Das ägyptische Konzil von Leonardo Sciascia spielt mit Macht, Gier und Lüge

Leonardo Sciascia: Das ägyptische KonzilOb Umberto Eco oder Luigi Malerba, in Italien ist der historische Roman auch in der Nachkriegszeit immer ein Genre der Gegenwartsliteratur gewesen. Anders als in Deutschland galt er nie als angestaubt. Und so haben ihn die besten Schriftsteller immer wieder mit alten Stoffen, neuen Ideen neu belebt. So wie der Sizilianer Leonardo Sciascia (1921 – 1989) mit seinem 1963 erschienen Roman „Das ägyptische Konzil“, der in den 1790er-Jahren in Palermo spielt.

Italo Calvino liebt den „Rasenden Roland“ von Ariost

ariostEigentlich ist es schade, dass so großartige Bücher wie der „Rasende Roland“ auch bei mir zwölf Jahre im Regal stehen, bevor sie gelesen werden. Was für ein Fest an Gedanken, Farben, Leben, Wahnsinn und Freude! Was für ein irrer Ritt durch ganz Europa! Was für eine Lust am Fabulieren und Sprache zu formen. Kaum ist das Buch zu Ende gelesen, kommt schon Wehmut auf, weil das nächste mit Sicherheit nicht so viel Kraft haben kann. Und die Erkenntnis, dass es sich eben doch lohnt, alte Texte zu lesen. Dass es ein Vergnügen ist, sich in die Gedanken- und Fabelwelten anderer Zeiten hineinzuversetzen und den Wahnsinn der Gegenwart in einem 500 Jahre alten Text zu spiegeln.

Heinz Georg Held zeigt uns die Kunstdebatten der Renaissance

Heinz Georg Held: Die Leichtigkeit der Pinsel und Federn„Italienische Kunstgespräche der Renaissance“ lautet der Untertitel eines erstaunlich lebendigen Buches über die Malerei. Heinz Georg Held hat sich nicht einzelne Künstler und deren Rezeption vorgenommen, sondern die als Renaissance bezeichnete Zeit als Ganzes. Dabei zeichnet er in seinen 21 Kapiteln die Entwicklung der Kunst und der Künstlerpersönlichkeit nach – von der erwachenden und autonomen Künstlerpersönlichkeit zu Beginn dieses prägenden Zeitalters bis zur von der Kirche und deren Gegenreformation geprägte Austreibung der Autonomie.

Das klingt sehr theoretisch und wenig fesselnd. Aber der Aufbau seines Buches überzeugt, weil uns Held in die sich verändernde Gedankenwelt mitnimmt. Das macht er anhand von Texten der Zeit, aber vor allem immer wieder mit Bildinterpretationen, in denen sich Theorie und Kunst treffen. „Die Leichtigkeit der Pinsel und Federn“ ist insofern ein Buch, das uns das Verstehen von Kunst erleichtert. Es ist aber auch ein faszinierendes Werk über versunkene Denkwelten. Und es zeigt ganz nebenbei, wie schwer es für einen selbständigen und freien Künstler ist, sich treu zu bleiben, wenn der Common sense einen Erwartungsdruck ausübt, dem man sich kaum entziehen kann.

Denn die Phase der wirklich freien Künstlerpersönlichkeit war auch in der Renaissance nur sehr kurz. Zwar konnten sich einige Maler und Bildhauer auf einer Ebene mit den Mächtigen der Stadtstaaten Norditaliens und der Kirche austauschen. Aber den Mächtigen war das auf Dauer ein Graus. Sie wollten Kunst, die sie ins rechte Licht rückt. Und dafür musste sich der Künstler anpassen. Tat er das, konnte er reich werden. Entzog er sich, war zumindest ein Verlust der Heimat notwendig. Und die Kirche fand es furchtbar, dass sich autonome Persönlichkeiten anmaßten, Bildinhalte und deren Interpretationen selbständig zu bestimmen. Deshalb versuchte sie alles nur Erdenkliche, um im Zuge der Gegenreformation wieder zur bestimmenden Kraft zu werden. Da sie nach wie vor die meisten Aufträge vergab, hatte sie einen guten Hebel. Und mit der Inquisition auch ein weiteres, kraftvolles Mittel, ihr Denken durchzusetzen.

Heinz Georg Held erzählt dies anhand einer enormen Fülle von Originalquellen. Dabei nimmt er sich selbst stets zurück und ermöglicht es dem Leser, sich die Vorstellungen der einzelnen Künstler anzueignen. Es entsteht ein stilistisch bestechendes, inhaltlich gehaltvolles und formal überzeugendes Buch über Kunst und Macht in der Renaissance.

Stefano Benni erzählt packend vom Billard

Stefano Benni: Die PantherinDer schmale Band hat gerade 90 Seiten. „Die Pantherin“ von Stefano Benni enthält zwei Erzählungen. Wobei die zweite, die nicht die Namensgeberin des Buches ist, die ergreifendere ist. „Aixi“ spielt an der Küste Siziliens. „Die Pantherin“ im Keller eines riesigen Billardsalons.

Beide Erzählungen verbindet der sehr genaue Blick Bennis auf die Umgebung und die Personen, die er beschreibt. Bei der Pantherin handelt es sich um eine legendäre Billardspielerin, die sich in der Männerdomäne durchsetzt. Ein Jugendlicher erzählt davon, wie sie im Billardsalon unter der Erde die besten und größten Spieler demontiert. Er erliegt der Faszination dieser Frau – und so ist es kein Wunder, dass eine enorme Portion Sexualität den Raum mit den vielen Billardtischen mit einer enormen Spannung auflädt. Und das vor allem, weil sie mit ihren Lederklamotten, ihrem Schweigen und ihrem phantastischen Spiel die Projektionsfläche für den jungen Kerl ist. Stefano Benni erzählt das alles ganz ruhig. Und dennoch ist der Schweiß beim Lesen fast schon zu riechen. Der Angstschweiß der Helden der Billardszene, die von der Pantherin in die Enge getrieben werden.

Ganz andere Assoziationen löst „Aixi“ aus. Auch sie ist eine weibliche Heldin. Aber keine Frau, sondern ein Mädchen, das ihren Vater retten will. Der ist Fischer, kann aber wegen eines Krebsleidens nicht mehr aufs Meer fahren. Und so verarmen Aixi und ihr Vater. Das Mädchen entscheidet sich, ein Boot auszuleihen und zu fischen. Das geht zunächst auch gut, aber ein Motorschaden bringt sie in Lebensgefahr. Stefano Benni schafft es, dass der Leser von Anfang an mit dem Kind fühlt. Die Ablehnung des städtischen Lebens seiner Tante prägt sie. Aixi will am Meer leben. Sie will die Natur spüren, ins Meer eintauchen, auf Booten fahren und spüren, dass dsa Leben auch anstrengend sein kann. Denn der Preis für ein Leben in einer städtischen Wohnung ist der Verlust der Freiheit. Und des Vaters.

Es zeichnet Stefano Benni aus, dass er beide Erzählungen so kompakt gehalten hat. Kein Satz ist überflüssig. Jedes Wort zahlt auf die Geschichte ein. Nichts lenkt ab. Andere hätten aus den Stoffen vielleicht versucht einen kurzen Roman zu schreiben. Aber er konzentriert sich auf den Kern der Geschichten. Zum Glück.

Faszinierende Abruzzen-Saga von Dacia Maraini

Dacia Maraini: Gefrorene TräumeAm Anfang steht eine verschwundene junge Frau in den Abruzzen. Und eine Ich-Erzählerin, die als Autorin von diesem Thema so gepackt wird, dass sie sich ihm nicht mehr entziehen kann. Dacia Maraini hatte also keinen Krimi geschrieben, als sie „Gefrorene Träume“ vorlegte. Das Buch ist eine große Familiensaga aus den Abruzzen – und ein Roman übers Schreiben.

Dem Buch tut genau dieser Teil nicht gut. Er lenkt von der großen Geschichte ab. Von den Wurzeln der Colomba Minna, der verschwundenen jungen Frau, die bis ins 19. Jahrhundert nach Sizilien und immer wieder in das Bergdorf in der Nähe von Avezzano reicht. Diese ist an sich wunderbar erzählt. Wobei sie auch immer wieder mythisch aufgeladen wird. So entsteht ein Dickicht aus Bezügen, die auch die historische Dimension der Landschaft aufgreift. Die verbinden in den Wäldern der abruzzischen Berge den Kampf der Marser gegen die Römer mit der Gegenwart genauso wie die zwei Jahrzehnte Faschismus und die deutsche Besatzung.

Das ist schon arg viel, was der Leser da an Ebenen, Zeitbezügen und Erzählperspektiven im Blick haben muss. Insofern ist der Roman überfrachtet. Aber die eigentliche Familiensaga ist spannend, erzählt von der archaischen Gesellschaft in Italien und den Umbrüchen in den vergangenen 120 Jahren. Maraini weiß um die Armut,den Glauben, die Zwänge, denen die Frauen ausgesetzt waren. Sie hat im Blick, wie sich existenzielle Erfahrungen über Generationen vererben. Und sie kann packend davon erzählen, wie in einem Dorf die informellen Kommunikationsformen das Leben dominieren. Die Abruzzen, diese immer wieder von Erdbeben geschüttelte Hochgebirgslandschaft, bringt sie dem Leser so sehr nahe.

Aber dafür muss man sich eben auch durch die unsägliche Geschichte des Schreibens durchkämpfen. Und leider auch immer wieder verwirren lassen. Etwa wenn die Lust an literarischen Bezügen mit Maraini durchgeht. Das hat dann schon etwas von Bildungshuberei. Und dennoch kann einen das Buch auch packen, dann will man wissen, wie sich die Geschichte von Großmutter Zaira und ihrer verschwundenen Enkelin weiter entwickelt. Vor allem aber ist man neugierig auf ihren Vater, der vor den Faschisten nach Australien flüchtete, oder auf die starken Frauen. Ein Buch also, dass man in den Abruzzen sehr gut lesen kann. Ich Eichwalde aber, würde ich es zügig weglegen.

Ignazio Silone erzählt in Fontamara vom Widerstand gegen den Faschismus

Ignazio Silone: FontamaraIn Fontamara, einem fiktiven Bergdorf der Abruzzen, herrscht Armut. Die Cafoni, die Bergbauern, kämpfen in de späten 1920er-Jahren um ihre Existenz, weil die kleinen Grundstücke nicht genug Ertrag abwerfen. Außerdem hält der Kapitalismus in Person eines römischen Geschäftsmannes Einzug in die noch immer feudal geprägte Region.

Das ist der Hintergrund vor dem Ignazio Silones Debüt-Roman aus dem Jahr 1930 spielt. Silone war zu diesem Zeitpunkt im Exil in der Schweiz. Zuvor hatte er im Untergrund gegen Mussolinis Faschisten gearbeitet. „Fontamara“ spielt in der Heimat Silones, der selbst Sohn von armen Bergbauern war. Aus der Sicht eines Cafone schildert er, wie sich der Faschismus in der Region und im Dorf immer weiter ausbreitet. Erst kommt ein Kaufmann aus Rom, der sich Schritt für Schritt nicht nur die Ernten der Bauern sichert, sondern auch die gesamte Wertschöpfungskette der Agrarprodukte. Mit dem wirtschaftlichen Erfolg wächst auch der politische Einfluss, vor allem, weil er auch Faschist ist. Schließlich wird er dann sogar Bürgermeister.

Für die Bauern aus Fontamara ist das eine Katastrophe. Denn jetzt bemächtigt er sich des Wassers, das schon immer die Felder von Fontamara bewässert hat. Alle Versuche dagegen zu protestieren laufen ins Leere und führen am Ende dazu, dass junge faschistische Schläger das Dorf überfallen, brandschatzen, Frauen vergewaltigen und auch vor Mord nicht zurückschrecken. All das erzählt Silone aus der Sicht des Bauern, dessen Frau und dessen Sohns. Dadurch wird eine erstaunliche Nähe erzeugt. Das inzwischen so ferne Geschehen ist auch heute noch fesselnd. Vor allem auch, weil neben des Konflikts der Bauern mit dem kleinstädtischen, faschistischen Bürgermeister auch die Geschichte des aufkeimenden und tatsächlichen Widerstands vor allem anhand eines jungen Mannes erzählt wird. Das ist alles stimmig und noch immer lesenswert. Nicht nur, wenn man selbst in den Abruzzen ist und stets vor Augen hat, wie hart die Arbeit für die Bergbauern früher gewesen sein muss.

Welche Bücher kommen mit in den Urlaub?

UrlaubslektüreJedes Jahr das gleiche Problem. Ungelesene Bücher stapeln sich. Da liegen aktuelle Romane, historische Texte und politische Literatur. Aber sind das die richtigen Bücher für den Urlaub? Sind sie zu schwer? Und haben sie irgendetwas mit dem Reiseziel zu tun?

Auf dem zweiten Stapel liegen Bücher, die in den Abruzzen spielen oder von Autorinnen und Autoren sind, die im Gebirge in der Mitte Italiens geboren wurden. Und Bücher, die Italien als Thema in der Gegenwart und der Geschichte haben. Aber liest sich das besser, wenn man auf die Adria blickt? Oder auf die Fast-3000er der Abruzzen?

Jedes Jahr sind es die gleichen Fragen, die bis zum letzten Moment nicht entschieden werden. Aber in meinem Kopf ist das die entscheidende Frage vor dem Urlaub. Aber entschieden wird sie erst auf den letzten Drücker. Ich bin selbst gespannt, welcher Stapel es wird.

Saša Stanišić schaut in „Fallensteller“ auch wieder nach Fürstenfelde

Sasa Stanisic: Fallensteller„Fallensteller“ heißt das aktuelle Buch von Saša Stanišić. Es enthält eine Reihe von Erzählungen. Nach dem großen Roman „Vor dem Fest“ hat der Autor sich jetzt für die kürzere Form entschieden. Auf den ersten Blick wirkt das nicht wirklich überzeugend, weil einige Erzählungen im Band mit Folgeerzählungen fortgesetzt werden. Und weil die Erzählung „Fallensteller“ eine Art Fortsetzung des preisgekrönten Romans ist. Da könnte leicht der Eindruck entstehen, Stanišić habe es nicht geschafft, die entsprechenden Stoffe zu ganzen Romanen zu bündeln. Doch trotzdem ist das Buch ein Gewinn für alle begeisterten Leser. Denn seine Sprache ist ein Fest.

Saša Stanišić hat inzwischen einen ganz eigenen Ton entwickelt, der unsere vermeintliche Realität mit Mythen, alten Geschichten, Sagen, Träumen und anderen Erfindungen oder Erklärungsmustern der Welt durch unseren Geist und unsere Seele verbindet. Bei ihm ist immer mehr in der Sprache als reine Beobachtung oder Beschreibung dessen, was als Realität bezeichnet wird. Er legt nicht nur weitere Schichten dessen frei, was uns auch noch ausmacht. Saša Stanišić schafft es mit seinen Sätzen auch eine etwas andere Wirklichkeit zu imaginieren. Er befreit uns beim Lesen als auch aus der Vorstellungswelt des nur Möglichen.

Stanišić nimmt seine Leser wieder mit nach Fürstenfelde in der Uckermark, diesen imaginierten Ort, der dennoch in unserer Welt als Fürstenwerder real, aber anders existiert. Wir begegnen dem Personal aus „Vor dem Fest“ wieder. Und einer mysteriösen Figur, die den Ort durcheinander bringt, dem Fallensteller. Der gibt vor mit Fallen Probleme lösen zu können. Er sieht aus wie ein aus der Zeit gefallener Mann in altmodischen Klamotten. Und er spricht auch wie eine Figur aus einem mindestens 200 Jahre alten Roman in Versform. Denn alle seine Antworten sind kleine gereimte Gedichte. Der Fallensteller wirkt fast wie ein Schatten des Autors, der sich über den Ort gelegt hat. Der mit seinem Roman das echte Fürstenwerder bekannt gemacht und auch verändert hat. Dass Saša Stanišić diese Veränderung nicht als Reportage, sondern als echte Literatur reflektiert, lohnt allein die Anschaffung des Bandes. Mit mehr als 100 Seiten macht die Erzählung auch den größten Teil des Buches aus.

Aber Stanišić verarbeitet nicht nur seinen eigenen literarischen Erfolg. Seine anderen Figuren sind ein alter Sägewerkarbeiter, der sich als Zauberer versuchen will. Oder ein Paar, das sich teils als Hochstapler, teils als Kunstdiebe durch Köln, Stockholm und Lappland schlägt. Und da ist der Geschäftsreisende, der Dank einer Verwechslung in Brasilien nicht zu seinem Termin gebracht wird, sondern in die Natur eintauchen kann. Allen gemeinsam ist, dass sie der Normalität entfliehen. Die einen wollen es, den anderen geschieht es, bis sie sich so darauf einlassen, dass sie erkennen, dass die Welt mehr ist als die uns so vertraute Normalität.

Ein wahnwitziger Thriller über den Brexit von Andrew Marr

marrNur noch vier Tage, dann wissen wir, ob die Briten weiterhin Europäer sein wollen oder nur noch Insulaner. Die Debatte um den Brexit hat alles, was ein Thriller benötigt; inzwischen mit der Labour-Abgeordneten Jo Fox leider auch ein Mordopfer. Als der Journalist Andrew Marr seinen Thriller „Der Premierminister“ schrieb, war ein tatsächlicher politischer Mord noch unvorstellbar. Umso lustvoller hat er darüber geschrieben.

Das Buch selbst ist ein wahnwitziges Gedankenexperiment, indem Downing Street 10, das Parlament, die Finanzindustrie und natürlich die Medien wichtige Zutaten. Natürlich darf das Königshaus nicht fehlen und der berühmte britische Humor. Ohne diesen wäre das Buch nicht auszuhalten. Aber der Witz und die Schärfe, mit der Andrew Marr, immerhin einer der wichtigsten britischen Politik-Journalisten, seine jahrzehntelange intime Kenntnis der politischen Akteure und Verhältnisse auf die Schippe nimmt, macht dem Leser sehr viel Spaß.

Leider ist es nicht möglich, das wichtigste des Buches zu erzählen, ohne die Wucht der Überraschungen beim Lesen des Buches zu zerstören. Denn jedes Mal, wenn man sich denkt, jetzt wird doch nicht dieses oder jenes passieren, geschieht noch etwas viel erstaunlicheres. Der Thriller macht einen atemlos. Und fassungslos, weil der Irrsinn angesichts der gerade stattfindenden Debatten um den Ausstieg aus Europa nicht mehr nur als ein Hirngespinst erscheinen, sondern mit Blick auf die Verbissenheit beider Seiten als Steigerung realen Geschehens erscheint. Natürlich hat das Buch auch Schwächen. Aber wer es jetzt anfängt zu lesen, wird vor dem 23. Juni noch fertig. Und hat dann wenigstens noch richtig Spaß am Brexit – auch wenn man ihn sich definitiv nicht wünscht.

Stephan Wackwitz erkundet den Kaukasus

Stephan Wackwitz: Die vergessene Mitte der WeltStephan Wackwitz ist ja nicht nur mit einem Roman über die Goethe-Institute – „Walkers Gleichung“ – bekannt geworden. Er arbeitete auch für den Vermittler deutscher Kultur im Ausland. Unter anderem in Krakau, New York und Tiflis. All diese Stationen hat er literarisch verarbeitet. „Die vergessene Mitte der Welt“ ist eine hervorragende Sammlung von Essais über den Kaukasus, die in seiner Zeit in Tiflis entstanden ist. Unter anderem hat er 2012 dort einen friedlichen Machtwechsel erlebt, der nur durch den Druck der demokratischen, westlichen Kräfte auf der Straße stattfinden konnte. Sämtliche Texte sind zwischen 2011 und 2013 entstanden.

Wackwitz gehört zu den großen deutschsprachigen Essayisten, die uns die Welt näher bringen, die früher durch den eisernen Vorhang getrennt war. Und die für den Großteil der Menschen in Westeuropa noch immer nicht wirklich interessant ist. Nach einer aktuellen Umfrage waren zum Beispiel nur 30 Prozent der Deutschen schon einmal in Polen, dem immerhin zweitgrößten Nachbarland. Und von diesen 30 Prozent kommt der größte Teil aus dem Osten Deutschlands. Umso wichtiger sind die Texte von Wackwitz oder zum Beispiel Karl Markus Gauß. Denn sie nehmen den Leser bei ihren Reisen in der Gegenwart auf eine unaufdringliche Entdeckung in die europäische Vergangenheit mit. Und machen so anschaulich, welche Entwicklungen das Jetzt bewegen und teilweise sogar bestimmen.

In „Die vergessene Mitte der Welt“ wird das besonders anschaulich. Georgien, Aserbaidschan und Armenien wirken die vielen Jahrzehnte sowjetischer Herrschaft nach. Da die drei Länder unterschiedliche Traditionen haben – Aserbaidschan ist muslimisch geprägt, Georgien und Armenien unterschiedlich christlich – hat sich dort die Dominanz Moskaus aber auch verschieden ausgewirkt. Georgien beispielsweise distanziert sich sehr stark von der imperialen Macht, die 2008 sogar Krieg gegen das kleine Land führte. Aber es gibt nach wie vor auch Stolz darauf, dass Stalin einer der ihren war. Wackwitz nähert sich solchen Aspekten als wissender Flaneur an. Er bereist das Land, spricht mit den Menschen und reflektiert die historische Substanz von Bauwerken, Städteplanung und Bushaltestellen, um den Geist zu destillieren, in dem all dies entstand. Und um zu zeigen, mit welchem Geist heute damit umgegangen wird und wie verschieden die postsowjetischen Transformationsprozesse vonstatten gehen.

Das lässt sich nicht nur gut lesen. Es ist tatsächlich auch spannend. Etwa wenn er von den Menschen in Tiflis erzählt, die sich gegen Korruption und Vetternwirtschaft wehren. Oder wenn er verdeutlicht, welche Traditionsstränge helfen den Nachhall sowjetischen Denkens zu überwinden. All das ist klug erzählt ohne auch nur den Anschein von Überheblichkeit zu erzeugen. Wackwitz ist ein Mensch, der mit Empathie durch die Gassen und über die Treppen von Tiflis geht. Genau deshalb sieht er viele Dinge, die anderen verborgen blieben.

Wer das erst vor zwei Jahren erschienene Buch jetzt kaufen will, hat ein Problem. Es ist vergriffen. Und offenbar denkt der S. Fischer Verlag, dass sich Bücher über den Osten Europas nicht so gut verkaufen lassen. Eine neue Auflage ist nicht angekündigt. Es bleibt nur der Download des Ebooks oder die Hoffnung, dass sich das Buch im Antiquariat auftreiben lässt.