Gurgeln bei Erwin Schrott

Auf der einen Seite treibt einen diese Musik an, auf der anderen bremst sie einen aus. Immer dann, wenn es immer schneller vorwärts geht, krätscht eine einsame Violine mit ihrer Melancholie in den Schwung. Und dann wird man auf sich selbst zurückgeworfen.

Erstaunlich, wie der Tango auch mit dem Opern-Bassbariton von Erwin Schrott funktioniert. So gut, dass es mir nicht möglich ist, die CD als Begleitung beim Lesen des aktuellen Romans zu hören. Immer wieder wandern die Augen sinnlos entlang der Zeilen weiter, ohne auch nur ein Wort aufzunehmen, geschweige denn den Sinn der Sätze zu erfassen. Der Tango Erwin Schrotts füllt mich aus.

Und immer dann, wenn mich die Musik so ablenkt, dass ich das Lesen einstelle, irritiert mich ein seltsames Nebengeräusch. Es ist kein Kratzen wie bei einer Schallplatte. Es ist eher ein tiefes Gurgeln, ein ständig unterbrochenes Wasserrauschen. Auf der CD ist es nicht. Nach langem Nachhorchen entdecke ich, dass es das Fallrohr der Dachrinne ist. Es regnet offensichtlich sehr stark.

Leise Musik überlagert Text. Tiefes Gurgeln dominiert den Bass Erwin Schrotts. Gedanken springen von Reiz zu Reiz. Alles verschwimmt zu einem seltsamen Grundgefühl. Da ist diese Melancholie des Tangos, dieses nach unten stürmende Wasser. Da sind die Erinnerungsfetzen bei der Suche nach Heimat in dem Roman. Alles wird eins. Nicht mehr Gedanke, nur noch Gefühl. Wie in den treibenden Passagen des Stückes oben. Ein gurgelndes Insichhören voller Wehmut und Trauer.

 

Ein Stück Nachlass als Verpflichtung: Der letzte Vorwärts vor dem Verbot

Vorwärts
Vorwärts vom 28. Februar 1933

Gefunden habe ich ihn in einer Mappe meines Großvaters. Zusammen mit einigen Fotos meines Urgroßvaters. Die letzte Ausgabe des „Vorwärts“ vom 28. Februar 1933 ist damit nicht nur von ihm aufbewahrt worden. Auch sein Sohn und dessen Sohn – mein Vater – bewahrte diese Zeitung auf. Allen war klar, wie einschneidend der Reichstagsbrand war. Und was es bedeutete, dass der Vorwärts nach dieser Ausgabe endgültig verboten wurde.

1899 ist mein Urgroßvater Mitglied der Gewerkschaft geworden. Sozialdemokrat war der Berliner Gießer-Meister auch. Als solcher hat er die Parteizeitung sicherlich zugestellt bekommen. Er hat diese Ausgabe stets aufgehoben. Nach seinem Tod ist sie zum Glück nicht weggeworfen worden. Mein Großvater hat sie auch bewahrt und mein Vater dann ebenfalls. Wenn man bedenkt, was alles in den Müll wandert, wenn ein Nachlass sortiert wird, dann ist das eigentlich erstaunlich. Doch offensichtlich haben alle drei – trotz unterschiedlicher Lebenswege – die zehn Zeitungsseiten, in denen noch zu den nächsten Demonstrationen und Kundgebungen der SPD und der Gewerkschaften im März 1933 aufgerufen wurde, als Mahnung begriffen. Keine dieser Demos hat mehr stattgefunden. Etliche der angekündigten Redner wurden umgehend inhaftiert.

Insofern ist dieser geerbte Vorwärts auch ein Stück Verpflichtung für mich. Am Samstag versuchen Neonazis in Frankfurt (Oder) aufzumarschieren. Das wird ihnen hoffentlich nicht gelingen. Dieser Vorwärts, den ich am vergangenen Wochenende fand, bestärkt mich,  ihnen nicht den Bahnhof und die Straßen der Stadt zu überlassen.

Schnitzel ist auch nur geröstetes Brot

Wiener Schnitzel mit warmen Gurken-Kartoffelsalat und Preiselbeeren.
Wiener Schnitzel mit warmen Gurken-Kartoffelsalat und Preiselbeeren.

Das Schnitzel gilt ja nach wie vor als der Deutschen liebstes Fleischgericht. In Teilen  Österreichs ist es zudem ein kulinarisches Heiligtum.  Schön flach gelklopft, fein paniert und kurz in Sonnenblumöl goldgelb gebraten ist es auch eine Köstlichkeit. Aber warum  fahren gerade Deutsche so darauf ab?

Es ist die Liebe zum Brot! Nirgendwo gibt es so viele Brotsorten wie hier. Und nach nichts sehnen sich deutsche Reisende mehr, als nach einer Scheibe guten Brots daheim. Denn im Rest der Welt gibt es ja nur lappiges Weißbrot, bestenfalls auch schlappriges Graubrot. Doch dem Deutschen genügt das nicht. Er will kraftvolles Schwarzbrot.

Beim Schnitzel bekommt er das zum Fleisch dazu. Dieses ist so dünn, dass es kaum auffällt. Aber die Panade, diese gebackene Köstlichkeit aus klassischen Teigzutaten ist der eigentiche Grund dafür, das Schnitzel zu lieben. Die Mixtur knuspert wie in Öl geröstetes Brot, wie die leckeren Brotkrümel, wie sie in Knödeln zum besseren Aufsaugen der Soße vorgehalten werden.  Auch hier ist es letztlich das Brot, das den besonderen Genuss ausmacht.

Und das Schnitzel? Was ist ein Schnitzel denn anderes als etwas Fleisch in wunderbarer Teigkruste?

„Ich war’s nicht“

Kindlicher Fingerabdruck auf frischem Bild (Ausschnitt)
Kindlicher Fingerabdruck auf frischem Bild (Ausschnitt)

Farbe muss trocknen. Das geht nicht in wenigen Minuten. Deshalb muss ein frisches Bild geraume Zeit für sich haben.

Heute früh aber finde ich diesen Fingerabdruck auf einem neuen Bild. Eigentlich ist es ja der zweite. Denn er ist braun, weil vor dem Fingertest im Blau einer auf einem brauen Teil des Bildes stattfand. Meine Freude über diese Entdeckung hielt sich in Grenzen. In sehr engen Grenzen. Diese Grenzen waren so eng, dass sich in mir wegen des ungehörigen Bilder-Tastens ein gehöriger Druck aufbaute, der mit der Suche nach dem Farb-Grabscher abgebaut werden sollte.

Aber wen ich auch fragte, die Antwort war immer dieselbe: „Ich war’s nicht.“ Viermal hörte ich den Satz. Viermal sah ich in ungläubige Augen. Viermal schallte mir der Satz unschuldig, ja fast beleidigt entgegen. Viermal erhöhte sich dann der Druck in mir. Viermal musste ich tief durchatmen, um wenigestens gelassen zu wirken.

Vor einigen Jahren schenkte die Tante meiner Kinder jedem je ein T-Shirt. Auf jedem steht: „Ich war’s nicht“. Für die Eltern gab es welche mit dem Satz: „Ich auch nicht“. Wie recht sie hatte!

P.S.: Was den Druck angeht: Auch das Schreiben in so einem Blog kann ziemlich entlasten.

Aufdruck auf einem von zwei T-Shirts
Aufdruck auf einem von zwei T-Shirts

Das fertige Bild ist hier zu sehen…

Von der eigenen Beschränktheit

„Wie wenig du gelesen hast, wie wenig du
kennst – aber vom Zufall des Gelesenen
hängt es ab, was du bist.“ (Elias Canetti)

 „Da war ich einmal fünf und einmal acht Monate im Knast. Und in Bautzen dann noch zwei Jahre.“ Direkt hinter mir im Zug sagt ein Mann diesen Satz. Ich kann mich nicht mehr auf mein Buch konzentrieren. Meine Ohren wachsen und versuchen jedes Wort von hinten nach vorne in mein Hirn zu ziehen. Es gelingt ihnen.  Ich fühle mich wie im Kino. Die Worte lassen mich gruseln. Der Verbrecher ist  keinen Meter von mir entfernt! Nur die Lehne meines gepolsterten Sitzes trennt mich von ihm! Aber es gibt diese Lehne! Und diese Polstersitze, die genauso blau und fast so bequem wie die im Kino sind. Die Distanz verhindert echte Angst. Nur dieser wohlige Schauer wie bei einem guten Krimi überkommt mich. Und wie im Kino sind die Nerven ganz auf das Geschehen hinter mir konzentriert.

Offensichtlich waren Drogen und Schlägereien die Gründe für die Haftstrafen. Sein Begleiter kann nicht mit Knast-Erfahrung aufwarten. Er steuert drei Jahre Therapie bei. Auch bei ihm müssen es Drogen gewesen sein, die zur Behandlung führten. Gescheiterte Existenzen also. Zum Wohlfühl-Gruseln kommt nun noch die Überlegenheit des Wissenden hinzu.

Als der Therapierte dann aber davon spricht, dass er seiner Freundin den Fernseher abkaufen will, um ihn auf den Müll zu schmeißen, stutze ich. Als sich beide über die Dauerverblödung durch die Glotze auslassen noch viel mehr.  Gesteigert wird das nur noch durch die Sorge der Männer, dass die Tochter der Freundin gar keine Chance habe, als ebenfalls zu verblöden. Mein schnelles Weltbild wankt. Was ist das denn? Kulturpessimismus in Proletenslang? Meinen die das ernst?

„Der Ronny war doch auch Nazi.“ „War der nicht schwul? Der hat doch die anderen Nazis abgeknutscht, wenn die alle besoffen waren, oder?“ Der Knacki hat einen Erinnerungsreigen eröffnet. Jetzt geht es um Mitschüler. Und darum, wann die Polizei wie oft in die Schule musste, weil man sich geprügelt hat. Und wo die Bullen wen aufgegriffen haben.  Die beiden haben viel zu lachen. Es klingt wie früher, wenn Opa mit alten Kameraden vom Krieg erzählte.

Und dann wieder so etwas: „Ich kann ja Bibliotheken nur empfehlen. Da bekommst Du alles und musst Dir die Bücher nicht kaufen.“ „Nee. Ich will die Bücher haben, die ich gelesen habe.“ „Warum das denn? Die liest man ja doch nur einmal. Oder hast Du schon mal eines zweimal gelesen“ „Quatsch. Wenn ich mit einem durch bin, will ich doch das nächste lesen. Es gibt doch so viele Bücher, die ich noch lesen will. Aber vielleicht will ich ja mal was nachschauen.“ „Hm. Eins hab ich zweimal gelesen. Das war mit der Sprache beim ersten Mal so schwer. Aber dann war es echt gut.“ „Was denn?“ „Steppenwolf von Herrmann Hesse. Das war echt schwer. Aber dann einfach super. Kann ich nur empfehlen.“

Ich bin platt. Die reden über Bücher! Und wollen Fernseher auf den Müll schmeißen! Die waren im Knast oder in Drogentherapie! Und jetzt sprechen sie von der Lust am lesen? Das gibt es doch nicht! Doch. Der eine hat in Bautzen angefangen und kann seit dem nicht mehr von Büchern lassen. Den anderen infizierten die Therapeuten. Was die Schule nicht schaffte, haben sie selbst geschafft. „Jeder hat sein Leben. Und jeder muss schauen, was er daraus macht!“ Das sagte der Knacki. Und der Therapierte: „Aber die Kleine kann das doch nicht allein. Deshalb muss der Fernseher auch raus!“

Und ich? Ich fühle mich wie ein Depp. Beim Aussteigen wage ich einen Blick auf die beiden. Zwei Kerle um die 30 sitzen da. Sie lachen, erzählen, leben. Innerlich kann ich nur mitlachen. Über mich und meine Beschränktheit.

Letzte Worte an meinen Vater

Vater, es war nicht immer einfach mit Dir. Du hattest Deinen Kopf, hattest Deine Überzeugungen, hattest Deinen Rahmen, den Du ausgefüllt hast. Weil Du das alles hattest, kam es zwangsläufig dazu, dass man sich mit Dir auch reiben musste.

Aber vor allem hattest Du ein großes Herz. Und viel Liebe für uns und die Menschen überhaupt. Deine Vorstellungen hast Du nicht rücksichtslos durchgesetzt. Es ging Dir nicht darum, als Missionar andere zu bekehren. Dazu hast Du Deine Mitmenschen in all ihrer Vielfalt zu sehr geliebt. Wenn jung und alt zusammenkamen, dann hast Du das genossen. Wenn Grüne und Christsoziale und Sozialdemokraten am gleichen Tisch ihren Schoppen tranken und diskutierten, dann hast Du das Leben so gespürt, wie Du es am liebsten hattest: als warm, herzlich und anregend. Denn da überwog das Menschliche das Prinzipielle. Genau da hast Du Dich wohlgefühlt.

Auf Deine Überzeugungen hast Du deshalb aber dennoch nicht verzichtet. Du hast sie nicht hintangestellt, um irgendjemanden zu gefallen. Vielmehr hast Du Dir die Freiheit genommen, in welchen Gruppen und Zusammenhängen auch immer, Du selbst zu sein. Das geht nur, wenn man einen eigenen Kopf hat. Und wenn man ein großes Herz hat. Dieses Herz hat das Verbindende gesucht und geliebt.

Manchmal hat uns Kinder dieses Herz für die anderen auch genervt. Etwa wenn wir nach dem Gottesdienst am heiligen Abend im Mannschaftsheim darauf warteten, dass Du endlich von der Runde zurückkommst, die Dich zu all jenen führte, die in der Kaserne Dienst hatten. Da wären wir lieber schon bei der Bescherung gewesen. Aber Deine Dienstauffassung und Dein Respekt für die Menschen, die da alleine ihre Pflicht taten, hat das nicht zugelassen.

Damals war das für ein Kind schwer zu verstehen. Heute nötigt es mir Respekt ab. Diese ganz natürliche Fähigkeit sich selbst für andere zurückzunehmen. Und sich für sie einzusetzen. Das hast Du ja auch immer für uns getan. Egal was passierte oder geschehen könnte, wir waren uns immer sicher, dass Du zusammen mit unserer Mutter zu uns stehen würdest. Auf diesem Fundament des Vertrauens konnten wir uns ausprobieren, konnten Freiheit und Verantwortung lernen. Wenn wir eine Frage hatten, warst Du da. Wenn wir Hilfe benötigten, hast Du sie organisiert. Dafür danken wir Dir.

Du warst neugierig auf das Leben und seine Veränderungen. Schon als junger Soldat in den 50er Jahren hast Du Dir immer den Spiegel gekauft, hast Dir ein unglaubliches historisches Wissen in der Bibliothek und mit eigenen Büchern angeeignet, hast uns auf Deiner Art Bildung nahe gebracht, ohne davon Aufhebens zu machen. Auch dafür danken wir Dir. Und dafür, dass Du auch von uns gelernt hast. Du bist nie stehen geblieben, hast auch uns und unsere Überzeugungen immer respektiert – und wenn es nötig war auch in Diskussionen mit anderen verteidigt. So hast Du schon 1990 in die Hammelburger Bürgersolaranalge investiert oder mit Mitte 50 noch angefangen Theater zu spielen.

All das zeigt, wie frei, offen und neugierig Du warst. Zusammen mit Deiner Herzlichkeit wirst Du uns deshalb nicht nur in Erinnerung bleiben. Nein. Du wirst uns auch in Zukunft Vorbild im besten Sinne des Wortes sein. Auch dafür wollen wir Dir danken.

Alle hier wissen, wie gern Du gefeiert hast, weil Du dann mit anderen Menschen zusammen sein konntest. Zum Feiern hat gegen Ende immer ein Lied gehört. Ganz oft hast Du „In wanna go home“ angestimmt, in dem es um die Sehnsucht nach Geborgenheit und Freiheit geht. Du hast Dir gewünscht, dass der Friedel das Lied für Dich singt. Er wird es jetzt tun. Wir alle denken dabei an Dich.

Klaus Oppermann (08/1934 – 02/2012)
Sein Humor fehlt uns genauso wie seine Liebe, sein Lachen und seine Herzlichkeit.

Wie die Nachricht vom Tod meines Vaters in der Familie meines Cousins ankam:

Arbeit ganz transparent

Öffentlich-rechtliche Transparenz in Frankfurt (Oder)
Öffentlich-rechtliche Transparenz in Frankfurt (Oder)

Gegenüber liegt die Buchhandlung. Wenn der Blick vom Schreibtisch nach links schweift, dann lockt das gute, alte Papier. Nicht mehr als Zeitung, an der gearbeitet wird, sondern als Buch, das gelesen werden will. Doch der Kasten mit dem Mikrophon und dem wunderbar glatt geschliffenem Holz erinnert sofort daran, dass es jetzt um Radio und Fernsehen geht.

Da, wo andere einkaufen, sitzt der rbb in Frankfurt (Oder). Und weil all diejenigen, die im Oderturm ihr Geld im Schnäppchenkaufhaus lassen auch Gebührenzahler sind, können sie die Arbeit an ihrem Programm sehen. Ihre Blicke schweifen in Studios, in einen Großraum und in mein Aquarium. Das ist ein ganz neues Arbeitsgefühl. Genau beschreiben kann ich es noch nicht. Denn der Austausch mit den Kollegen, das Diskutieren der Themen und das Kennenlernen aller dazugehörigen Prozesse zieht alle Aufmerksamkeit so sehr auf sich, dass für die Blicke nach innen und den eigenen nach außen keine Zeit bleibt.

Verlassen am Ostbahnhof

Berliner Ostbahnhof, wenn der Zug weg ist.
Berliner Ostbahnhof, wenn der Zug weg ist.

Wenn Dich die S-Bahn in der tiefsten Kälte stehen lässt.
Wenn Du es dann doch noch zum Ostbahnhof schaffst, wo Du in den Zug steigen willst.
Wenn Du den Zug doch noch auf dem Bahnsteig stehen siehst und erleichtert tief die kalte Luft einatmest.
Wenn die Tür aber nicht aufgeht und der Zug Dich einsam auf dem Bahnsteig zurücklässt.
Wenn Du dann vor lauter Fassungslosigkeit gar nicht in der Lage bist, Dich zu ärgern.

Dann.

Ja dann schafft es nicht einmal die Sonne, die noch tief stehend Dich blendet, Dir ein Lächeln zu entlocken.
Dann ist Dein Blick leer wir der Bahnsteig.

Und Deine Lust auf den Tag ist verschwunden wie dieser Zug.