Der Zug von Cottbus nach Berlin war an diesem Samstag oder Sonntag sehr leer. In der ersten Klasse saß nur ein Mann, der über seine Zeitung gebeugt sehr konzentriert las. Er schaute kurz auf, als ich die erste Klasse betrat. Ich erkannte Dieter Hildebrandt sofort, grüßte ihn und setzte mich auf einen anderen der freien Plätze.
Am Abend zuvor hatte er in Hoyerswerda aus seinem damals neuen Buch gelesen. In unserer kleinen Zeitung hatten wir das natürlich angekündigt und so saß ich da und ärgerte mich, dass ich den Abend anders verbracht hatte, als ihm zuzuhören, seinen immer wieder unterbrochenen Sätzen zu folgen, bis sie sich verflüchtigten, um dann im Nachsatz, quasi im Verhallen des Gedankengefüges mit einer Pointe fast schon so sanft gefüllt zu werden, dass sie oft erst kurze Zeit später zündeten. Es war ein sonderbares Gefühl, ihm so nah und doch durch die Situation der beiden allein reisenden und lesenden Männer so getrennt zu sein. Immerhin saß ich da einem der Menschen fast gegenüber, der mich fast schon mein ganzes Leben begleitete, dessen Bücher und Programme ich gelesen hatte, dessen Auftritte ich im Fernsehen möglichst immer sah und den live zu erleben damals in Schweinfurt nachhaltigen Eindruck machte.
Es dauerte bis Lübben, bis ich meine Skrupel überwunden hatte und ihn ansprach. Dann siegte die Hoffnung, eventuell mit ihm einige Sätze wechseln zu können, über die Unhöflichkeit des Ansprechens eines Menschen, den man selbst zu kennen glaubt, der einen selbst aber gar nicht kennt. Dieter Hildebrandt schaute auf, lächelte und bot mir sofort den Platz gegenüber ein. Die Zeitung legte er zusammen und dann fragte er mich. Er wollte wissen, von mir wissen, wie stark Neonazis zwischen Hoyerswerda und Berlin verwurzelt sind, als er das Bahnhofsschild „Halbe“ las. Er interessierte sich für die Zerstörung der Natur durch die Braunkohle, für den demographischen Wandel und das kulturelle Leben in der Lausitz. Aber er antwortete auch auf meine Fragen, etwa nach seiner Herkunft aus Bunzlau, seine Erinnerungen daran und die Vertreibung. Da die Vertriebenenvertreter zu den stets gepflegten Objekten seiner kabarettistischen Angriffe gehörten, interessierte mich sein Umgang mit dem Verlust von Heimat ganz besonders. Dieter Hildebrandt erzählte aufgeräumt und schmunzelnd, seine Augen ruhten dabei die ganze Zeit auf dem ihm unbekannten Gesprächspartner. Sie waren offen und voller Interesse am Gegenüber, nicht abweisend oder skeptisch. Nein, sie waren herzlich. So wie dieser ganze Mensch in dieser Fahrt erster Klasse von Cottbus nach Berlin durch und durch herzlich war.
Schade, dass es solche Begegnungen jetzt nicht mehr geben kann. Schade, dass diese Offenheit, Neugier und Herzlichkeit vergangen ist. Schade, dass Dieter Hildebrandt gestorben ist.
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