Eigentlich sollen sie die Sonne abschirmen. Aber in der Turnhalle am Columbiadamm in Neukölln erfüllen die Rollläden ihre Funktion nicht mehr. Stattdessen werden sie zu modernen Skulpturen. Ihre ganz eigene Ästhetik aus Aluminium, Glas und Licht zeigt, dass nicht alles, was kaputt ist, auch schlecht ist.
Fünf Herren mittleren Alters sitzen auf der Bühne im Astra und musizieren. Hunderte Männer und Frauen ebenfalls eher mittleren Alters schwingen im Takt die Arme und tanzen. Sänger, die nicht singen können. Musiker die Songs der Pop- und Rockgeschichte covern. Leute, die sich freuen, wenn sie die Stücke erkennen. Und Humppa ohne Humpa, Humpa Tätärää, weil jedes Blasinstrument fehlt. Das ist das bizarre Geschehen im Astra Kulturhaus am Freitagabend.
Eläkeläiset haben eine treue Fangemeinde. Die fünf Finnen nehmen jedes Musikstück in ihre Mangel – und heraus kommt Musik, die in die Beine geht. Musik, die irgendwo zwischen Polka und Punk ankommt und dabei alles parodiert, was auf den Bühnen der Popkultur zelebriert wurde. Eläkeläiset ist wie einer dieser Filter, die man bei Instagram nutzen kann, um eine ganz bestimmt Ästhetik aus egal welchem Originalfoto zu erzeugen. Die akustische Ästhetik von Eläkeläiset ist die der wunderbar dilettierenden Freizeitmusiker, die alles und jeden mit ihrer Spielfreude mitreisen können. Und genau das tun sie im Astra.
AUf den T-Shirts der Fans sind stilisierte Elche. „Humppa“ steht auf ihnen oder „Old is not dead“. Humppa ist quasi der Filter, der jeden Song zu einem tanzbaren, fröhlichen und mitreisenden Polkagroove macht. Humppa ist der Schlachtruf, der der der Band entgegenschallt, wenn sie die Bühne verlässt. Nicht „Zugabe“, sondern „Humppa“ ertönt es. Und Humppa ist der Rhythmus, den der Saal tanzt und stampft. Fast schon wie Schunkeln. Nur schneller, schweißtreibender, stehend und stampfend. Und immer voller Witz und Parodie – und damit eben doch ganz anders als das Schunkeln der Volksmusikfreunde. Wobei Eläkeläiset ja quasi aus der Popkultur der Welt eine Form von finnischer Welt-Tanz-Musik macht, der sich nur humorfreie Menschen entziehen können. Im Astra gibt es die nicht. Überhumppt nicht. Humppa!
Es sind Orte wie die Brauereiwirtschaften in Bamberg, die ein Gefühl von Dauer und Bewährtem ausstrahlen. Als ich vor fast 25 Jahren das erste Mal ins Mahrs-Bräu in der Wunderburg ging, roch es schon nach guter Küche und Bier. Im Durchgang standen Männer – und wenige Frauen – um ihr Feierabendbier im Stehen zu trinken. Die Wirtsstube mit ihren Stühlen, Bänken und Vertäfelungen in dunkel gebeiztem Holz kontrastrieren mit dem hellen, massiven Tischplatten. Und in der Gaststube war alles heller.
Das ist heute noch ganz genauso. Nur der Rauch fehlt. Denn die Raucher sitzen heute wie überall draußen vor der Wirtschaft im Freien. Das Schäuferla aber ist noch genauso schmackhaft, die Kruste knackt noch immer und löst sich dann auf der Zunge auf. Die Biere werden nach wie vor halbliterweise ausgeschenkt. Und es sind nach wie vor ein Helles, ein U (Ungespundenes) oder ein Hefeweizen. Moderne Biermixgetränke stehen zum Glück nicht auf der Karte. Dafür aber derzeit ein Bock, weil Bockbierzeit ist.
Wenn man nach Jahren erstmals wieder die Wirtsstube betritt, fühlt sich das an wie ein kleines Stück Heimat aus der Vergangenheit. Das tut gut. Das riecht gut. Das schmeckt gut. Nur einmal zucke ich zusammen, fühle mich aus der Zeit gerissen. Beim Anblick des Busens der Bedienung. Es ist nicht das Dralle. Das Dekolleté ist auch nicht zu tief. Aber auf dem Brustansatz links steht etwas: Alicia oder Ann-Katrin oder so. Und rechts hat sich die Tattoonadel auch eingefräst. Mit irgendeinem modischen Namen von Mann oder Bub.
Der Giftzahn der Zeit nagt also auch hier, in einer der schönen, traditionellen Brauereiwirtschaften. Aber nicht am Wesentlichen, sondern da, wo sich das Altern auf Dauer ganz sicher nicht aufhalten lässt. Wenn in einigen Jahren der Busen gepusht werden muss und sich dennoch Fältchen in die deplatzierte Schreibschrift einkerben, dann bleibt nur noch eins: ein hochgeschlossene Bedienung. Wobei das auch heute schon besser wäre, als die eigentlich passende Tracht.
Ein untrügliches Zeichen des Älterwerdens ist das Wiedererkennen nostalgischer Gefühle beim Blick zurück. „Rotfront“ ist mittlerweile auch gar nicht mehr so jung. Und so blickt die Berliner Band auf ihrem neuen, dem dritten, Album zurück. Auf die 1990er-Jahre, auf das Wetter und auf „Songs about me“.
Ein weiteres Zeichen des Alterns ist das Akzeptieren einer Identität, gegen die man in der Jugend gern rebellierte. Das Deutsch-Sein gehört ganz sicher in diese Kategorie. Ach wie war alles schlimm, was deutsch war. Und wie selbstverständlich ist es inzwischen. Ja, vieles davon hat man jetzt gern, fühlt sich wohl in und mit ihm. Selbst die schwarz-rot-goldene Fahne und die Hymne lösen mittlerweile ja eher eine – noch immer distanziert-kritische – Behaglichkeit aus. Das geht auch „Rotfront“ so. Auf dem Cover sind die Bandmitglieder in schwarz und rot gekleidet – mit goldenen Einsprengseln. Und das, obwohl die Musiker aus allen möglichen Ländern und Regionen kommen und ihre Migrationserfahrungen offensiv ins Zentrum ihrer Musik und Texte stellte.
Aber mit der Identität ist es ja nicht so einfach. Bei ihr kommt es nicht nur darauf an, wie man sich selbst fühlt, sondern ganz stark auch, wie einen die anderen wahrnehmen. Und in Europa werden Yuri Guhrzy und Co. als deutsche Band aus Berlin gefeiert. Das alles sind offenbar Gründe, die sie veranlassten „17 Deutsche Tänze“ einzuspielen. Aber keine Angst, die Musik ist noch genauso wach, kraftvoll und von Bläsersätzen angetrieben, wie auf den ersten beiden Alben. Vielleicht ist ja auch das ein Zeichen des Alterns: Gutes und Bewährtes zu perfektionieren statt stets Neues auszuprobieren.
Für eine Band bedeutet Älterwerden ja auch, dass sie Erfolg hat. Wenn sie dabei reift wie „Rotfront“, ist das für die Hörer und die Band selbst wunderbar. Wenn sie die Neugier nicht verliert, wenn sie ihren Witz behält, wenn die Mischung aus Raggamuffin, Ska, Polka, Rock, HipHop und Reggae erhalten wird, dann entsteht ein echtes Meisterwerk zu dem getanzt, mitgesungen und viel gelacht werden kann. Mit Rotfront kann man älter werden, weil Rotfront es selbst kann. Und mit den „17 Deutschen Tänzen“ kann man das Schöne daran sogar richtig feiern.
Erstaunlich wie modern dieser Roman ist. Sabahattin Ali schildert in „Der Dämon in uns“ wie in Istanbul ein junges Paar an sich scheitert. Ömer und Macide wagen das Ungeheuerliche: Sie lieben sich, ziehen zusammen und leben als Paar. Und das ohne Trauschein und ohne den Segen der Familien. Was uns heute so selbstverständlich vorkommt, war in der Türkei in den 1920er oder 1930er Jahren noch eine absolute Ausnahme. Sabahattin Ali macht aus diesem Stoff keinen billigen Liebeskitsch, sondern einen spannenden, packenden Istanbul-Roman, der 1940, dem Jahr des Erscheinens, zum einen für den Aufbruch in die Moderne stand, zum anderen aber auch einen Hauch von Mahnung in sich enthielt.
Selten hab eich ein Buch gelesen, das auf der einen Seite urkomisch, ja geradezu furios ist, und auf der anderen fast schon peinlich. Padgett Powell schafft das. Aber da es sich um Erzählungen und Kurzgeschichten handelt, ist das nicht ganz so schlimm. Denn die ersten drei Texte sind es wert, das Buch zu kaufen.
Zwischen Einfamilienhäusern und dem Baggersee liegen die beiden Fußballplätze des VfB Fortuna Biesdorf. An manchen Stellen ist sogar der Blick auf das Biesdorfer Schloss frei. Derzeit wird am Gelände gebaut. Wer sich nach dem Spiel duschen will, muss über die Straße und in Container gehen. Blickfang auf dem Gelände ist das kleine Gartenblockhaus, in dem der Ausschank untergebracht ist und durch dessen Vorderfenster die fröhliche Dame vom Grill die Würstchen wendet.
Ich dachte an Größenwahn, als ich von der Idee hörte, dass die Musikschule Primus aus Zeuthen die Zauberflöte mit Kindern auf die Bühne bringen will. Oper ist Gesang. Oper ist Orchestermusik. Oper ist Theaterspiel. Und vor allem ist Oper das alles zusammen und auf einander abgestimmt. Alles für sich mag ja gehen, aber zusammen so gut abgestimmt, dass es für die Kinder auf der Bühne nicht peinlich wird? Mit Laien? Mit Kindern von der Grundschule bis zum Gymnasium? Das fand ich doch etwas arg ambitioniert.
Bis gestern Abend. Da war die erste Aufführung der Zauberflöte in der Turnhalle der Grundschule am Wald. Links von der Bühne war das kleine Orchester platziert. Von hier dirigierte der musikalische Leiter Markus Wolff das gesamte Geschehen. Konzentriert und etwas angespannt, aber vor allem fast immer mit einem Lächeln auf den Lippen. Kein Wunder. Denn er erlebte, dass sein gewagter Plan aufging. Er hörte Kinder, die Opernpartien sangen, eine zehnjährige Königin der Nacht, die den gesamten Saal in ihren Bann sang, er erlebte, wie das Instrumentenspiel und der Gesang auf der Bühne eins wurden. Wunderbar. Zauberhaft.
Natürlich war nicht jeder Ton perfekt. Aber das Niveau war insgesamt erstaunlich hoch. Und wenn der Mann an den Reglern der Headset-Mikrophone genauer und schneller gewesen wäre, wäre der Klang noch besser gewesen. Werner Eggrath, der die Regie führte und das Libretto so geschickt gekürzt und an die Möglichkeiten der Musikschüler und der Chöre der Schmöckwitzer und der Zeuthener Grundschule angepasst, dass auch Kenner der Zauberflöte alles wichtige wiederfanden. Und sich am Gesang und Spiel der Schülerinnen und Schüler erfreuen konnten. Zum Glück hatten die Macher den Mut, das Projekt zu wagen. Der Applaus und die Begeisterung des Publikums haben sie belohnt.
Warum vergeht die Zeit so schnell. Wenn Dagmar Manzel Lieder von Friedrich Hollaender singt, dann geht jedes Zeitgefühl verloren. So sehr wird sie mit der Musik und den Texten des großen Komponisten und Texter des Kabaretts der 1920er-Jahre und des phantastischen Filmkomponisten eins. In der Komischen Oper, da wo einst mit dem Metropol-Theater eines der bedeutendsten Häuser für Revue, Kabarett und Operette in Berlin stand, stimmt sie ihr Programm „Menschenskind“ an. Dank der muskalischen Leitung und Begleitung durch Michael Abramovich und der Unterstützung durch Teile des Orchesters der Komischen Oper wird aus der kleinen Form des Liedes ein großes, abendfüllendes Erlebnis für Ohr und Herz, für Gefühl und Gehirn.
Es sind nur ganz wenige Momente, in denen die Stimme von Dagmar Manzel nicht vollständig trägt. Das sind einige sehr hohe Passagen, die sie aber mit ihrer Präsenz und ihrer Mimik mehr als nur überbrückt. Wenn die Töne dann wieder etwas tiefer – oder gar ganz tief – angesiedelt sind, dann verwandelt sich Manzels Stimme in alle emotionalen Abstufungen von Trauer bis lustvollem Wahnsinn.
Das alles liegt an ihr, aber natürlich auch an der wunderbaren Musik und den so abwechslungsreichen Texten Friedrich Hollaenders. Dagmar Manzel will dieses Großen der Musik wieder stärker ins Bewusstsein holen. Das ist gut und verdienstvoll. Wer seine Texte hört, merkt, dass ein Bert Brecht auch nur einer von vielen war, zu denen auch Klabund, Max Herrmann-Neiße, Kurt Tucholsky oder Walter Mehring gehörten. Der spürt, welche kulturelle Vielfalt und Kraft durch die Nazis zerstört wurden. Und der bekommt dank Dagmar Manzel ganz viel Lust, mehr hören zu wollen von Hollaender und Co. Damit er lachen kann. Und weinen, je nach dem, wovon gesungen wird. Und er wünscht sich, dass Dagmar Manzel nach den Sieben Todsünden von Brecht/Weill auch weiterhin auf Entdeckungsreise in die 20er-Jahre geht. Entdecken gibt es da noch genug. Und die Manzel hat die schauspielerische Kraft und die Stimme, um genau das zu tun.
Der FC Viktoria 1899 Berlin hat im Süden Lichterfeldes nicht seinen Sitz. Aber auf dem Sportplatz an der Osdorfer Straße spielt auch die Jugend des aus dem LFC Berlin und dem BFC Viktoria 1899 fusionierten Vereins. Etwas verloren zwischen westberliner Plattenbau und Gewerbestraße, zwischen Spielplatz und den Wiesen, die sich nach Süden in Richtung des ehemaligen Mauerstreifens öffnen, liegt der Kunstrasenplatz. Sein Zustand ist gut, die Sporthalle auch. Aber anders als viele andere Berliner Fußballpläzue hat dieser nichts, was ihm eine eigene Identität, eine besondere Wiedererkennbarkeit verleihen würde. Hier wirkt der Charme der 1970er-Jahre. Und sonst nichts weiter.