Die Reportagen von Albert Londres verblüffen durch Aktualität

Albert Londres: Ein Reporter und nichts als das
Albert Londres: Ein Reporter und nichts als das

Albert Londres kannte ich bislang nicht. Dass er ein großer französischer Journalist in den Zwischenkriegsjahren war, wusste ich nicht. Aber jetzt habe ich „Ein Reporter und nichts als das“ gelesen. „Die Andere Bibliothek“ hat wieder einmal Texte zugänglich gemacht, die in Deutschland bislang nicht verfügbar waren. Drei Bücher haben Christian Döring als Herausgeber und Linda Vogt als Lektorin in einem Band zusammengefasst. Und alle drei sind Reportagen von großer Klarheit.

„China aus den Fugen“ ist im Mai 1922 erschienen und schildert die Situation zehn Jahre nach der Abdankung des letzten Kaisers. „Ahashver ist angekommen“ ist eine Reise durch das jüdische Leben in Westeuropa, den Ghettos Osteuropas und im Palästina der Zionisten in den Jahren 1929 und 1930. Und „Perlenfischer“ ist das Ergebnis einer Recherche zwischen dem Golf von Oman und dem Golf von Aden im Jahr 1931. Jedes dieser Bücher ist ein erstaunlicher Reportageband. In ihrer Fülle sind sie ein fulminantes Zeugnis davon, was dieses Genre kann.

Das wird vor allem bei „Ahashver ist angekommen“ deutlich. Londres beginnt in London, sich auf die Suche nach dem Leben und dem Denken der Juden zu machen. Er lernt die reichen und die armen Juden kennen. Er besucht Talmud-Schulen und spricht mit Zionisten, die eine jüdische Zukunft nur in Palästina sehen. Von dort macht sich Londres auf den Weg über Westeuropa ins östliche Mitteleuropa, in die Tschechoslowakei, nach Polen und Russland. Er erlebt die kaum vorstellbare Armut der Juden in den Karpaten oder dem Lemberger Ghetto. Er reist zusammen mit Menschen, die sieben Sprachen fließend sprechen, aber es nicht schaffen sich aus den furchtbaren Zuständen ihrer Heimatorte zu befreien. Er lernt Wunderrabbis kennen und überall sieht er Fotografien von Theodor Herzl, dem Begründer des Zionismus. Londres erfährt, was die Juden Europas bewegt, wie unterschiedlich sie denken – und wie antisemitisch die Gesetzgebung Polens war, wie diskriminierend Tschechen, Slowaken, Rumänen, Ukrainer oder Russen mit der Minderheit in ihrer Mitte umgingen. Londres hört überlebenden der Pogrome in Russland zu. Und so versteht er immer besser, warum sich ein Teil der Juden in den tiefen Glauben flüchtete und ein anderer sein Heil in der Auswanderung ins Land der Vorväter in Palästina suchte.

Wer diese Reportage heute, nach der Shoa, liest, erschrickt zwangsläufig. Nicht nur, weil hier eine Welt auflebt, die durch die Mordmaschinerie der Nazis vernichtet wurde. Nein, man erschrickt auch, weil der Hass auf die Juden als ein europäisches Phänomen geschildert wird. Denn das diskriminiert werden, ja das ermordet werden, gehörte für die Juden auch in den 21 Jahren zwischen 1. und 2. Weltkrieg zum Alltag.

Sein Besuch im englischen Mandatsgebiet, in dem sich die Zionisten niederlassen durften, ist ebenfalls von einer ungeheuren Hellsichtigkeit. Londres beschreibt die Konflikte mit den Arabern, er schildert auch dort einen Pogrom gegen die Juden – und er beobachtet verblüfft, wie sie die jüdischen Einwanderer in den Dienst des Aufbaus eines jüdischen Staats stellten, ohne auf die einstige Stellung in Europa zurückzublicken. Wer etwas über das Entstehen des Nahost-Konflikts erfahren will, ist hier richtig. Denn Londres zeichnet bei seiner Reportage aus den Jahren 1929 und 1930 genau die Konfliktlinien nach, die noch heute entscheidend sind. Und er erfasst die Mentalität eines Volkes, das sich aus der Diskriminierung und Verfolgung befreit, um den eigenen Staat zu schaffen. Londres schafft es dabei, immer Distanz zu wahren. Ihn begeistern der Wille und die Zielstrebigkeit. Aber er versteht auch die Araber. Er nimmt keine Partei, sondern schafft es nur Kraft seiner Beobachtung und seiner klaren und prägnanten Stils, aufzuklären. Ein Meisterwerk eben.

Zeit für das alte Olympia-T-Shirt

Olympia-T-Shirt für Peking 2008
Olympia-T-Shirt für Peking 2008

Ich habe es noch. Das T-Shirt das ein Kollege vor sechs Jahren anlässlich der Olympischen Spiele in Peking entworfen hat. Heute ist es wieder aktuell. In Sotchi lässt sich Wladimir Putin feiern, weil er die Olympischen Spiele ans Schwarze Meer geholt hat.  Statt „Made in China“ müsste heute „Made in Russia“ auf ihm stehen. Und die Disziplin Homophobie müsste eigentlich auch noch hinzugefügt werden. Aber sonst?

Sonst ist diesmal der Größenwahn noch irrsinniger. Im Winter 2014 spielt der Sport eine noch größere Nebenrolle und die politischen Aussagen des Internationalen Olympischen Komitees sind noch peinlicher. Insofern stimmt das olympische Motto „Höher, schneller, weiter“. Die Kosten sind noch höher. Die Umweltzerstörung für dieses aberwitzige Großereignis ging noch schneller von statten. Und die Sportfunktionäre gehen in ihrer Verlogenheit noch weiter.

Ärgerlich ist das alles für die Sportler, die viele Jahre dafür trainiert haben. Sie sind der Spielball der geldgierigen Funktionäre, denen nichts heilig ist: keine Menschenrechte, keine Freiheit und keine Schöpfung. Selbstverständliche demokratische Menschenrechte werden ihnen genommen. Wer bei Putins und Thomas Bachs Spielen mitspielen will, muss sich Meinungs- und Versammlungsfreiheit abgewöhnen. Ansonsten droht Ausschluss. Das ist immer noch besser als der Einschluss in den GULAG, der russischen Demokraten droht. Aber es ist unerträglich, dass das geduldet wird, um es Russlands Diktator zu ermöglichen, sich in der Weltöffentlichkeit zu sonnen. Eigentlich müsste man den Spielen die Aufmerksamkeit entziehen. Aber damit wären auch die Sportler bestraft.

Aber solche T-Shirts sind immerhin eine Möglichkeit, die Abscheu gegenüber IOK, NOK und anderen korrupten Sportfunktionären zum Ausdruck zu bringen. Ich werde gleich mal bei dem Kollegen aus Cottbus nachfragen ob er eine überarbeitete Neuauflage plant.

Vladimir Jabotinsky beschreibt das Ende des alten Odessa

Vladimir Jabotinsky: Die Fünf
Vladimir Jabotinsky: Die Fünf

Fünf Geschwister sind es, die es dem Erzähler von Vladimir Jabotinsky angetan haben. Fünf Menschen, die aus einer aufgeschlossenen, liberalen Familie Odessas stammen und alle so unterschiedlich sind, wie die Zeit, in der sie leben. Da ist Lika, die Revolutionärin, Marussja, die zärtliche Frau, die sich nach Leben und Familienglück sehnt, Torik, der rationale Planer, Serjoasha, der Hallodri und Marko, der Träumer. Ihnen allen begegnet der erzählende Journalist von cairca 1900 bis 1910 immer wieder.

Jabotinsky war Jude und Journalist aus Odessa. 1880 geboren, war er um das Jahr 1905 ungefähr genauso alt, wie sein Erzähler. Geschrieben hat er seinen Roman „Die Fünf“ 1936, als die Bolschewisten schon fast 20 Jahre in Russland an der Macht waren. Und damit das multikulturelle, weltoffene Odessa untergegangen war. Zur Zeit von Niederschrift und Erscheinen war er schon lange Zionist, ja ein rechter, nationalistischer Zionist. Dennoch ist sein Roman davon überhaupt nicht geprägt. Nur von der Wehmut an die Erinnerung an die untergegangene, bürgerliche Gesellschaft Odessas.

Exemplarisch für das Liberale ist Marussja. Sie ist eine Frau, die Nähe sucht. Sie ist so frei, nackt im Schwarzen Meer zu baden. Sie hat Männer um sich und nimmt sie sich auch. Sie sucht die Nähe, legt sich zum Erzähler ins Bett, um zu spüren, aber nicht, um mit ihm zu schlafen. Ein auf der einen Seite sehr freies Verhalten, auf der anderen aber auch eines, das ihre Verehrer quält. Sie entscheidet sich für die Ehe mit einem Langweiler, obwohl sie einen anderen liebt, den sie damit in den Selbstmord treibt. Obwohl das alles irre ist, ist sie liebenswürdig und ihre Gesellschaft ein Genuss. All das beschreibt Jabotinsky mit einer Distanziertheit, die die Phantasie des Lesers stark anregt.

Jabotinskys Ton ist generell sehr zurückhaltend. Dadurch wirkt das Geschehen um so stärker. Er geht auch kaum auf die gesellschaftlichen und politischen Prozesse ein, die zur Revolution von 1905 führen. Aber dennoch nimmt der Leser die Veränderung wahr. Nicht unbedingt als Fortschritt, aber auch nicht als Anklage. „Die Fünf“ wurden das erste Mal ins Deutsche übersetzt. Zum Glück gibt es inzwischen eine Erfolgsausgabe des Buches, das in der Anderen Bibliothek erschienen ist.

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Salka Viertels Erinnerungen an ihren Bruder, den Fußball-Star Zygmunt Steuermann

Zygmunt Steuermann in der Ausstellung des Instituts für angewandte Geschichte. Illustration Thomas Gronel
Zygmunt Steuermann in der Ausstellung des Instituts für angewandte Geschichte. Illustration Thomas Gronle

Das Institut für angewandte Geschichte in Frankfurt (Oder) erinnert in einem schönen Projekt an bedeutende Fußballer Osteuropas. Einer davon ist Zygmunt Steuermann, der von seiner Familie von klein auf Dusko genannt wurde. Seine Schwester Salka Viertel erinnert sich in ihrer Autobiografie „Das unbelehrbare Herz“ immer wieder an den Bruder – „wir waren vier Kinder – Zygmunt, genannt Dusko war der Jüngste“, der weder in die juristischen Fußstapfen des Vaters noch in die künstlerischen seiner Schwester und seines Bruders Edward treten wollte.

In ihren Erinnerungen schreibt Salka Viertel über den kleinen Bruder: „Dusko  (…) führte sein eigenes Leben. Er war immer irgendwo draußen und kommandierte die Bauernjungen, die die Kühe hüteten. Er ritt wie ein Zirkusakrobat, schwamm und spielte Tennis. Er war stark und schön und sah mit seinem kupferfarbenen Haar wie Jung-Siegfried aus. Meine Eltern hatte er völlig unterjocht. Papa kam nie nach Hause, ohne ihm ein Geschenk mitzubringen. Dusko war sich seiner Macht bewusst und nahm sich unglaubliche Freiheiten heraus.“ (Seite 37)

Mit zehn Jahren scheint die Erziehung des wilden Jungen fast gescheitert. Die Eltern und alle Erziehenden verzweifeln an ihm: „Man sprach davon, ihn in ein Pensionat zu stecken, da sämtliche Lehrer und Gouvernanten daran gescheitert waren, seinen entschlossenen Widerstand gegen jede Art von Erziehung zu brechen. Er war der wildeste Junge weit und breit; er spielte wunderbar Tennis und ritt zwei Ponys wie ein Zirkusartist, oft stand er nur mit einem Fuß auf dem Rücken des galoppierenden Tieres. (…) Wenn er schmutzig, übelriechend, das kupferfarbene Haar zerzaust, groß, schlank und schön, endlich zum Essen auftauchte, rügte Papa ihn mit unglaublicher Milde. (…)  Dusko behandelte uns »Künstler« mit Verachtung. Niemand von uns konnte ihn im Tennis schlagen, und von Fußball hatten wir keine Ahnung. Obwohl unsere Eltern Fußball als ein Spiel für Rowdys betrachteten und nur ein sehr begrenztes Verständnis für Sport im Allgemeinen aufbrachten, waren sie von den physischen Leistungen ihres jüngsten Sohnes merkwürdig beeindruckt.“

Aus heutiger Sicht ist dieser Aspekt sehr spannend. Wer regelmäßig Fußballspiele von Kinder- und Jugendmannschaften besucht, wer schon einmal bei einem DFB-Auswahl-Turnier war, der weiß, dass Eltern alles für die Entdeckung ihres Sprößlings tun. Anfang des 20. Jahrhunderts war Sport aber noch so anrüchig, dass Eltern wie die Steuermann alles dafür taten, die Talente Duskos nicht zu fördern, sondern möglichst zu brechen.

Schon 1914, im ersten Kriegsjahr des ersten Weltkrieges mussten die gesamte Familie Steuermann das Gutshaus in Sambor verlassen und nach Wien fliehen. In Galizien verlief die Front genau dort. Sambor wurde mehrfach von Russen und Österreichern erobert und zurück erobert. Salka schreibt über diese Zeit: „Dusko war ein ausgezeichneter Sportler und vernachlässigte dafür sein Studium, so dass Papa ihn schon in der Gosse enden sah, während mir seine ständigen Forderungen nach mehr Taschengeld Sorgen machten. Optimistisch wie immer sagte Mama, sie habe ein ernstes Gespräch mit ihm gehabt, und er habe ihr einige Spielschulden eingestanden, jedoch versprochen, sich zu bessern. Ein paar Tage später suchte Großmutter vergeblich nach ihrer Diamantbrosche. Ich versuchte an Duskos Vernunft zu appellieren und war schockiert von seinem Mangel an Gefühl und von seiner Rücksichtslosigkeit gegenüber meinen Eltern. Er sagte, in einem Jahr würde er bestimmt Soldat sein, und er werde vielleicht fallen. Deshalb wolle er sein Leben genießen, so lange er könne. Ich sah ihn an, wie er so dasaß: stark, störrisch, schön und voll unverhohlener Feindseligkeit gegen mich. »Ich verstehe nicht«, sagte er, »worüber man sich aufregt. Alles, was ich will, ist etwas mehr Geld! Sogar meine Lehrer loben meine sportlichen Fähigkeiten, nur zu Hause betrachtet man Fußball als Verbrechen.« Das stimmte. Einmal hatte ich beim Essen gesagt, Dusko könnte in Amerika Karriere machen, und man solle ihn dorthin schicken. Mein Vater sah mich empört an: »Aber er ist doch kein Verbrecher, dass man ihn nach Amerika schicken müsste!«“

Später meldete sich Dusko freiwillig an die Front. Er diente in einem Artillerieregiment der K.u.K.-Truppen in der Slowakei und später an der Westfront. Nach Ende des Krieges ging es in Osteuropa weiter. Dusko zog nun die polnische Uniform an, da Sambor nun polnisch war – und die Steuermanns damit die polnische Staatsbürgerschaft bekamen. Jetzt wurde gegen die Bolschewisten gekämpft, die große Teile der heutigen Ukraine besetzten, von den Polen aber verdrängt wurden. Als er die Uniform ausziehen konnte, widmete er sich ganz dem Sport: „Dusko war nach wie vor der begeisterte Sportler. Es war schon aufregend, ihn beim Fußballspielen zu sehen, wie er in kurzen Hosen, mit schimmerndem kupfergoldenem Haar, über das Spielfeld rannte. Die Mädchen von Sambor jubelten entzückt! Dusko! Alle himmelten ihn an, außer Papa. »Vom Fußballspielen kann man nicht leben!«“ (Seite 136).

In den 1920er-Jahren wird der Ruhm des Fußballers größer: „Dusko war selten daheim. Er war in bester Form und auf dem Gipfel seines Ruhms als Fußballer. Mit seiner Mannschaft fuhr er zu Spielen in alle möglichen Städte und Länder. Auf unserer Reise nach Sambor war ich mit einem älteren, gut genährten und außerordentlich wissbegierigen Herrn ins Gespräch gekommen. Als ich unser Reiseziel nannte, fragte er mich nach meinem Mädchennamen. Geradezu überwältigt rief er: »Steuermann! Sind Sie vielleicht zufällig mit dem berühmten Steuermann verwandt?« Ich war überzeugt, dass er Edward (der ein bekannter Musiker und Komponist aus der Schule Arnold Schönbergs war – A.O.) meinte, der nach dem Krieg als Pianist und Lehrer Ruhm erlangt und einige Monate zuvor mit riesigem Erfolg in Lemberg gespielt hatte. Der Mann erklärte mir, dass er nicht Edward, sondern Dusko Steuermann meinte, den großen Sportler und Fußballer. Ich erzählte meinem Vater von diesem Intermezzo, doch er ließ sich nicht davon überzeugen, dass man durch Fußballspielen berühmt werden kann.“ (Seite 161)

Salka Viertel lebte in Dresden, Düsseldorf und Berlin mit ihrem Mann, dem Schriftsteller und Regisseur Berthold Viertel. Schon anfangs der 30er-Jahre siedelte sie in die USA um, wo sie in Hollywood eine wichtige Drehbuchautorin wurde – und ihr Haus ein Zentrum des deutschen Exils. Sie schrieb für Greta Garbo und war eine der ganz wenigen, die von der Garbo akzeptiert wurden. Dabei vergaß sie nie ihre Familie: „In diesen Jahren beschwor ich meine Mutter immer wieder, nach Amerika zu kommen und mit uns zu leben. Sobald ich die amerikanische Staatsbürgerschaft erhalten hatte, wollte ich auch Zygmunt und Viktoria herüberkommen lassen. Aber meine Mutter lehnte ab: »Es ist in meinem Alter schwer, sich an eine völlig neue Umgebung zu gewöhnen. Ich würde sehr gern
zu Besuch kommen, aber für immer von hier fortzugehen und meine drei anderen Kinder nicht mehr sehen zu können, alles zu verlassen, auch die GrabsteIle neben Papa, die mir die Stadt geschenkt hat – nein, das ist undenkbar für mich. » Wenn nur Zygmunt – das ewige Sorgenkind – eine Stellung gefunden hätte. Er hatte eine Möglichkeit, nach Palästina zu gehen, war aber nicht sehr begeistert von diesem Gedanken.“ (Seite 262)

Als sie die amerikanische Staatsbürgerschaft annimmt, denkt sie an die Familie: „Trotz meinem Widerwillen gegen Fahnenschwenken und patriotische Demonstrationen stand ich mit Tränen in den Augen da und leistete gemeinsam mit dreihundert weiteren neuen Amerikanern den Treueid, demütig und dankbar, denn von nun an waren meine Söhne freie Menschen, jetzt konnte ich meine Mutter und Dusko aus dem faschistischen Teil Europas herausholen.“ (297)

1939 reist Salka Viertel nach Paris, auch um endlich Mutter und Geschwister wiederzusehen. Doch die Politik macht einen Strich durch die Pläne: „Da Zygmunt mich drängte, nach Polen zu kommen, weil er mich seit Jahren nicht gesehen hatte, kamen wir überein, uns alle drei in Warschau zu treffen. Ich wollte am 23. August fliegen. Als ich am 21. August aus der Bretagne zurückkam, berichteten die Pariser Zeitungen von dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt. Der Hotelportier sagte mir, ich könne nur nach Kopenhagen fliegen und zusehen, wie ich von dort aus weiterkäme. Er riet, die Reise zu verschieben, da kaum Aussicht auf einen Rückflug bestünde.  Während wir noch sprachen, brachte man mir ein Telegramm von Gottfried, in dem er mich eindringlich bat, nicht mehr nach Polen zu reisen; er und alle anderen seien von der Unvermeidlichkeit eines Krieges überzeugt. Auch Mr. Lawrence vom Pariser Büro der MGM riet mir auf telegrafische Weisung von Bernie Hyman dringlich von der Reise nach Polen ab. Traurig schickte ich meiner Mutter ein langes Telegramm. Sie antwortete, sie und Zygmunt hätten gerade nach Warschau fahren wollen, und ihre Enttäuschung sei groß gewesen. Sie glaubte, die politischen Spannungen würden sich wieder legen. Sie hielt es für ein gutes Zeichen, dass Zygmunt, der Reservist war, noch keine Einberufung bekommen hatte. Sie hoffte, mich in den Vereinigten Staaten zu besuchen, sobald sie ihr Visum bekäme.“

1941 leben Mutter und Sohn in Moskau – von den Überweisungen der Tochter und Schwester aus Hollywood. Von dort gelingt es Salka die Mutter in die USA zu holen. Dusko hatte sich nach er sowjetischen Besatzung dazu entschieden, die polnische Staatsbürgerschaft anzulegen und Bürger der UdSSR zu werden. Das hatte verhindert, dass er schnell deportiert wurde. Aber nach dem Angriff Hitlers auf Russland nützt ihm das nichts mehr. Zygmunt Steuermann stirbt in einem KZ.

Die Schwestern Ruzia und Salka sprechen oft darüber: „Wenn Ruzia und ich allein waren, sprachen wir über Zygmunt. Wir konnten nicht begreifen, warum er nicht nach Russland geflohen war. »Ich wage mir gar nicht vorzustellen, was Mama mitgemacht hätte, wenn sie in Sambor geblieben wäre«, sagte Ruzia.“

Hier noch ein Film des rbb-Magazins Theodor über das Projekt…

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Gabriele Riedle blickt in einem Tunnel auf eine depressive Generation

„In ihrer Nutzlosigkeit sind schließlich alle
Menschen wieder gleich. So wie sie es ganz
früher in ihrer Nacktheit waren, am
sechsten Tag der Schöpfung.“

Gabriele Riedle: Überflüssige Menschen
Gabriele Riedle: Überflüssige Menschen

Von „Überflüssigen Menschen“ erzählt Gabriele Riedle in ihrem neuen Roman. Vor allem von Natalie, einer Übersetzerin aus dem Russischen, die sich einst von der schwäbischen Kleinstadt in die Großstadt Berlin aufmachte und jetzt ein Theaterstück von Tschechow für das Ulmer Theater neu in Deutsche bringen soll. Doch statt des neuen Textes entsteht ein innerer Monolog, der sich vor allem an die drei Schwestern des Stückes richtet. Und damit mehr als ein ganzes Jahrhundert Geschichte auf eine ganz spezielle Art in den Blick nimmt.

Dieser Blick ist ein Tunnelblick, den Natalie leidet an einer Erbkrankheit, die ihr das Augenlicht nimmt. Und sie leidet an einer Depression. Denn alles, was sie da aufschreibt ist eine hoffnungslose Gesamtschau auf die Menschheit, auf die eigene (Nachkriegs-) Generation und auf sie selbst. Unfähig zu arbeiten, unfähig zu genießen, unfähig Beziehungen einzugehen und zu leben, unfähig Freude aus dem Leben zu ziehen, igelt sich Natalie ein, denkt nur über den Mann, eine frühere Jugendliebe, der ihr den Übersetzungsauftrag erteilt hat, nach – ohne sich aufzuraffen ihr auch zu treffen. Und somit auch echt zu leben – und nicht nur in ihrem gedanklichen Tunnelblick.

Gabriele Riedle schildert eine Frau, die es geschafft hat, aus der Enge der schwäbischen Provinz, aus der Familie mit SA- und SS-Angehörigen auszubrechen. Natalie ist eines dieser Nachkriegskinder, denen es die Bildungsoffensive der SPD in den 70er-Jahren ermöglicht hat zu studieren und so die Welt für sich selbst zu erobern. Natalie studiert Russisch, sie sympathisiert mit der RAF, sie erliegt auf ihre Art der Faszination der Gewalt, die ihr Großvater in der SA und später auf seinem Marsch nach Moskau auslebte.

All das bündelt Riedle in knappe 34 Kapitel, die in einem Strudel aus Widerholungen von Gedanken, die allerdings immer wieder in neue Zusammenhänge gestellt werden, einen ganz eigenen Sprachrhythmus erzeugen. So werden ganz kleine, persönliche Erlebnisse in den großen Gesamtkontext der Geschichte des 20. Jahrhunderts gestellt. Und auch in den unseres ersten Jahrzehnts. In dem in der Finanzkrise Banker aus Fenstern springen, weil sie überflüssig sind. So wie sich Natalie fühlt, die aber nicht springt, sondern sich in ihren Gedanken vergräbt.  Und den Leser so verwirrt, und dennoch fesselt.

Gabriele Riedle: Überflüssige Menschen. Die Andere Bibliothek, Eichborn Verlag, 32 Euro.

Olga Grjasnowa rollendes „r“ macht Mascha sympathisch

Olga Grjasnowa  kurz nach der Lesung von "Der Russe ist einer, der Birken liebt" in der Berliner Buchhandlung "Moby Dick".
Olga Grjasnowa kurz nach der Lesung von „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ in der Berliner Buchhandlung „Moby Dick“.

Ihr „r“ rollt so schön. Und ihre Betonung der zweiten statt der ersten Silbe erzeugt einen ganz eigenen Lesefluss.  Olga Grjasnowa hat sich gut auf ihre gut einstündige Lesung vorbereitet. Sie liest nicht eine Passage am Stück, sondern hat etliche kleinere Szenen aus ihrem gesamten Roman „Der Russe ist einer, der Birken liebt“, die den Handlungsstrang erkennen lassen.

Leicht aufgeregt wird die Anspannung der Autorin durch mehrere Mikrophon-Aussetzer noch verstärkt. Dann wird ihr Deutsch mit dem schönen leichten Akzent leider etwas monoton. Die Konzentration des Zuhörers darf sich dann nicht von den Bücher- und CD-Regalen der der schönen Buchhandlung „Moby Dick“ in Prenzlauer Berg ablenken lassen. Denn dann wird es schwer zu folgen.

Deutlich wird das vor allem am Ende. Sie habe Mascha, die Protagonistin, ursprünglich noch böser angelegt, als sie dann im Roman wurde, meint Olga Grjasnowa auf eine Frage der Buchhändlerin. Doch Mascha kam bei der Lesung als überhaupt nicht böse an. Eher als Opfer, die einen Todesfall zu beklagen hat und bei der Einreise nach Israel bei der Kontrolle so sehr schikaniert wird, dass sogar der Laptop zerstört wird. Als eine Frau mit bösen Neigungen, wird Mascha nicht greifbar. Im Gegenteil: Die Lesung sorgt für viel Sympathie mit ihr.

Die Buchhandlung ist übrigens fast schon überfüllt. Viele Zuhörer sind um die 30. Sie fühlen sich angesprochen von dieser Geschichte, die im multikulturellen Milieu der gut ausgebildeten, mehrere Sprachen sprechenden Deutschen mit den Migrationshintergrund spielt. Und in der damit verbundenen Bindungslosigkeit, die bis zu zwischenzeitlichen Aufenthalten in der Psychiatrie reicht. Das ist alles auch sehr verwirrend. Und wahrscheinlich ein Grund, weshalb man den Roman doch lesen sollte. Neben der nach wie vor offenen Frage, warum Russen, Birken lieben. Und dieser Titel über einem Text steht, der eine Frau in den Mittelpunkt rückt, die aus Aserbaidschan stammt. Und: rollen die dort das „r“ auch so schön?