Huss singt für alle Dauer-Praktikanten

Wenn nach einem harten Arbeitstag keine Zerstreuung möglich ist, weil die Theaterkarten zu teuer sind, dann bleibt nur eines: Sex. „Was uns bleibt, ist Sex. Was uns bleibt, das sind die einfachen Freuden, ohne Gott und ohne Geld – ohne Glauben an die Welt“, lautet  der Refrain der melancholischen Hymne für die Generation Praktikum von Daniel Huss.

Auf seiner Debüt-CD stimmt der Wahl-Hamburger aus Mainz ein erstaunlich breites  Themen-Spektrum an. Der oben zitierte Song „Was und bleibt“ ist dafür ganz  exemplarisch. Denn Huss hat einen eigenen Blick auf die globalisierte und individualisierte Welt, der sich in präzisen, oft ironischen Texten niederschlägt.

Musikalisch zieht Huss alle Register. Und das allein. Er hat sämtliche Instrumente selbst eingespielt. Dazu gehören neben der normalen Band-Ausstattung auch Laute und Orgel.
Huss bewegt sich allein durch seine 14 Songs auf HUSS – irgendwo zwischen Pop, Liedermacher und Rock. Auf jeden Fall aber bewegt er seine Hörer durch viele Überraschungen – in Text und Musik. Hoffentlich kann er seinen Job als Gemüseverkäufer bald an den Nagel hängen und eine zweite CD nachlegen.

Achim Reichel als vom Kitsch befreiter Folk-Archäologe

Ende der 80er, Anfang der 90er-Jahren wagten es die ersten Bands, traditionelle deutsche Lieder neu erklingen zu lassen. Das war vor allem in Bayern der Fall, wo sich auf den Kleinkunstbühnen die Biermösl Blosn, Georg Ringsgwandl und andere dagegen sträubten,
dass der Akustikmüll der Volksmusik-Stars tatsächlich als Volksmusik verkauft wird, obwohl er damit nichts zu tun hat.

Achim Reichel (62), in den 60ern mit seinen Rattels der erste deutsche Rockstar von internationalem Rang, hat jetzt eine CD mit Volxliedern gemacht. Die subversive Kraft dieser Lieder wird hörbar. Das, was deutsche Irland-Urlauber so lieben, wenn im Pub zu Traditionals gesungen und getanzt wird, kann man sich beim Hören der Reichel-CD auch in Deutschland vorstellen. Er befreit selbst Lieder wie „Röslein auf der Heiden“ von jedem Kitsch. Er arbeitet mit Rhythmus und Melodie, um einen richtig guten Folk-Song daraus zu
machen. Das klingt dann fast wie Johnny Cash (1931 bis 2003) auf seinen letzten Alben – nur eben auf deutsch. Damit leistet er musikalische Archäologen-Arbeit, die für den Hörer ein Gewinn ist. Sein Booklet mit allen Noten lädt zum Nachahmen beim Kneipenbesuch
ein.

Erinnerungslücken zeigen des Tücken des Systems

Alex hat mit seinem Freund einen ganz großen Plan. Sie wollen einen Virus ins Computersystem einer Bank einschleusen. Damit soll das internationale Finanzsystem zum
Einsturz gebracht werden. Doch dieser Anschlag bekommt Alex nicht.

Er wacht im Krankenhaus auf und kann sich an nichts mehr erinnern. Erst langsam kommt die Erinnerung zurück. Doch ist das, was Alex denkt, auch das, was tatsächlich passierte? Die Zweifel mehren sich, als seine Freundin sagt, dass es zwischen ihnen aus und vorbei
sei.

Alex unterzieht sich im Krankenhaus einer neuen Methode, mit der die Erinnerungen zurückkommen sollen. Doch das alles kommt ihm von Tag zu Tag merkwürdiger vor. Was geht in seinem Kopf vor? Erst als er die Aufzeichnung einer Session zufällig sieht, dämmert
ihm, was da mit ihm gemacht wird. Romed Wyder hat Lücke im System inszeniert. Als Vorlage hat er nach eigenen Angaben eine wahre Begebenheit gewählt, die aber vollständig anonymisiert worden sei. Das Risiko sei ansonsten zu groß gewesen. Ob das nun ein dramaturgischer Gag ist oder aber stimmt, ist nicht klar. So wie auch alles, was im Film als Wahrheit daherkommt, ständig infrage gestellt wird.

Lücke im System ist ein richtig guter Thriller, der mit der Manipulation der Erinnerung spielt. Und das in einem Umfeld, das Angst macht. Die jungen Darsteller sind völlig unverbraucht und überzeugen alle. Und das alles ohne künstliche Effekte. Die hat dieser Film nicht nötig.

Rainald Grebe singt für die Versöhnung

Rainald Grebe und die Kapelle der Versöhnung
Rainald Grebe und die Kapelle der Versöhnung

Rainald Grebe (35) hat den Deutschen Kleinkunstpreis 2005 zu Recht bekommen. Seine aktuelle  CD „Rainald Grebe & die Kapelle der Versöhnung“ strotzt vor Witz. Und das nicht nur bei den Texten.

Grebe gehört zu der seltenen Gattung Kabarettisten, deren Lieder auch musikalisch gut sind. Kombiniert mit diesen wunderbaren Texten entsteht so ein Album, das sowohl den Musik- als auch den Kabarettfan begeistert. Der Knüller auf der Scheibe ist zweifelslos „Brandenburg“. Das Lied über das Land, das Berlin umgibt, ist alles andere als eine Hymne. Es ist ein Abgesang, der traurige Wahrheiten benennt – und dadurch Trauer hervorruft.

„Ich-AG“, „Beckenbauer“, „Guido Knopp“ oder „Mittelmäßiger Klaus“ haben die Gegenwart auf ganz andere Art im Blick. Grebes Stärke ist es, dass er mit Ich-AG, Beckenbauer, Guido Knopp oder Mittelmäßiger Klaus und Marcus Baumgart zwei wunderbare Musiker an der Seite hat, die seine Schärfe, seinen Zorn und seine Traurigkeit mitfühlen. Sie machen zusammen mit Grebe aus satirischen Texten kraftvolle Musik, die immer den richtigen Sound hat. Wer also Lust hat, zu lachen und richtig gute, abwechslunsgreiche Musik zu hören, der kommt an dieser CD wirklich nicht vorbei.

Diese Rezension ist am 5. September 2006 in 20cent erschienen. 

Ein kurzweilig lesen von Till Eugenspiegel

Seine Streiche sind sprichwörtlich. Viele haben schon Geschichten von Till Eulenspiegel gelesen. Doch die wenigsten kennen die Streiche im Original. Der Eulenspiegel Verlag
aus Berlin hat jetzt Geschichten aus den Volksbüchern des 16. Jahrhunderts gebündelt und
vorsichtig ins Neuhochdeutsche übertragen, ohne den Charme der alten Texte zu zerstören.

Die richtige Lektüre für Kinder sind die Erzählungen vom Eulenspiegel nicht unbedingt. Denn da wird geflucht, bis der Leser fast rot wird. Aber die Konsequenz, mit der Eulenspiegel seiner Umwelt vorführt, wie gedankenlos sie vor sich hinplappert, das ist wiederum eine Lektion, die Jung und Alt nicht oft genug erteilt werden kann.

EIN KURZWEILIG LESEN VON TILL EULENSPIEGEL. EULENSPIEGEL VERLAG. 12,90 EURO.

T.C. Boyle ist in Talk Talk auf Identitätssuche

Datenschutz ist ein großes Thema, das leider kaum jemanden interessiert. T.C. Boyle (57) hat mit seinem neuen Roman ein spannendes Plädoyer für einen sorgsamen Umgang mit den eigenen Daten vorgelegt: einen Thriller um Identitäten.

Dana Halter wird auf dem Weg zum Zahnarzt festgenommen. Die taube Lehrerin versteht die Welt nicht mehr. Denn sie wird übers Wochenende nicht freigelassen. Sie sitzt in einem Bezirksgefängnis mit Nutten und Verbrecherinnen. Ihr Problem: Es gibt eine Reihe von
Haftbefehlen gegen Dana Halter aus den verschiedensten US-amerikanischen Bundesstaaten.

Ihr wird langsam klar, dass sich ein anderer ihrer Identität bedient, um auf ihre Kosten zu leben, in ihrem Namen Geld zu hinterziehen, kurz: in ihren Namen ein süßes Leben zu führen. Dana und ihrem Freund Bridger glaubt zunächst niemand. Zu eindeutig ist die Beweislage auf dem Papier. Doch die beiden machen sich auf die Suche nach dem Menschen, der sich als Dana Halter ausgibt. Und tatsächlich können sie ihn ausfindig machen. Doch der Mann, der den Namen der Frau angenommen hat, begibt sich auf
die Flucht. Dana und Bridger folgen ihm durch die ganze USA.

T.C. Boyle hat schon wieder einen Roman geschrieben, den man nicht aus der Hand legen will. Talk Talk ist das englische Wort für Gebärdensprache. Mit ihr verständigen sich Dana und Bridger. Auf einer anderen Ebene erschließen sie den Talk Talk des Identitätsdiebes
mit den Kreditkartenanstalten, die ihm sein luxuriöses Leben auf Kosten ganz anderer Menschen ermöglichen. Immer abwechselnd lässt Boyle Dana und Bridger und den Dieb
auftreten. Auf einer übergeordneten Ebene kommunizieren sie über den Leser miteinander. Der Leser selbst rutscht in die Rolle eines Mittlers, der immer tiefer ins Geschehen verstrickt wird, weil er sowohl die Sicht der Dinge aus der Perspektive der einen und des anderen kennt.

T.C. Boyle hat ein packendes Buch über ein aktuelles Thema geschrieben. Er hat ein Gespür für Themen – und vor allem die Gabe fürs Erzählen. Auch ohne Mord und
Totschlag erzeugt er mit einfachen, aber effektiven erzählerischen Mitteln Spannung, die angesichts des Umgangs mit Daten im Internet-Zeitalter echte Beklemmung auslöst.

Johannes Willms liefert die Gebrauchanweisung für Frankreich

Der Piper-Verlag hat mit seiner Reihe Gebrauchsanweisung für eine kleine Länderkunde für Reiselustige aufgebaut. Johannes Willms, der früher die ZDF-Sendung „Aspekte“ leitete, dann das Feuilleton der Süddeutschen und inzwischen für diese als Kulturkorrespondent in Paris lebt, ist ein Kenner ganz Frankreichs. Der Napoleon-
Biograf hat das gesamte Land bereist und versteht es, liebevoll von den Besonderheiten der Grande Nation zu erzählen.

Wer die 190 Seiten gelesen hat, ist gut auf eine Reise vorbereitet. Er weiß, worauf es sich zu achten lohnt und wofür keine Zeit eingeplant werden muss. Dabei läuft Willms nie Gefahr, nur die Postkarten-Ansichten zu schildern oder sich in Klischées zu verheddern.

Johannes Willms: Gebrauchsanweisung für Frankreich. Piper, 12,90 EURO

Sheila Quigley brilliert mit „Lauf nach Hause“

Debüts sind häufig problematisch. Junge Autoren schreiben meist autobiografisch, was sie selbst schon erlebt haben – und oft ist das nicht viel. Anders bei Sheila Quigley. „Lauf nach Hause“ ist ein ungewöhnlicher Thriller, der von Quigleys Biografie profitiert, ohne zu dominieren.

Heldin Kerry ist 16 und will mithilfe des Sports der Armut und dem Suff der Mutter in Newcastle entgehen. Als ihre Schwester (13) entführt wird, macht sie sich auf die Suche nach ihr – und kommt den dunklen Seiten der Familie auf die Spur. Quigley hat die Armut selbst erlebt. Das macht das Buch authentisch.

Doch die vielen überraschenden Wendungen, mit denen die Leser gefesselt werden, fallen nur einer guten Autorin ein.

Sheila Quigley: Lauf nach Hause. dtv, 14 Euro

Daniel Odija zersägt im Sägewerk die Globalisierung

Das Buch hat nur 173 Seiten. Doch auf ihnen beschreibt der junge polnische Schriftsteller Daniel Odija (Jahrgang 1974) die Verhältnisse auf dem Land im heutigen Polen so drastisch und direkt, dass es einem fast zu viel werden könnte.

Doch „Das Sägewerk“ legt man nicht aus der Hand. Dazu schildert Odija den Aufstieg und Abstieg des Sägewerkbesitzers zu eindringlich. Mysliwski nutzt den Zusammenbruch
des Kommunismus eiskalt aus. Doch dem Druck der neuen Mächtigen kann er letztendlich
nicht standhalten. Trotz seiner Brutalität. „Das Sägewerk“ ist ein eindringlicher Roman über die Auswirkungen der Globalisierung bei unserem östlichen Nachbarn. Vor allem aber ist es ein richtig gutes Buch.

Daniel Odija: Das Sägewerk; Zsolnay, 17,90 EURO.

Die Tränen von Simplizissimus Günter Grass

Dass Günter Grass (78) bei der Waffen-SS war, weiß inzwischen jeder. Jetzt streitet sich die Öffentlichkeit darüber, ob sich Grass richtig erinnert hat. Doch diese Diskussion hat nichts mit dem autobiografischen Roman „Beim Häuten der Zwiebel“ zu tun. Der Literaturnobelpreisträger Günter Grass hat keine Autobiografie geschrieben. Auf den gesamten 480 Seiten spielen Zitate oder historische Quellen keine Rolle. Grass hat einen Lebensroman über sich selbst geschrieben.

So wie er das in der „Blechtrommel“ und dem Rest der „Danziger Trilogie“ auch schon getan hat. Nur diesmal hat die literarische Figur den Namen Günter Grass. Gerade am Beispiel des vierten Kapitels „Wie ich das Fürchten lernte“ zeigt sich sehr deutlich, in
welchem Maße der gesamte Text Literatur ist. Der Günter dieses Kapitels ist ein Wiedergänger der barocken Romanfigur Simplicius Simplizissimus. Genau wie dieser
bewegt sich Günter eher traumwandlerisch durch die Welt des Militärs und des Krieges.

Simplizissimus übersteht dank seiner Einfalt den 30-jährigen Krieg. Der junge Soldat der Waffen-SS, Günter Grass, stolpert durch die Abwehrschlacht von Spremberg 1945. Erst in der Gefangenschaft beginnt er zu denken. Ähnlich wie Simplizissimus treibt Günter dann auch durch das Nachkriegsdeutschland. Er übernimmt verschiedene Jobs in unterschiedlichen Regionen. Und so wie Simplizissimus nie mehr in den Spessart zurückkehrt, weil das der Krieg unmöglich machte, kann klein Günterchen nicht zurück
nach Danzig.

In der zweiten Hälfte dieses sprachlich-formalen Barock-Romans beginnt sich Günter zu bilden. Mit der Bildung wachsen die Zweifel am bisherigen Leben – auch diese Haltung nimmt Simplizissimus als Ich-Erzähler von Grimmelshausens Roman ein. Ob diese Form des Erinnerns und Offenbarens dunkler Stellen in der eigenen Biografie die moralisch
richtige ist, kann bezweifelt werden. Sicher aber ist, dass es Grass so schafft, eine für ihn angemessene Form zu finden. Da sich die Kritiker an Grass‘ spätem Bekenntnis nur mit Fakten auseinandersetzen, gehen sie dem Schelm Simplizissimus Günter auf den literarischen Leim. Denn durch die Kunst entzieht sich der Mensch Grass den Fakten, über die er dennoch Tränen vergießt.

GÜNTER GRASS: BEIM HÄUTEN DER ZWIEBEL. STEIDL. 24 EURO.