Westerwelles Wissen stammt aus Sandalenfilmen

Guido Westerwelle hat mit einem einzigen Begriff Aufregung in die Sozialstaatsdebatte gebracht. Im Zusammenhang mit der Hartz-IV-Problematik sprach der Vizekanzler von „spätrömischer Dekadenz“. Andreas Oppermann hat sich über den Begriff und die Tradition der Untergangsbeschwörung mit dem Schriftsteller Gerhard Henschel unterhalten.

Herr Henschel, Sie haben ein Buch über Dekadenz geschrieben, warum?

Gerhard Henschel: Ich habe mich oft über Widersprüche zwischen Biografie und Thesen von Apokalyptikern amüsiert.

Es ist schon spannend, dass zu allen Zeiten der Niedergang gepredigt wurde.

Die gute alte Zeit wurde immer als Zeit beschworen, in der alles schicklich und sittlich zugegangen sei. Wir kennen alle die Rede von der Jugend von heute, die angeblich viel schlechter sei als die von damals. Aber dieses Damals lässt sich historisch nie ermitteln, weil jede Generation eine solche schriftliche Überlieferung hinterlassen hat. Es wurde immer gleich angeklagt.

Das heißt, es gibt gar keinen Niedergang?

Es gab sicher Zeiten, in denen das gestimmt haben mag, zumindest teilweise. Es hängt aber davon ab, was man unter Niedergang versteht. Wenn Leute einen Niedergang darin zu erkennen glauben, dass wir jetzt einen homosexuellen Außenminister haben, sieht das ganz anders aus, als wenn Menschen den Niedergang der Tischmanieren beklagen oder das Ausmaß der Umweltzerstörung als Symptom des Verfalls meinen.

Spüren Sie persönlich Niedergang?

Ich selbst bin nicht ganz frei von kulturpessimistischen Anwandlungen. Vor etwa 30, 40 Jahren lag in vornehmen Hotels die „Bild“-Zeitung nicht aus. Und zwar einfach aus Anstand. Das hat sich gründlich geändert.

Ist die Rede vom Niedergang mit dem Verweis auf Dekadenz immer politisch?

Der Verweis kann politisch sein, aber auch gesellschaftskritisch oder theologisch. Und es gibt sicherlich viele Apokalyptiker, die sich gegenseitig überhaupt nicht ausstehen können, weil sie genau in entgegengesetzten Entwicklungen den Niedergang erkennen.

Es ist aber neu, dass Liberale wie Guido Westerwelle zu Apokalyptikern werden.

Ja, er klagt ja die spätrömische Dekadenz an. Ich weiß nicht, was Guido Westerwelle über die spätrömische Dekadenz weiß. Ich vermute allerdings, er kennt sie hauptsächlich aus Sandalenfilmen, vielleicht aus Quo vadis, in dem Peter Ustinov den Nero verkörperte. Ich fand die Replik Heiner Geißlers sehr hübsch, der darauf hinwies, dass im dekadenten Rom tatsächlich ein Esel zum Konsul ernannt worden sei und wir jetzt einen Esel als Außenminister hätten.

Der Verweis auf angebliche Dekadenz ist doch immer ein Akt der Restauration. Wie passt das zu Liberalen?

Erstaunlicherweise hat gerade Guido Westerwelle von der sexuellen Liberalisierung und der Entkriminalisierung der Homosexualität profitiert. Es ist tatsächlich erstaunlich zu erleben, in wessen Horn er jetzt tutet.

War ihm das bewusst?

Dafür kenne ich Herrn Westerwelle nicht gut genug. Was ihm auf alle Fälle gelungen ist, ist das Anzetteln einer breiten und munteren Debatte. Vielleicht wollte er sich einfach auch nur ins Gespräch bringen. Wenn es darum gegangen ist, war sein PR-Gag erfolgreich.

Gab es Zeiten, wo der Hinweis auf Verfall nicht greifen konnte, weil eine Aufbruchstimmung alles überdeckte?

Der beklagte Verfall ist immer präsent. Die Frage ist natürlich: Wie hat er gewirkt? Es gab weder im Mittelalter noch in der frühen Neuzeit oder gar in der Antike Meinungsforschungsinstitute, mit deren Ergebnissen sich das beurteilen ließe. Aber wenn die Kirchenväter predigten, dass die Sitten im grauenhaften Verfall befindlich seien, wird es die Gemeinde vermutlich schon geglaubt haben.

Historiker wissen, dass Dinge, die besonders oft verboten wurden, offensichtlich be- sonders gern praktiziert wurden.

Ja, allerdings. Es ist ja so: Das, was verboten ist, macht uns gerade scharf. Die stetige Erneuerung des Verbots der Heirat und des Beischlafs zwischen Juden und Christen durch die frühen Kirchenkonzile deutet natürlich darauf hin, dass diese Gesetzgebung verhältnismäßig erfolglos gewesen ist. Sonst wäre sie nicht ständig erneuert worden.

Der Verweis auf Dekadenz ist ein Kampfbegriff, um sich abzugrenzen. Ist er deshalb auch gleich gefährlich?

Man sollte sich hüten, zu einfältig mit kulturpessimistischem Gedankengut zu hantieren. Allzu oft sind die Kulturpessimisten vom Gang der Dinge widerlegt worden. Aber es gibt auch Ausnahmen: Wer beispielsweise 1938 einen Weltuntergang aus politischen Gründen vorhergesagt hätte, der hätte wahrlich mehr als Recht behalten.

In der Auseinandersetzung um Zuwanderung und Migration sind viele kulturpessimistische Argumente zu hören. Dort geht es um Christen und Muslime.

Man erkennt in den apokalyptischen Reden mancher muslimischer Fundamentalisten genau das gleiche Muster wider, wie jene, die von den Kirchenvätern bemüht wurden. Im Prinzip deckt es sich alles durchaus. Jedenfalls so weit es sich auf die Vermutung bezieht, dass der Weltuntergang wegen sexueller Libertinage bevorstehe.

Erringt die Warnung vor dem Untergang leichter die Meinungshoheit als eine realistische Sicht der Dinge?

Die Erfahrung zeigt, dass diejenigen, die propagandistisch auf die Tube drücken, in der Regel größeren Anklang bei den Massen finden als die nüchternen Zeitdiagnostiker. Da hat sich manches sicherlich zum Besseren verändert. Ein Schreihals, wie Adolf Hitler beispielsweise, hätte heutzutage in Deutschland vermutlich nur wenige Anhänger, die er um sich scharen könnte. Da hat sich durchaus etwas verändert.

Gerhard Henschel (48) ist Schriftsteller und Übersetzer. Er war Redakteur des Satiremagazins „Titanic“ und machte sich als Autor der Bücher „Kindheitsroman“ und „Jugendroman“ einen Namen. Bekannt wurde er auch durch eine Satire über das Geschlechtsteil des „Bild“-Chefredakteurs Kai Diekmann in der „Tageszeitung“. Diekmann verklagte ihn erfolglos auf 30 000 Euro Schmerzensgeld. Henschels aktuelles Buch heißt „Menetekel – 3000 Jahre Untergang des Abendlandes“.

MOZ-Interview…

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Der Schalk Robert Gernhardt geht lächelnd von Bord

Robert Gernhardt (1937 - 2006)
Robert Gernhardt (1937 – 2006)

Robert Gernhardt hat für den Witz gelebt. Für den geistreichen, für den gereimten, für den gezeichneten, aber auch für den deftigen und derben. Er schrieb an den Drehbüchern der Otto-Filme mit. Er war der wichtigste deutsche Lyriker der Gegenwart, und er war ein geistreicher Mensch, der auf sein Gegenüber ohne Dünkel zuging. Am Freitag ist Robert Gernhardt mit 68 Jahren gestorben.

Wollte immer schnell
abtreten.
Bin wohl bestimmt zum
Weilen.
Wie soll denn den,
der so langsam
vergeht,
jemals das Ende
ereilen?

„Lagebeurteilung“ nannte Gernhardt dieses Gedicht 1996. Da musste er am Herzen operiert
werden. Nach überstandenen Herzinfarkt und Bypass-OP war er zu Recht sehr  optimistisch. Wie er die Krankheit als Chance begriff und in Herz in Not in witzige und
nachdenkliche Gedichte packte, war meisterhaft. Seine letzte Krankheit überlebte er leider nicht mehr.

1937 wurde Gernhardt im damals noch multikulturellen Reval, der Hauptstadt Estlands geboren. Nach dem Krieg kam er nach Frankfurt und begann schon bald das Reimen. Gemeinsam mit Bernd Eilert, F.K. Waechter, Eckhard Henscheid, F.W. Bernstein und anderen begründete er die Neue Frankfurter Schule in Anspielung an die philosophische Frankfurter Schule um Adorno, Marcuse und Habermas, die als Vordenker der 68er-Bewegung galten.

Doch Gernhardt und Co. hatten die Philosophie zwar begriffen, doch das Lachen darüber lag ihnen mehr. Sie gründeten die Satire-Zeitschrift Pardon und in den 70er-Jahren dann Titanic. Aus diesen Zeiten ist der Klassiker:

Die größten Kritiker der Elche
waren früher selber welche.

Bis die Kritik Gernhardt und Co.Ernst nahm, hat es lange gedauert. Die Leichtigkeit der Reime war ihnen nicht geheuer. Und die Stoffe, über die Gernhardt lachen konnte und wollte: nämlich alles. Ob Religion oder George W. Bush, ob Mülltrennung oder Krankheit.
Und das in formal vollendeten Sonetten oder in lockeren Versfolgen. Gernhardt ging das scheinbar leicht von der Hand.

In einem Essay über Literatur schrieb er: Keine Sau will mehr rühmen, jedes noch so dumme Schwein möchte berühmt werden. Das war schon in den 80er-Jahren. Also lange vor Big Brother und anderer voyeuristischer TV-Obszönitäten. Um ihm gerecht zu werden,
bleiben uns Lesern nur zwei Dinge: Weiter Robert Gernhardt lesen und weder Sau noch dummes Schwein zu sein, um ihn zu rühmen!