Historische Romane sind sehr oft bunt und überladen. Sie versuchen, dem Leser der Gegenwart angesichts eines Panoptikums der Seltsamkeiten der Vergangenheit einen wohligen Schauer zu bescheren. Wer mit solchen Erwartungen an „Cox oder der Lauf der Zeit“ von Christoph Ransmayr liest, wird enttäuscht. Wer sich aber auf die Geschichte aus dem China des 18. Jahrhundert einlässt, um darin ein Gleichnis über Zeit und Vergänglichkeit zu finden, wird angesichts der Sprache Ransmayrs nicht mehr von diesem Buch lassen können. Nicht Effekt, sondern Sätze von fast wunderbarer Schönheit machen diesen Text aus.
Schlagwort: Christoph Ransmayr
Christoph Ransmayr kartografiert die Ängste eines Mannes
70 kurze Erzählungen hat Christoph Ransmayr in seinem neuen Buch versammelt. Alle beginnen mit „Ich sah“. Alle schildern Begebenheiten, die Ransmayr selbst erlebt hat. Bis auf eine. Sie beruht auf einem Erlebnis seiner langjährigen Partnerin, die sie als Kind erlebte. Aber auch sie hat mit ihm zu tun. Mit seiner Wahrnehmung einer bestimmten Ecke Österreichs am Inn. Und mit Ängsten.
„Atlas eines ängstlichen Mannes“ heißt das Buch, das sehr persönlich ist. Lediglich in einigen dünnen Bänden seiner Reihe „Spielformen des Erzählens“ gibt er so viel von sich preis, wie in diesem außergewöhnlichem Band. Die Ereignisse, die Ransmayr zu Parabeln über die Angst, die Hoffnung und vor allem über die besonderen Augenblicke des Lebens verdichtet, spielen in der ganzen Welt. Ransmayer sah auf den Osterinseln und in Tibet, in der österreichischen Heimat und in Sibirien, in Peru und in China und in vielen anderen Weltgegenden. Wann er sah und beschrieb, ist nicht so wichtig. Ransmayer hebt die Begebenheiten in eine dichterische Gegenwart, die sich oft nicht real zeitlich festmachen lässt. Fast so, wie in seinem zweiten Roman „Die letzte Welt„, der zwar in der römischen Antike spielt, aber dennoch Kinovorführer und andere Dinge der Gegenwart kennt.
Der „Atlas eines ängstlichen Mannes“ ist keine klassische Reise-Literatur. Auch wenn die Geschichten auf Reisen ihren Ausgangspunkt nehmen. Wenn überhaupt ist es Buch über die Lebensreise von Christoph Ransmayr, das verdeutlicht, wie das Beobachten, das Sehen das Leben bestimmt, wenn man seine Umgebung wahrnimmt. Ransmayr schildert keine Höchstleistungen, auch wenn er zum Beispiel 1500 Kilometer durch Tibet und China wanderte. Er schildert zwar auch extreme Situationen, etwa den Beschuss durch einen Kampfjet in Peru. Aber all das sind nur Momente, in denen er beobachtet, was das Leben mit ihm und den Menschen, der Natur macht. Und dieses „nur“ ist so packend, dass die Geschichten trotz des immer gleichen Anfangs einen ungeheuren Sog entwickeln, weil sie den Leser teilhaben lassen. Und das im Wortsinne. „Atlas eines ängstlichen Mannes“ ist ein großes Buch, wieder in einer neuen erzählerischen Form – wie alle Bücher von Christoph Ransmayr.
Mehr von Ransmayr:
Die letzte Welt
Die Unsichtbare
Die Wolfsjäger
Die Unsichtbare bekommt von Christoph Ransmayr eine Stimme
Sie ist unsichtbar. Sie war Bibliothekarin, verschwunden in Büchern. Jetzt ist sie Souffleuse in einem Theater. Ans Licht kommt sie nur selten. Und dann entlädt sich all die aufgestaute Wut, der Ärger, der sich im Dunkeln aufgestaut hat. In Christoph Ransmayrs „Die Unsichtbare“ bekommt sie eine Stimme, eine leise, eine laute, eine suchende und eine verfluchende – eine menschliche, sehr menschliche.
Ransmayrs Bühnenstück lebt vom Erleben dieser einen Frau, die von einem Beleuchter zum Theater gebracht wird. Er, der die Schauspieler leuchten lässt, bringt auch sie zum Strahlen. Seine Aufmerksamkeit weckt ihre Gefühle. Seine Wärme erfüllt sie. Sie beginnt ihn zu lieben – und folgt ihm ins Theater. Aber der Beleuchter ist kein steter Wärmespender, Ins-Licht-Rücker. Wechselhaft wie das Aufscheinen seines Verfolgers ist auch sein männliches Interesse an der Bibliothekarin, die jetzt in dunklen Kisten stockenden Schauspielern über die Klippen der Vergesslichkeit hinweghilft.
In drei Akten erzählt die Frau ihre Geschichte. Ihre Tirade ist eine Abrechnung mit dem Leben am Beispiel des Theaters. Ransmayr packt die Verzweiflung, das Böse, die verblassende Freude und die erloschene Liebe in sprachlich ungeheuer komprimierte Bilder aus dem Theaterleben. Die Prosa hat einen treibenden Rhythmus, fast so, als wäre der Text in Versen geschrieben. Das hat Kraft und liest sich in einem Aufzug. So sehr drückt und fesselt die Tirade der Unsichtbaren. Etwa wenn sie darüber philosophiert, wie es sich anfühlt, verlassen zu werden:
„Ein Liebender, der verlassen wird, ist einsamer als der letzte Mensch, drängt doch alles in ihm dem Verlorenen nach und läßt ihn nicht los, reißt an ihm, raubt ihm den Schlaf, alle Lebenslust. Selbst ein Schiffbrüchiger auf seinem Floß und noch der einzige Überlebende in der Wüste weiß wenigstens, worum er kämpft und worauf er hofft; auf einen Weg zu den Menschen. Aber den Verlassenen schlägt nur die Gewißheit, daß ihn auch am Ende eines Wegs durch die Wüste nichts mehr erwartet als die Einsamkeit. Umdrängt von Menschen und dennoch allein.“
Mehr über Christoph Ransmayr:
Die letzte Welt
Die Wolfsjäger
Atlas eines ängstlichen Mannes
Ransmayr und Pollack intonieren drei polnische Duette
Christoph Ransmayr probiert die Möglichkeiten der Literatur aus. Neben seinen großen Romanen wie „Die letzte Welt“ schreibt er auch die kleinen Formen als lose Folge unter dem Titel „Spielformen des Erzählens“. „Die Unsichtbare“ ist ein Theaterstück, „Die dritte Luft“ eine Rede oder „Damen & Herren unter Wasser“ eine Bildergeschichte. Zusammen mit Martin Pollack hat er „Die Wolfsjäger“ geschrieben.
„Drei polnische Duette“ hat der schmale Band als Untertitel. Das ist irreführend, denn es handelt sich bei den drei Texten nicht um Gedichte. Vielmehr haben die beiden drei Erzählungen zusammen geschrieben. Ort der Handlungen ist die polnische Grenzregion zur Ukraine und zur Slowakei. Ein Landstrich, in dem der zweite Weltkrieg länger dauerte als anderswo. Hier kämpfte eine ukrainische Untergrundarmee noch einige Jahre gegen die Grenzverschiebungen und den Stalinismus.
Nachdem die Nazis schon ganze Dörfer ausgerottet hatten, kam es so zu einer weiteren Welle der Gewalt, der Vertreibung und der Auslöschung ganzer Dörfer. Martin Pollack hat die Gegend in seinem Buch „Warum wurden die Stanislaws erschossen“ beschrieben. Mit Christoph Ransmayr war er später dann auf Wanderschaft in den polnischen Karparten. Der war neugierig auf diese so nahe, mitteleuropäische Region, die uns doch weiter weg erscheint als die Türkei oder die Tauchreviere im Roten Meer.
Entstanden sind drei dichte Texte darüber, wie die Wunden der Vergangenheit nur oberflächlich heilen. Texte, in denen die Natur genauso wie die Geschichte dominanter ins Leben des Einzelnen eingreifen als die Moderne. Es entstehen Szenen, die an die mythologische Dimension von „Die letzte Welt“ und an die kompakten Reportagen Pollacks erinnern, ja aus einem Geflecht dieser Komponenten einen Text weben, in dem beide Stimmen ihre Solo-Kraft verlieren, um wahrlich ein großes Duett zu erzeugen.
Mehr von Ransmayr:
Die letzte Welt
Die Unsichtbare
Atlas eines ängstlichen Mannes
Erneut gelesen: Christoph Ransmayrs „Die letzte Welt“
Wenn es ein Buch gibt, in dem es ständig regnet, dann war dies für mich immer „Die letzte Welt“ von Christoph Ransmayr. Ganz fest in meiner Erinnerung sind Regen und Schwarzes Meer und „Die letzte Welt“ eins. Umso erstaunlicher war beim erneuten Lesen des Buches, dass es in der ersten Hälfte überhaupt nicht regnet. Und auch in der zweiten nur ab und an. Dann aber ganz massiv und heftig.
Erstaunlich, was sich von einem Buch im Gedächtnis festsetzt. Die neue Lektüre bestätigte aber die Faszination des Textes, den ich 1989 verschlungen hatte. Auch 23 Jahre nach dem ersten Lesen hat „Die letzte Welt“ von Christoph Ransmayr nichts von ihrer Faszination verloren. Im Gegenteil: Das Buch hat gewonnen, weil das Wissen um die historischen und literaturwissenschaftlichen Hintergründe größer geworden ist. Auch heute noch ist der Roman eine treffende Parabel auf die Angst des Diktators vor der Kraft des freien Wortes. Und ein wunderbarer Text über das Weiterleben von literarischen Figuren und Erfindungen.
Ransmayr hat Ovids Metamorphosen in einen zeit- und raumlosen Roman über die Veränderung der Welt verwandelt. In dem Roman geht es darum, dass ein römischer Bürger, Cotta, den verbannten Dichter Ovid sucht. Dazu fährt er ans Schwarze Meer, wo der Dichter auf Geheiß Augustus‘ leben muss. Es gelingt ihm zwar nicht, Ovid zu finden, aber seine Erzählungen, seine Figuren finden sich überall. Ein bisschen ist es wie bei „Alice im Wunderland“: Cotta tritt nach stürmischer Seefahrt in eine andere Welt ein und wird Schritt für Schritt Teil von ihr. Mit jeder Figur, mit jeder Erzählung kommt Cotta so seinem Vorbild Ovid näher, ohne ihn aber jemals zu sehen. Das Buch hat nichts an seiner Kraft verloren. Nur meine eigene Vorstellung vom ständigen Regen musste ich beim Wiederlesen revidieren. Und der Reiz der völligen Aufhebung von Zeit und Raum hat mich jetzt viel mehr begeistert.
Mehr von Ransmayr:
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