Der Preis Goncourt ist den meisten Literatur-Freunden bekannt. Die wichtigste Auszeichnung für französische Literatur ist ein Gradmesser für Trends und Qualität. In Deutschland sind die Namensgeber dieses Preises dagegen kaum noch bekannt. Andere französische Schriftsteller des 19. Jahrhunderts haben sie hierzulande verdrängt. Dass es sich dennoch lohnt, Romane der Brüder Edmond und Jules de Goncourt zu lesen, beweist die Andere Bibliothek mit „Manette Salomon“.
Schlagwort: Prix-Goncourt
de Sades Schädel hat eine tödliche Faszination
Er ist widerlich. Er ist abstoßend. Er ist faszinierend und er ist auch anziehend. Dieser Marquis de Sade, der am 2. Dezember 1814 in einer Irrenanstalt gestorben ist, gehört zu den historischen Figuren, die in jeder Generation neu entdeckt und verdammt wird. Alle setzen sich mit dem Lüstling und Philosophen, mit dem Revolutionär und Irrenhaus-Insassen auseinander.
Der mittlerweile verstorbene französischsprachige Autor Jacques Chessex aus der Schweiz hat das in seinem letzten Roman getan. Wobei Roman für die 127 Seiten eigentlich nicht der richtige Begriff ist. Das Buch handelt vom Schädel des Marquis, der nach seinem Tod ein Eigenleben entfaltet hat. Denn schon sein letzter Arzt hatte fest im Blick zu untersuchen, ob sich an und im Schädel die Abartigkeiten des Sadisten, Sodomisten und vor allem unbändigen Freigeistes materialisiert ablesen lassen. Deshalb bemächtigt er sich des Schädels, um ihn zu sezieren.
Chessex orientiert sich an historischen Begebenheiten. Er schildert den Insassen und Wüstling, der seinen sexuellen Passionen dank gut gefüllter Schatullen immer ausleben konnte. Er erzählt von den pathologischen Experimenten. Und er forscht dem Schädel nach. denn nicht nur der Arzt erliegt dem Totenkopf. Immer wieder bemächtigen sich unterschiedliche Mensches des Knochenstücks. Und immer wieder geschehen Unglücke in seiner Nähe; meist tödliche. Der erste Ausländer als Prix-Goncourt-Preisträger formt so eine Reihe von Episoden zu einer Erzählung über die Strahlkraft und Faszination des Marquis de Sade, die im nekrophilen Glauben an dessen Schädel gipfelt. Das passt natürlich zu dem Mann, der zu den schillerndsten Figuren der Aufklärung gehört.
Chessex verdichtet und verknappt historische und fiktive Begebenheit so sehr, dass dabei ein erstaunliches Porträt de Sades entsteht, obwohl der nur im ersten Viertel des Buches als Person beschrieben wird. „Der Schädel des Marquis de Sade“ ist ein faszinierender, abstoßender und dennoch fesselnder Solitär. Ein Buch, das schnell, in einem Zug gelesen wird und den Leser seltsam erregt und verwirrt zurücklässt.