Richard Swartz seziert Notlügen für die Untreue

Richard Swartz: Notlügen
Richard Swartz: Notlügen

„Notlügen“ kennen wir alle. So heilig, so moralisch aseptisch kann kein Mensch sein, um nicht auch mal auf eine Notlüge zurückgreifen zu müssen – oder besser zu wollen? Richard Swartz hat in seinem aktuellen Buch aber keine kleinen Notlügen seziert, sondern die großen, die die Voraussetzung zum Fremdgehen sind.

Seine sechs Erzählungen sind eine Steigerung des Lügens. Geht es in der ersten Geschichte um einen Mann, der einen Fehltritt macht, so geht es in der letzten, um einen Ehemann, der ein Verhältnis mit einer anderen Ehefrau so weit treibt, dass er mit ihr in Anwesenheit der Partner im gleichen Opernhaus in einer Loge während der Aufführung mit ihr schläft. Der Kick wird immer größer, die Maßlosigkeit des eigenen Wollens immer drängender – und damit die Verletzung der Partnerin.

Swartz erzählt das ohne jede moralische Empörung. Er schildert, was das Fremdgehen, das Hintergehen mit den Männern macht. Er verurteilt das Verhalten auch nicht. Sein distanziertes Schreiben – er verwendet keine Namen, sondern spricht immer nur von „Mann“ und „Frau“ – ist gerade deshalb emotional packend. Das Archetypische, das Nachvollziehbare löst gerade die Verwirrung und das Ertapptfühlen beim Lesen aus. Die Distanz schafft die emotionale Nähe. Und die Sprache, die auf jedes überflüssige Wort verzichtet. Wie bei einer guten Notlüge. Die funktioniert ja auch nur, wenn sie sich nicht in zu vielen Worten verstricken kann.

Viktor Paskows Autopsie ist ein verwirrender Berlin-Roman

Viktor Paskow: Autopsie
Viktor Paskow: Autopsie

Jazz und Literatur vermischen sich in Viktor Paskows Roman „Autopsie“ genauso wie die Leben von Charlie und Ina. Beide kommen wie der Autor aus Bulgarien, beide finden sich auf unterschiedliche Weise in Berlin ein. Und beide werden wahnsinnig, wenn der geliebte Mensch nicht da ist.

Aus dieser recht einfachen Konstellation formt Paskow einen Roman, dem sich der Leser nicht entziehen kann. Die Liebe spielt der dabei in all ihre psychologischen und erotischen Dimensionen durch. Manche Stelle grenzt an Pornografie, doch sind selbst diese Passagen nie blanker Voyeurismus. Sie sind zur Verdeutlichung der Liebe von Ina und Charlie unabdingbar, zeigen sie doch, wie anhängig beide voneinander sind. Wo Charlie meint, Ina in neue Formen von Sex – etwa im Swingerclub – einzuführen, kehrt sie sein Dominanz-Bestreben um.

Der Roman spielt vor der Kulisse Berlins. Paskow hat die Stadt mit offenen, neugierigen Augen wahrgenommen. Das touristische Programm ist nicht wichtig. Dafür hat er die alten Hinterhöfe am Prenzlauer Berg oder in Mitte, die Kneipen, Clubs und die Theater in den Blick genommen. So entsteht ein packender Berlin-Roman, denn die Stadt ist mehr als nur Kulisse. Vor allem im Bezug zu Sofia steht Berlin für eine Entwicklung, die sich auf das Leben von Charles und Ina direkt auswirkt.

Der Plot und die Erzählweise sind so überzeugend, dass der Leser keine Chance hat, sich dem Sog zu entziehen. Bis hin zum dramatischen Ende wollen selbst die unangenehmen Textstellen gelesen werden. Die Sprache entfaltet selbst in der Übersetzung eine große Musikalität. Da Charles Musiker ist – im Hauptberuf Orchestermusiker und nebenbei Jazzer – muss das auch so sein. Das Buch klingt, schwingt, schmerzt. Es verursacht ein Gefühlschaos und lässt den Leser  deshalb das Leben spüren. Ein gutes Buch, ein großer Roman.