Mitten in Homs genießt Jonathan Littell am 27. Januar einige Stunden Ruhe ohne Beschuss. Selbst ein Spaziergang war ihm und dem Fotografen Read möglich: „Das Licht verändert sich pausenlos, während die Wolken vorbeiziehen. In den Pfützen spiegeln sich der Himmel und die Fassaden der Häuser.“ Ein Moment der Idylle verschafft ihm und dem Leser Ruhe zum Durchatmen. Aber der Spaziergang öffnet auch den Blick für die Gewaltbereitschaft des Assad-Regimes in Syrien: „Durch die Treppenhausöffnungen sieht man die Zitadelle, ganz nah, keine 200 Meter entfernt.“ 200 Meter. Für die Scharfschützen der syrischen Armee ist das keine Entfernung. Und deshalb nehmen sie ständig dieses Viertel mit Rebellen in Homs unter Beschuss.
Jonathan Littell war vom 16. Januar bis zum 2. Februar in Homs. Während ich einem jungen Mann lauschte, der aus dem Tagebuch einer jungen Frau aus den 20er-Jahren vorlas, hielt er sich da auf, wo Menschen auf ein Leben ohne Diktatur hofften. Während ich wohlig in einem hippen Neuköllner Raum zusammen mit zwei Freundinnen anläßlich eines Geburtstages lauschte, wie eine junge Frau ihre erste Liebe in ihrem Tagebuch diskutierte, war Littell da, wo Frauen und Kinder, wo Männer, die sich gegen Assad auflehnen – und mit dem Leben bezahlen. Während wir Geburtstag feierten, wurden in Homs von Heckenschützen ermordeten beedigt. Für sie gibt es keine Geburtstage mehr. Littell besuchte die Untergrund-Hospitale, diskutierte die vergebliche Hoffnung auf Hilfe aus dem Westen, ertrug den Anblick von toten Männern, die von der Armee des eigenen Landes hingeschlachtet wurden.
Diese Diskrepanz macht den ruhigen und sachlichen Text Littells immer wieder unerträglich. Und doch muss er gelesen werden. Littells Buch ist ein Dokument, das zeigt, wie wir alle in Syrien versagt haben. Littell war vor dem großen Bombenangriff Assads auf Homs in der Stadt. Viele seiner Gesprächspartner leben nicht mehr – sie sind einige Tage nach Littells Ausreise von Assads Armee ermordet worden. Und das nur, weil sie Freiheit wollten, weil sie nicht mehr einem Diktator dienen wollten. Zu diesem Zeitpunkt hatten Islamisten kaum Einfluss auf Littells Gesprächspartner. Aber je länger der Westen zuschaut, wie Tausende, Zehntausende Syrer sterben, umso leichter wird die tatkräftige Hilfe von radikalen Islamisten angenommen. Denn es geht um das Überleben. Und in dieser Situation ist die tatsächliche Hilfe wichtig – und nicht absurde Beschwörungen eines Friedens mit dem Diktator, den es nicht geben kann.
Littells Buch „Notizen aus Homs“ ist ein erschütternd starkes Buch. Am 29. Januar, an meinem eigenen Geburtstag, hat Littell von einem ehemaligen Gefängnisarzt geschildert bekommen, wie Ärzte Folter dulden oder gar selbst foltern. Zur gleichen Zeit, als ich in der Märchenhütte in Berlin Mitte ein hinreißend lustiges Märchenthaeterstück sah, erlebte Littell, wie Opfer von Scharfschützen nur mit Mühe gerettet werden können – und ein anderer Mann an seinen Verletzungen stirbt. Und während ich mit meiner Familie beim Türken Köstlichkeiten aß, die Littell auch in Syrien bekam, wird ihm ein Handy gezeigt, das eine Projektil ablenkte. Dieses Handy hat einem Mann das Leben gerettet. Es hat die Kugel so abgelenkt und gebremst dass sie einige Zentimeter vor dem Herzen stoppte. An das Geburtstagsessen zu denken, während ich das Buch lese, ist irre. So wie diese Welt, in der wir immer viel zu wenig helfen, den Wahnsinn zu beenden.
Jonathan Litell: Notizen aus Homs, Hanser Berlin.