Frankfurt und Cottbus verbindet eine Bahnstrecke, auf der die Gemächlichkeit noch zuhause ist. Für die gut 90 Kilometer benötigt die Bahn eine Stunde und 18 Minuten. Auf der einen Seite ist das ziemlich lang. Auf der anderen aber auch Zeit zum Entspannen. Wer die Zeit nutzt und nicht schläft, Musik hört oder liest, sondern einfach nur zum Fenster hinausschaut, der sieht auf dieser Fahrt entlang der Oder-Neiße-Grenze all das, was den Osten ausmacht.
Schlagwort: Bahn
Die Trostlosigkeit der Bahnhöfe am Beispiel Bad Kissingen
Die Empfangshalle ist geheizt. Immerhin. Aber sie ist leer. Nur für ganz wenige Reisende gibt es Sitzplätze. Doch eine Zeitschrift, ein Buch oder einen Kaffee kann man im Bahnhof von Bad Kissingen noch kaufen. Und doch wirkt der einst herrschaftliche Gebäude heute nur noch kahl und trist.
Die Rückkehr des Zuges in Eisenhüttenstadt
„Das gibt es doch gar nicht!“ „Scheiß Bahn!“ „Das ist doch unglaublich, der kann doch jetzt vor unserer Nase wegfahren!?“ Bahnhof Eisenhüttenstadt. Auf dem Bahnsteig versammeln sich immer mehr Reisende, die in genau diesen Zug nach Cottbus einsteigen wollen. Doch der fährt direkt vor unserer Nase weg. Als letzte erreicht die Schaffnerin des Zuges den Bahnsteig. Sie hatte uns alle vor dem Bahnhofsgebäude in Empfang genommen, als uns der Bus des Schienenersatzverkehrs zwischen Frankfurt (Oder) und Eisenhüttenstadt ausspuckte. „Gehen Sie gleich durch den Durchgang zum Zug. Er wartet schon!“ Das hatte sie gesagt. Doch das Warten stellte der Lokführer ein, als die ersten von uns den Bahnsteig erreichten. Er fuhr einfach los.
„Das gibt es doch gar nicht,“ meint die Schaffnerin. „Jetzt fährt mein Lokführer ohne uns los.“ Da lacht sie noch. Schüttelt den Kopf und ist auch schwer verwundert über das, was die Bahn so alles macht. Die Stehengelassenen schimpfen natürlich. Sie haben mit der Frau in der Bahnuniform eine Schuldige entdeckt. Sie stürmen auf sie ein. Machen ihr Vorwürfe, obwohl sie ja auch eine Zurückgelassene ist. Aber der härtesten Pöbler interessiert das nicht. Abe rdie Schaffnerin bleibt ruhig. Sie nimmt ihr Handy und ruft den Lokführer an. Sie spricht mit ihm – und dann? Dann sagt sie das Unfassbare: „Der Zug kommt in wenigen Minuten zurück. Der Lokführer muss nur noch anhalten und dann die fünf Waggons nach vorne laufen. Dann kommt er wieder und nimmt uns mit.“
Gibt es das wirklich? Fährt ein Zug zurück, um Fahrgäste doch noch mitzunehmen? Kaum zu glauben. Aber es stimmt. Fünf Minuten später rollt der Zug wieder in den Bahnhof ein, nimmt die wartende Menge auf. Die stürmt die Türen, will sich schnell setzen. Als trauten sie dem Frieden nicht. Als könnte der Zug erneut direkt vor ihrer Nase kehrt machen. Die Schaffnerin steigt als letzte ein. Ein Danke hat sie nicht gehört. Ein Lob für das Rückbeordern eines Zuges? Kein Wort. Weder von den Lauten noch von den Leisen. Sie alle sitzen im Zug. Viele ärgern sich noch immer. Sie haben ja Zeit verloren. Zeit verloren! Anstatt sich darüber zu freuen, dass für sie etwas in Bewegung gesetzt wurde, was es sonst ncht gibt.
Mit Dieter Hildebrandt zwischen Cottbus und Berlin
Der Zug von Cottbus nach Berlin war an diesem Samstag oder Sonntag sehr leer. In der ersten Klasse saß nur ein Mann, der über seine Zeitung gebeugt sehr konzentriert las. Er schaute kurz auf, als ich die erste Klasse betrat. Ich erkannte Dieter Hildebrandt sofort, grüßte ihn und setzte mich auf einen anderen der freien Plätze.
Am Abend zuvor hatte er in Hoyerswerda aus seinem damals neuen Buch gelesen. In unserer kleinen Zeitung hatten wir das natürlich angekündigt und so saß ich da und ärgerte mich, dass ich den Abend anders verbracht hatte, als ihm zuzuhören, seinen immer wieder unterbrochenen Sätzen zu folgen, bis sie sich verflüchtigten, um dann im Nachsatz, quasi im Verhallen des Gedankengefüges mit einer Pointe fast schon so sanft gefüllt zu werden, dass sie oft erst kurze Zeit später zündeten. Es war ein sonderbares Gefühl, ihm so nah und doch durch die Situation der beiden allein reisenden und lesenden Männer so getrennt zu sein. Immerhin saß ich da einem der Menschen fast gegenüber, der mich fast schon mein ganzes Leben begleitete, dessen Bücher und Programme ich gelesen hatte, dessen Auftritte ich im Fernsehen möglichst immer sah und den live zu erleben damals in Schweinfurt nachhaltigen Eindruck machte.
Es dauerte bis Lübben, bis ich meine Skrupel überwunden hatte und ihn ansprach. Dann siegte die Hoffnung, eventuell mit ihm einige Sätze wechseln zu können, über die Unhöflichkeit des Ansprechens eines Menschen, den man selbst zu kennen glaubt, der einen selbst aber gar nicht kennt. Dieter Hildebrandt schaute auf, lächelte und bot mir sofort den Platz gegenüber ein. Die Zeitung legte er zusammen und dann fragte er mich. Er wollte wissen, von mir wissen, wie stark Neonazis zwischen Hoyerswerda und Berlin verwurzelt sind, als er das Bahnhofsschild „Halbe“ las. Er interessierte sich für die Zerstörung der Natur durch die Braunkohle, für den demographischen Wandel und das kulturelle Leben in der Lausitz. Aber er antwortete auch auf meine Fragen, etwa nach seiner Herkunft aus Bunzlau, seine Erinnerungen daran und die Vertreibung. Da die Vertriebenenvertreter zu den stets gepflegten Objekten seiner kabarettistischen Angriffe gehörten, interessierte mich sein Umgang mit dem Verlust von Heimat ganz besonders. Dieter Hildebrandt erzählte aufgeräumt und schmunzelnd, seine Augen ruhten dabei die ganze Zeit auf dem ihm unbekannten Gesprächspartner. Sie waren offen und voller Interesse am Gegenüber, nicht abweisend oder skeptisch. Nein, sie waren herzlich. So wie dieser ganze Mensch in dieser Fahrt erster Klasse von Cottbus nach Berlin durch und durch herzlich war.
Schade, dass es solche Begegnungen jetzt nicht mehr geben kann. Schade, dass diese Offenheit, Neugier und Herzlichkeit vergangen ist. Schade, dass Dieter Hildebrandt gestorben ist.
In der Bahn wird das Leben erklärt
Im Kabarett lacht man über solche Figuren: Sie tragen Anzug. Sie sind laut. Sie haben Bauch. Und sie sind sich ihrer selbst ganz sicher. Aber wenn man ihnen in echt begegnet, wenn man ihnen nicht ausweichen kann, wenn man ihnen zuhören muss, weil sie selbst von den Stöpseln im Ohr nicht übertönt werden, dann ist Schluss mit lustig.
In der Bahn war es, morgens auf dem Weg zur Arbeit. Da setzte sich so ein Mann um die 50 mit einem Mittzwanziger direkt neben mich. Er gab dem jüngeren Ratschläge fürs Leben. Dabei war er sich ganz sicher, dass er weiß, wie das Leben funktioniert! Das Leben ist nämlich ganz einfach. Es gibt nur ein paar Grundsätze, an die man sich halten muss:
– Mit 35 musst du wissen, was du beruflich willst. Und dazu musst du wissen, worauf du stolz bist!
– Des muss man so sehen.
– Und dann kannst du dich um ein Weibchen kümmern.
– Des muss man so sehen. Das ist Lebenserfahrung.
– Dann hast du gute Chancen bei den Weibern, weil du dann Erfolg ausstrahlst. Dann kannst du dir eins aussuchen.
– Des muss man so sehen.
– Schau dir doch die Konkurrenz an. Da lach ich doch. All die verweichlichten Kerle. Weibisch, weinerlich. Ab in den Steinbruch oder ab in die Armee mit denen! Die Weiber stehen auf andere!
– Des muss man so sehen. Da gibt es nichts zu rütteln.
– Und dann machst du dem Weibchen zwei Kinder. Da sind die scharf drauf.
– Des muss man ganz genau so sehen. Glaub mir.
– Wir brauchen starke, dezidiert stabile Männer, nicht so Typen, wie sie überall rumlaufen.
– Des muss man so sehen.
– Du bist so einer. Jetzt musst du nur noch deinen Erfolg planen. Und dann läuft das.
– Glaub mir. Des muss man so sehen.
– Das Leben ist Erfolg, Gesundheit, Arbeit, Familie und Weibchen.
– Des musst du so sehen. Dann klappt alles.
– Nur die ganzen Schlappschwänze stören. Die gehören echt alle ins Arbeitslager, in den Steinbruch. Die Jugendlichen, die in ein Drill-Camp kommen, sind nach ein paar Wochen alle geheilt. Das muss man mit den anderen Schmarotzern auch machen.
– Da geht kein Weg dran vorbei. Des ist meine Meinung. des muss so sein.
So verlief das Gespräch. Wobei nur einer sprach. Der Mann im Anzug. Der Mann, der weiß, wo es lang geht. Dann ist er zum Glück ausgestiegen. Hat aber weiter gedröhnt. In mir drin. Und dröhnt noch immer. Mit dem dem Wunsch, dass er mal in ein Drill-Camp kommt. Als Unter und nicht als Ober.
Frieren mit dem Schienenersatzverkehr
Endlich wieder Schnee. Endlich wieder Temperaturen unter null Grad. Ein richtiger Winterabend begrüßt das Wochenende. Einzig die Ankündigung des Schienenersatzverkehrs trübt den Beginn des Wochenendes. Bus fahren statt in den Zug zu steigen nervt immer. Der Bus ist voll. Die Pendler und die Fans der Berliner Eisbären haben alle Sitzplätze belegt, etliche stehen im Gang, bis der Bus vollständig gefüllt ist. Aber die Stimmung ist in Ordnung. Dem Genervt-Sein folgt schnell das unausweichliche Sich-die-in-die-Situation-ergeben.
Auch ich kletter in den Bus, quetsche mich mit einem anderen ganz vorne auf den Beifahrersitz, schwitze in zu dicker Winterjacke, kann sie aber vor lauter Enge nicht ausziehen. Auch ich verfolge verwundert die Fahrtroute quer durch Frankfurt, hinauf nach Rosengarten und dann in weniger als Schrittgeschwindigkeit über aufgerissene Baustellenstraßen weiter Richtung Pillgram. Die Zeit verrinnt, die Anspannung steigt. Und die verstärkt die Transpiration. Wo sind wir? Wie viel Zeit haben wir noch? Wartet der Zug in Jacobsdorf?
Da fährt er ein. Von Pillgram aus können wir ihn schon sehen. Der Busfahrer gibt Gas. Die Stehenden müssen sich gut festhalten. Sie schwanken in den Kurven von rechts nach links. Aber sie haben das Ziel vor Augen. Jetzt noch eine Abbiegung nach links zum Bahnhof, dann haben wir alle wieder Platz im Zug. Der Busfahrer bremst, bringt den Bus zum Stehen. Aber was ist das? Der Zug fährt los! Er wartet nicht! Er fährt einfach fast leer los!Ein Blick auf die Uhr. Der Busfahrer schaut auf die Zeit, ich schaue auf die Uhr. Drei Minuten zu früh! Der Zug fährt drei Minuten zu früh weg – und lässt uns in der Winterkälte zurück. Denn aussteigen müssen wir. Der Bus muss ja zurück nach Frankfurt und weitere Bahnkunden nach Jacobsdorf bringen.
Auf dem Bahnsteig stürmen alle zur Fahrplantafel. Wut macht sich breit. Böse Bemerkungen über die Bahn. Fast eine Stunde warten ist angesagt. Eine Stunde in der Kälte. Und das nach diesem überhitzten Bus. Eine zweite Busladung ist genauso fassungslos und verärgert. Aber es bleibt ruhig. Vielleicht zu ruhig?
Die Kälte breitet sich von unten aus. Klettert von Füßen die Beine hoch. Aber es hilft alles nichts. Warten. Wir können nur warten. Und fluchen wie die Eisbären-Fans, die jetzt sicher nicht zu Spielbeginn in der Halle sein werden. Uns bleibt warten und frieren. Und die Hoffnung, dass die Bahn sich irgendwie bemerkbar macht. Tut sie aber nicht. Die Lautsprecher sagen nichts an, auch nicht nachdem mit ihr telefoniert wurde. Sie schweigt. Und wir bedauern uns und frieren. Und verfluchen den Winter. Auf den wir uns doch so gefreut hatten.
Hertha Pauli beschreibt Mehrings Flucht aus Wien
Als Wien noch die Weltstadt war, in der das Haus Habsburg und der Walzerkönig regierten, spielte auch das Wiener Kaffeehaus eine ganz andere Rolle. Hier traf sich die große Welt, hier wurden Ideen geboren, Entscheidungen gefällt und Hoffnungen begraben. Im Kaffeehaus spiegelte sich wie auf einem kleinen Welttheater der Wandel der Zeiten. Die Figuren an den Stammtischen, Politiker, Dichter oder Schachmeister, traten entsprechend auf und ab. Die beiden berühmtesten Cafés aus der guten alten Zeit lagen nahe der Hofburg: das Café Herrenhof und das Café Central. Im Herrenhof traf sich Kronprinz Rudolf einst inkognito mit liberalen Journalisten, und im Central spielte vor dem Ersten Weltkrieg ein Herr Bronstein täglich seine Schachpartie, bis er in einem versiegelten deutschen Militärwaggon als Leo Trotzki in die Weltgeschichte einfuhr. Vor dem Zweiten Weltkrieg frühstückte ein neues Regierungsmitglied gern im Herrenhof. Jeder gute Ober kennt die Lesegewohnheiten seiner Stammgäste, und so legte er Dr. Seyß-Inquart stets geflissentlich die Zeitungen aus Deutschland auf den Tisch. War doch der Herr Minister 5sterreichs offizieller Verbindungsmann mit dem Dritten Reich.
Von der eigenen Beschränktheit
„Wie wenig du gelesen hast, wie wenig du
kennst – aber vom Zufall des Gelesenen
hängt es ab, was du bist.“ (Elias Canetti)
„Da war ich einmal fünf und einmal acht Monate im Knast. Und in Bautzen dann noch zwei Jahre.“ Direkt hinter mir im Zug sagt ein Mann diesen Satz. Ich kann mich nicht mehr auf mein Buch konzentrieren. Meine Ohren wachsen und versuchen jedes Wort von hinten nach vorne in mein Hirn zu ziehen. Es gelingt ihnen. Ich fühle mich wie im Kino. Die Worte lassen mich gruseln. Der Verbrecher ist keinen Meter von mir entfernt! Nur die Lehne meines gepolsterten Sitzes trennt mich von ihm! Aber es gibt diese Lehne! Und diese Polstersitze, die genauso blau und fast so bequem wie die im Kino sind. Die Distanz verhindert echte Angst. Nur dieser wohlige Schauer wie bei einem guten Krimi überkommt mich. Und wie im Kino sind die Nerven ganz auf das Geschehen hinter mir konzentriert.
Offensichtlich waren Drogen und Schlägereien die Gründe für die Haftstrafen. Sein Begleiter kann nicht mit Knast-Erfahrung aufwarten. Er steuert drei Jahre Therapie bei. Auch bei ihm müssen es Drogen gewesen sein, die zur Behandlung führten. Gescheiterte Existenzen also. Zum Wohlfühl-Gruseln kommt nun noch die Überlegenheit des Wissenden hinzu.
Als der Therapierte dann aber davon spricht, dass er seiner Freundin den Fernseher abkaufen will, um ihn auf den Müll zu schmeißen, stutze ich. Als sich beide über die Dauerverblödung durch die Glotze auslassen noch viel mehr. Gesteigert wird das nur noch durch die Sorge der Männer, dass die Tochter der Freundin gar keine Chance habe, als ebenfalls zu verblöden. Mein schnelles Weltbild wankt. Was ist das denn? Kulturpessimismus in Proletenslang? Meinen die das ernst?
„Der Ronny war doch auch Nazi.“ „War der nicht schwul? Der hat doch die anderen Nazis abgeknutscht, wenn die alle besoffen waren, oder?“ Der Knacki hat einen Erinnerungsreigen eröffnet. Jetzt geht es um Mitschüler. Und darum, wann die Polizei wie oft in die Schule musste, weil man sich geprügelt hat. Und wo die Bullen wen aufgegriffen haben. Die beiden haben viel zu lachen. Es klingt wie früher, wenn Opa mit alten Kameraden vom Krieg erzählte.
Und dann wieder so etwas: „Ich kann ja Bibliotheken nur empfehlen. Da bekommst Du alles und musst Dir die Bücher nicht kaufen.“ „Nee. Ich will die Bücher haben, die ich gelesen habe.“ „Warum das denn? Die liest man ja doch nur einmal. Oder hast Du schon mal eines zweimal gelesen“ „Quatsch. Wenn ich mit einem durch bin, will ich doch das nächste lesen. Es gibt doch so viele Bücher, die ich noch lesen will. Aber vielleicht will ich ja mal was nachschauen.“ „Hm. Eins hab ich zweimal gelesen. Das war mit der Sprache beim ersten Mal so schwer. Aber dann war es echt gut.“ „Was denn?“ „Steppenwolf von Herrmann Hesse. Das war echt schwer. Aber dann einfach super. Kann ich nur empfehlen.“
Ich bin platt. Die reden über Bücher! Und wollen Fernseher auf den Müll schmeißen! Die waren im Knast oder in Drogentherapie! Und jetzt sprechen sie von der Lust am lesen? Das gibt es doch nicht! Doch. Der eine hat in Bautzen angefangen und kann seit dem nicht mehr von Büchern lassen. Den anderen infizierten die Therapeuten. Was die Schule nicht schaffte, haben sie selbst geschafft. „Jeder hat sein Leben. Und jeder muss schauen, was er daraus macht!“ Das sagte der Knacki. Und der Therapierte: „Aber die Kleine kann das doch nicht allein. Deshalb muss der Fernseher auch raus!“
Und ich? Ich fühle mich wie ein Depp. Beim Aussteigen wage ich einen Blick auf die beiden. Zwei Kerle um die 30 sitzen da. Sie lachen, erzählen, leben. Innerlich kann ich nur mitlachen. Über mich und meine Beschränktheit.
Verlassen am Ostbahnhof
Wenn Dich die S-Bahn in der tiefsten Kälte stehen lässt.
Wenn Du es dann doch noch zum Ostbahnhof schaffst, wo Du in den Zug steigen willst.
Wenn Du den Zug doch noch auf dem Bahnsteig stehen siehst und erleichtert tief die kalte Luft einatmest.
Wenn die Tür aber nicht aufgeht und der Zug Dich einsam auf dem Bahnsteig zurücklässt.
Wenn Du dann vor lauter Fassungslosigkeit gar nicht in der Lage bist, Dich zu ärgern.
Dann.
Ja dann schafft es nicht einmal die Sonne, die noch tief stehend Dich blendet, Dir ein Lächeln zu entlocken.
Dann ist Dein Blick leer wir der Bahnsteig.
Und Deine Lust auf den Tag ist verschwunden wie dieser Zug.
Sibiriens Angriff auf meine Nasenspitze – und meinen Diesel
Es ist die Nasenspitze. Ob es ihre Länge ist, die sie dem kalten Wind so ausliefert? Auf jeden Fall zieht sich die Spitze so zusammen, als wollte sie sich in die Nase zurückrollen. Das ist ein Gefühl zwischen Frieren und Brennen. Auch die Ohrwaschel tun weh. Viel mehr übrigens als der Rest der Ohren. Aber die Nasenspitze macht sich ganz besonders bemerkbar.
Eigentlich wollte ich mich der Kälte ja gar nicht so aussetzen. Aber bei minus 23 oder 24 Grad floss der Diesel nicht mehr durch den Motor. Da konnte ich vorglühen, was die Batterie hergab – der Diesel kam nicht in Fluss. Also ab aufs Fahrrad und zur S-Bahn. Da machte sich die Nasenspitze zum ersten Mal bemerkbar. Die Ohrwaschel noch nicht. Die verschwanden im wärmenden Schal. Und die dicke Jacke hielt die Körperwärme fest. Nur die Oberschenkel waren nicht so geschützt, wie es das Wetter eigentlich verlangt. Doch wer rechnet schon damit, dass das Auto streikt und das Fahrrad ran muss?
Da die S-Bahn auf sich warten ließ, hatte die Kälte Zeit genug, weitere Lücken in der Kleidung zu finden. Zum Beispiel die Schuhsohle der Winterschuhe. Von unten kroch die Kälte, bahnte sich ihren Weg nach oben und ließ den Fuß von unten ganz langsam auskühlen. In solchen Momenten wird jede Minute Verspätung zur kleinen Qual, die schneller wächst als die Zeit verrinnt.
In der S-Bahn war alles warm. So viele Leiber in dicken Jacken drängten gegeneinander, dass die Kälte keinen Platz hatte. Selbst beim Halt und den dann offenen Türen konnte die Wärme der Menschen nicht komplett entweichen. Ganz anderes als am Ostbahnhof, wo der Zug 25 Minuten Verspätung hatte. Was dem Auto der dickflüssige Diesel ist dem Zug die eingefrorene Weiche. In solchen Situationen hilft nur Geduld. Und genug innere Wärme.
So machte das sibirische Hoch aus 70 Minuten Pendelzeit 140 Minuten. Davon gut 45 an der gern leichtfertig so gerühmten „frischen“ Luft. Nur gut, dass mir das auf dem Weg zurück erspart blieb. Eine feine Kollegin nahm mich mit. Nicht nur die Nasenspitze dankt ihr das noch immer.