielt vor der Kulisse Berlins. Paskow hat die Stadt mit offenen, neugierigen Augen wahrgenommen. Das touristische Programm ist nicht wichtig. Dafür hat er die alten Hinterhöfe am Prenzlauer Berg oder in Mitte, die Kneipen, Clubs und die Theater in den Blick genommen. So entsteht ein packender Berlin-Roman, denn die Stadt ist mehr als nur Kulisse. Vor allem im Bezug zu Sofia steht Berlin für eine Entwicklung, die sich auf das Leben von Charles und Ina direkt auswirkt.

Der Plot und die Erzählweise sind so überzeugend, dass der Leser keine Chance hat, sich dem Sog zu entziehen. Bis hin zum dramatischen Ende wollen selbst die unangenehmen Textstellen gelesen werden. Die Sprache entfaltet selbst in der Übersetzung eine große Musikalität. Da Charles Musiker ist – im Hauptberuf Orchestermusiker und nebenbei Jazzer – muss das auch so sein. Das Buch klingt, schwingt, schmerzt. Es verursacht ein Gefühlschaos und lässt den Leser  deshalb das Leben spüren. Ein gutes Buch, ein großer Roman.

Frankfurt (Oder) schenkt mir mit Max Havelaar vergnügliche Weltlektüre

Multatuli: Max Havelaar
Multatuli: Max Havelaar

Ein Stück Weltliteratur lag neulich auf dem Weg zum Bahnhof in Frankfurt (Oder) auf einer Mauer. Ich konnte nicht anders und nahm das Buch mit, obwohl ich es in einer anderen Ausgabe einst geschenkt bekam und mit wachsender Begeisterung las. Multatuli (lat. „ich habe vieles ertragen“) nannte sich der niederländische Autor Eduard Douwes Dekker, als er seine Abrechnung mit den Zuständen der Niederländischen Ostindischen Kompagnie verfasste.

„Max Havelaar oder Die Kaffeeauktionen der Niederländischen Gesellschaft“ ist der Titel des Bandes, den es auf der Frankfurter Mauer in einer Dünndruckausgabe des Leipziger Paul List Verlages von 1972 gab.

Der Name Max Havelaar hat ein eigenständiges Leben entwickelt. In der Schweiz gibt es sogar eine Max-Havelaar-Stiftung. Sie vergibt das dortige Fair-Trade-Siegel. Denn Multatuli hat in seinem Roman beschrieben, wie brutal die Ostindische Gesellschaft die Menschen im heutigen Indonesien ausbeutete. Mit 18 Jahren war Dekker selbst nach Batavia, dem heutigen Jakarta, gezogen. Er erlebte die Herrschaft der Firma, die wie ein eigener Staat agierte. Sein Buch darüber wird heute als wichtigster literarischer Text der Niederlande eingeschätzt. Konkret geht es in dem Buch um ein Buch, das die Zustände auf Java beschreibt.

Bei der Veröffentlichung dieses Buches will der Kaffeehändler Droogstoppel nicht helfen. Droogstoppel ist genauso dröge und bieder, wie der Name klingt. In dieser Handlung erzählt Multatuli/Dekker die Geschichte der Entstehung des eigentlichen Buches, um am Ende das gesamte korrupte System anzuklagen. Übrigens stecken da etliche Parallelen zur aktuellen politischen Lage. Denn die Ostniederländische Kompagnie war ursprünglich selbständig. Doch dann hat sie sich so überhoben, dass der Staat sie retten musste. Allerdings wollte die Kompagnie sich dennoch nicht in die eigenen Belange reinreden lassen. Sie verteidigte ihre Rolle ähnlich wie die Banken heute. Die Steuerzahler hatte für die Konkursvermeidung bezahlt. Aber einen Gewinn sollte es für ihn nicht geben. Aber auch ohne diese Parallelen ist das Buch sehr lesenswert. Denn es gibt nicht nur einen erschütternden Einblick in die frühe Globalisierung, als Europa meinte, die ganze Welt sei ihm Untertan.

Es ist auch einfach richtig gut und kurzweilig geschrieben, es wechselt zwischen Satire und Anklage, spart aber auch nicht mit zarten Tönen. Es jetzt noch einmal zu lesen, war ein Vergnügen. Und das habe ich dem netten Menschen zu verdanken, der immer wieder Bücher für Passanten bereit hält. Vielen Dank! Und allen, den dies Anregung war: viel Spaß beim Lesen!

Erneut gelesen: Dieter Kühns Napoleon-Buch „N“

Dieter Kühn: N
Dieter Kühn: N

Vor mehr als 40 Jahren ist dieses Buch erstmals erschienen. Vor gut 20 habe ich es gelesen. Auch heute lohnt es sich noch. Damit hatte ich nicht unbedingt gerechnet. Denn Dieter Kühn erzählt das Leben Napoleons von der Geburt bis zum Zeitpunkt der Machtübernahme im nachrevolutionären Frankreich.

Aber das Buch ist keine Biografie. Ein Roman ist es auch nicht. Genau dieses Zwitterhafte hatte ich noch in Erinnerung. Und dass der Text in vielem sehr theoretisch wirkte. Doch genau das macht seinen Reiz aus. Dieter Kühn erzählt nämlich nicht nur den Werdegang Napoleons, sondern auch die Möglichkeiten, die es in seinem Leben auch noch gegeben hatte. Und diese spinnt er immer wieder an den Weggabelungen des Lebens weiter. Was wäre gewesen, wenn nicht er sondern sein Bruder Soldat geworden wäre und er Geistlicher? Was wäre gewesen, wenn Nelson Napoleons Flotte vor der Ankunft in Alexandria vernichtet hätte? Was wäre aus ihm geworden, wenn er in türkische Dienste eingetreten wäre?

Dieses Hypothetische sorgt dafür, dass der Leser das Leben Napoleons nicht von seinem erfolgreichen Phasen als Eroberer Europas, als Verbreiter des Code Napoleon, des Vorläufers unseres Bürgerlichen Gesetzbuches, herdenkt. So schrumpft die Größe auf ein menschliches Maß, da zwar die Tatkraft und Intelligenz gewürdigt werden, aber eben auch immer die Zufälle und Gelegenheiten, die er für sich zu nutzen wusste. Da schwingt viel 68er-Gedankengut mit. Es geht um die politische Kraft des Individuums und um die gesellschaftlichen Umstände, die Geschichte gestalten. Es geht um eine hohe Kunst der Dialektik, wenn die unterschiedlichen Optionen durchgespielt werden.

Dabei gelingt es Kühn aber, nicht im Traktat zu versumpfen oder in der Theorie zu veröden. Er liefert ein Gedankenspiel, das auch heute noch Spaß macht – und nachdenklich. Spaß übrigens mehr als damals beim Lesen.