Mit 101 Jahren ist Hans Keilson gestorben. Der Ehrenbürger Bad Freienwaldes erlebte noch das Erscheinen seiner Erinnerungen. Der Jude emigrierte 1936 nach Holland und überlebte die deutsche Besatzung im Untergrund. Seine Bücher stoßen vor allem in den USA auf großes Interesse. Er wird als „Weltschriftsteller“ geehrt. „Da steht mein Haus“ ist der Titel seiner Erinnerungen, die im April bei S. Fischer erschienen sind. Hans Keilson meint damit sein Haus in Bussum bei Amsterdam, in dem er mehr als die Hälfte seines langen Lebens verbrachte. Es ist ein typisch niederländisches Klinkerhaus, das an einer ruhigen Kreuzung knapp zehn Minuten vom Bahnhof entfernt, umgeben von Einfamilien- und kleinen Reihenhäusern, liegt. Der Garten und das Haus selbst strahlen eine bescheidene Zufriedenheit aus. Alles wirkt, als wären die Bewohner mit sich im Reinen.
Obwohl er vor den Nazis fliehen musste und seine Eltern, die er in die Niederlande nachholte, nicht vor der Ermordung in Birkenau retten konnte, bestimmte nicht die Verbitterung sein Leben. „Das Gefühl der Schuld, dass ich meine Eltern nicht gerettet habe, das ist immer da,“ sagte er einmal. Doch Keilson begann deshalb nicht zu hassen. Im Gegenteil: Er bekämpfte mit den Mitteln der Psychoanalyse und der Literatur den Hass: „Weil der Hass eine selbstvernichtende Doktrin ist.“ Wer hasst, mache sich die Definition des Feindes zu eigen. Davon war er überzeugt. Deshalb setzte er Zeit seines Lebens seinen Verstand ein, um sich nicht vom Denken derer, die ihm Böses wollten und seinen Eltern taten, leiten zu lassen.
1909 kam Hans Keilson in Bad Freienwalde auf die Welt. Sein Vater hatte zwei Geschäfte im Ort. Seine Mutter kümmerte sich um diese, als der Vater im 1. Weltkrieg an der Westfront in den Schützengräben kämpfen musste. Die Welt war beengt für die wenigen Juden in Bad Freienwalde. Dennoch erinnerte sich Keilson auch im persönlichen Gespräch gern an sie zurück. Über den letzten Besuch seiner Heimat im September 2010 sagte er: „Als ich zu Besuch war, waren alle Kindheitserinnerungen wieder da, an jeder Ecke.“ Diese Erinnerungen schilderte er in seinem letzten Buch. Er beschreibt die bescheidenen Verhältnisse, in denen er aufwuchs. Er schildert die sich ändernde Stimmung den drei Juden in seiner Klasse gegenüber. Während im und kurz nach dem 1. Weltkrieg kaum Antisemitismus zu spüren war, nahmen die Zurücksetzungen, das Ausgegrenztwerden bis zum Abitur 1928 stetig zu. Hans Keilson war ein warmherziger, auch im hohen Alter noch sehr auf das Leben neugieriger Mann. Bei einem fast dreistündigen Interview kurz vor dem 100. Geburtstag schaffte es der Autor, Sportlehrer und Analytiker, mehr Fragen an mich zu richten als umgekehrt. Er wollte wissen, wie sich die Heimat verändert. Ihn interessierte, was der 60 Jahre jüngere über die Vergangenheit weiß. Ihn faszinierte, wie Internet und Technik das Leben erleichtern und Entfernung und Nichtwissen schrumpfen lassen.
Dazu passt auch, dass er mit über 80 anfing, am Computer zu arbeiten. Kein Wunder: Die Praxis betrieb der Psychiater bis weit über 90. Den bescheidenen Mann trieb eine ungeheure Energie an. Erst 1979 – mit fast 70 Jahren – promovierte er: „Sequentielle Traumatisierung bei Kindern“ ist das Ergebnis seiner jahrzehntelangen Arbeit mit jüdischen Kindern, die aus den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten in die Niederlande zurückkehrten. Die meisten von ihnen hatten ihre Eltern und die ganze Familie verloren. An die wissenschaftliche Arbeit machte er sich so spät noch, weil ihn seine Frau und andere ihm nahestehende Menschen darum baten, seine Erfahrungen aufzuschreiben. Das Ergebnis hat sich bis auf die Rechtsprechung ausgewirkt. Dieses Buch schätzte er selbst als sein wichtigstes ein.
1933 erschien bei S. Fischer sein erster Roman, der letzte eines Juden für lange Zeit. Die Übersetzungen seiner Bücher stoßen derzeit vor allem in den USA auf großes Interesse. Ein Interview mit ihm erschien sogar auf der Titelseite der „New York Times“. Seine Romane und Erzählungen zeichnet ein klare Sprache und ein feiner Humor aus. Auch in ihnen gibt er dem Leser nicht vor, was er zu denken hat. Er eröffnet – wie seinen Patienten – Wege, die Welt zu verstehen, weil man über seine Fragen nachdenkt. Wer sich darauf einlässt, begreift, dass Hass kein Weg ist, um leben zu können.
Wenn Hans Keilson von seinen Berliner Jahren erzählte, dann strahlten die fast erblindeten Augen. Wie er als Trompeter einer Jazz-Band das Studium finanzierte erfreute ihn auch mit 100 noch. Und wie ihm die Großstadt die Chance gab, durch das Studium das Rüstzeug zum Überleben im Untergrund zu geben, machte ihn dankbar. Mit Hans Keilson ist ein Mensch gestorben, der Ungeheuerliches erlebte, der gute Bücher schrieb, der als Arzt und Psychiater vielen Kindern den Weg zurück ins Leben erleichterte, der als Chef des deutschen Exil-P.E.N. politisch seine Stimme erhob und der vor allem als Mensch eine große Wärme, tiefe Neugier und sanften Humor ausstrahlte. Beerdigt wird Hans Keilson auf dem jüdischen Friedhof in Amsterdam neben seiner ersten Frau. Das war schon lange sein Wunsch. Seine Heimatstadt hat die Bibliothek nach ihm benannt. Und einen Findling haben sie dort für ihn aufgestellt. „Das Schöne ist, dieser Findlingsblock ist so groß, dass er bleiben wird – er ist einfach zu schwer, um ihn zu stehlen,“ freute sich Keilson noch kurz vor seinem Tod.
Hans Keilson ist am Dienstag in einem Krankenhaus in Hilversum mit 101 Jahren gestorben. Er war der letzte deutsche Exilschriftsteller. Sein Debütroman Das Leben geht weiter. Eine Jugend in der Zwischenkriegszeit ist 1933 bei S. Fischer erschienen. Es war das letzte Buch eines jüdischen Schriftstellers, das in dem Traditionsverlag in Druck gelegt wurde. Noch vor Erscheinen haben es die Nazis verboten. Es dauerte über 50 Jahre, bis es das Licht der Öffentlichkeit sah.
Hans Keilson war ein warmherziger, auch im hohen Alter noch sehr auf das Leben neugieriger Mann. Bei einem fast dreistündigen Interview kurz vor seinem 100. Geburtstag schaffte es der Schriftsteller, Sportlehrer und Psychiater mehr Fragen an den Interviewer zu richten als umgekehrt. Er wollte wissen, wie sich seine alte Heimat verändert. Ihn interessierte, was der 60 Jahre jüngere über die Vergangenheit weiß. Ihn faszinierte, wie Internet und Technik das Leben erleichtern und Entfernung und Nichtwissen schrumpfen lassen.
Dazu passt auch, dass er mit über 80 Jahren noch einen Computer anschaffte. Überhaupt trieb ihn eine ungeheure Energie an. Erst 1979 promovierte er sich mit einer Arbeit über Traumata von Kindern. Sequentielle Traumatisierung bei Kindern ist das Ergebnis seiner jahrzehntelangen Arbeit mit jüdischen Kindern, die aus den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten in die Niederlande zurückkehrten. Die meisten von ihnen hatten ihre Eltern und die ganze Familie verloren. An die wissenschaftliche Arbeit machte er sich so spät noch, weil ihn seine Frau und andere ihm nahestehende Menschen darum baten, seine Erfahrungen aufzuschreiben. Das Ergebnis hat sich bis auf die Rechtsprechung ausgewirkt.
Keilson stammt aus Bad Freienwalde. Dort wuchs er als Sohn eines Kaufmanns auf, ging zur Schule, machte Abitur und sang als Jude sogar im Kirchenchor. Sein erster Roman schildert diese Zeit. In Berlin studierte er Medizin, durfte als Jude den Beruf aber nicht ausüben. Deshalb arbeitete er als Sportlehrer an jüdischen Schulen, bis er 1936 ins Exil nach Holland ging. Dort engagierte er sich im Widerstand und überlebte im Untergrund die deutsche Besatzung. Anders als seine Familie, die in Auschwitz ermordet wurde. Dennoch schafft er es, weiter in Deutsch zu schreiben, nach Deutschland zu reisen und Deutschland nicht zu verdammen. Sein Verstand trennte schwarz zwischen Tätern, Mitläufern und Opfern. Den folgenden Generationen bürdete er keine Schuld auf. Aber es erwartete Verantwortung von ihr. Mit Hans Keilson ist ein Mensch gestorben, der Ungeheuerliches erlebte, der gute Bücher schrieb, der als Arzt und Psychiater vielen Kindern den Weg zurück ins Leben erleichterte, der als Chef des deutschen Exil-P.E.N. politisch seine Stimme erhob und der eine große Wärme, tiefe Neugier und sanften Humor ausstrahlte.
Das Gespräch mit Hans Keilson vor dessen 100. Geburtstag ist mir auch 18 Monate später noch ganz präsent. Mit seiner Frau hatte ich den Termin abgestimmt und mich auf den Weg über Amsterdam nach Bussum gemacht.
Dort lebt der letzte deutsche Exilschriftsteller in einem schönen, typisch holländischen Haus. Die Wärme des Empfangs, die Güte des Gesprächs, der Humor beim Nachdenken an die Jugend in Bad Freienwalde und Berlin, die Trauer über den Zwang ins Exil gehen zu müssen und die Klarheit beim Nachdenken über die Folgen des Nationalsozialismus wirken noch immer nach.
Keilson musste seine Heimat verlassen und hat sich eine neue erarbeitet. Keilson hat Familie verloren und eine neue begründet. Keilson hat Kindern, die aus den KZs zuück kamen als Arzt geholfen und dennoch angesichts des Leids nicht auf Rache gehofft. Keilson galt 1933 als ein verheißungsvolles Talent, als sein Debütroman bei S. Fischer erschien, und hat sich nach dem Krieg als Psychoanalytiker einen Namen gemacht. All das ist schon faszinierend und Ehrfurcht erfüllend. Aber wenn man dann mit so einem Menschen sprechen kann und eine gute Wellenlänge zueinander findet, verschwimmt das alles.
Dann sitzt einem nur ein wunderbarer, humorvoller Mensch gegenüber, der auch mit 100 Jahren noch neugierig ist. Und das so sehr, dass die Hälfte des mehr als zweistündigen Gesprächs aus meinen Antworten auf seine Fragen bestand. Die sind in dem gerade erschienenem Band nicht zu finden. Aber das Interview, das aus dem Gespräch entstand, ist die Eröffnung der Textsammlung. Und damit ein schönes Ende eines Interviews.
Hans Keilson ist 100 Jahre alt, Psychoanalytiker, Schriftsteller, Musiker – und Überlebender des Holocaust. Ein Gespräch über das Leben, seine Arbeit und Heimat Holland
Der Freitag: Herr Keilson, in Ihrem Jahrhundert wurde vieles erfunden. 1909, dem Jahr Ihrer Geburt, gab es weder Radio noch Fernsehen, weder Waschmaschine noch Rührgerät …
Hans Keilson: … und auch kaum Autos.
Gibt es eine Erfindung, die Sie besonders bewegt hat?
Das Telefon. Das ist es sehr wichtig für mich. Aber sonst?
1992, mit über 80, haben Sie noch am Computer gearbeitet. Da hatten die allermeisten Deutschen noch gar keinen.
Ich bin sehr neugierig!
Glauben Sie, dass die Entwicklung von Technik und Medien die Menschen verändert hat?
Man bekommt einen anderen Bezug zur Welt. Das Eremitendasein gehört ins vorige Jahrhundert. Das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt ist völlig verändert. Sie kommen aus Deutschland hierher nach Holland, um sich mit mir zu unterhalten. So etwas hätte ich mir früher nicht vorstellen können.
Sind Sie auch auf die großen Fragen der Menschheit von heute, auf die Energie- und Klimapolitik neugierig?
Daran rieche ich. Aber ich muss nicht mehr eintauchen. Das ist nicht mehr mein Thema. Wenn ich 200 Jahre alt würde vielleicht …
Eines Ihrer großen Themen war der Tod. Schon in ihrem ersten Roman spielt er eine große Rolle. In diesem Fall der reale Selbstmord des Freundes Fritz.
Das werde ich nie vergessen.
War es Ihre erste Konfrontation mit dem Tod?
Ich will nicht sagen, dass er die erste war. Aber in der Pubertät hat er in mir etwas geöffnet, fürs Leben, aber auch für den Tod. Das war ein großes, trauriges Erlebnis.
Im Buch heißt es, dass Selbstmord auch ein Stück Erlösung sein kann.
Das denke ich heute nicht mehr. Es war eine Flucht. Ich begriff, dass es Fritz sehr schwer hatte, auch mit seiner Sexualität. Aber dass der Tod eine Erlösung sein könnte, das haben mir die Nazis gründlich ausgetrieben. So stirbt man nicht. Ermordung ist kein Tod.
Egal ob Selbstmord oder Mord?
Ja, Ermordung ist kein Tod.
Im zweiten Buch geht es dann um den Grippe-Tod des bei Holländern versteckten Juden Nico. Da¬raus machen Sie eine Komödie.
„Eine Komödie in Moll“. Da ist einer untergetaucht und kann nicht begraben werden. Deshalb wird die Leiche unter eine Parkbank gelegt. Dieser Tod, der nicht richtig begangen werden kann, ist absurd.
War das im Exil für Sie eine Notwendigkeit, über den Tod auch lachen zu können?
Die Perversität des Zeitalters war so groß, dass man selbst über den Tod lachen konnte. Perversität ist der richtige Ausdruck, obwohl ich es noch nie so formuliert habe.
Wie ist es, ein Überlebender zu sein, der eigenen Familie, der Freunde, vielleicht sogar einer ganzen Welt?
Da bin ich sehr vorsichtig, um mein Selbstgefühl nicht zu überfordern. Ich beschütze mich bewusst selbst. In meinem Leben spielt das keine Rolle. Ich könnte ja eitel werden.
Nach dem Motto: Wen ich alles gekannt habe?
Als Analytikus weiß ich, dass man sehr eitel sein kann. Warum sollte ich es nicht auch sein können? Aber das möchte ich nicht. Das ist keine angenehme Eigenschaft.
Dennoch ist die Frage erlaubt: Wie es ist zu überleben?
Das ist eine völlig legitime Frage. Ich habe überlebt. Aber ich sage mir: Dank je wel. Das ist genug.
Das Thema Überleben haben Sie sich aber auch zum Beruf gemacht, indem Sie mit Kindern gearbeitet haben, deren Eltern die Konzentrationslager nicht überlebten.
Das begann schon, als ich untergetaucht war. Ich hatte mit Kindern gearbeitet, bevor ich holländischer Arzt wurde. Ich war deutscher Arzt und Sportlehrer und habe als solcher ab 1934 in jüdischen Schulen Berlins gearbeitet. In der Großen Hamburger Straße, in der Rykestraße, im Landschulheim Caputh, in der Zionistischen Schule am Kaiserdamm. Deshalb hatte ich viel Erfahrung mit jüdischen Kindern. Holländische Hausärzte haben dann später Kinder zu mir geschickt, weil ich offenbar Vertrauen zu ihnen aufbauen konnte.
Sie haben erst mit 70 promoviert. Was war so spät der Antrieb?
Ich habe neun Jahre an den Nachuntersuchungen gesessen. Es war keine Eitelkeit, oder doch? Ich habe mir gesagt: ‚Du hast so viel Erfahrung, Du hast so viel mit den Kindern mitgemacht, als Du untergetaucht warst. Du hast so viel Leid gesehen; auch später nach dem Krieg, als Du mit Ihnen gearbeitet hast‘. Meine erste und meine zweite Frau sagten auch: ‚Du bist einer der wenigen, die das erlebt haben. Probiere, daraus etwas zu machen‘. Die schöngeistige Literatur kann lesen, wen das interessiert. Aber die Wissenschaft gehört auch zu mir. Ich empfand es als Verpflichtung, denn ich hatte eine Erfahrung, die Kollegen nicht hatten.
Wirkt die lange Beschäftigung damit in Ihnen nach?
Ja. Ich wurde mal gefragt, ob ich mich als Sieger oder als Besiegter fühle. Ich fühle mich weder als Besiegter noch als Sieger. Ich lebe. Und zwar als Sieger und als Besiegter. Die Qualität des Lebens ist durch Hitler und Stalin vernichtet worden. Das muss erst wieder aufgebaut werden.
Im Tod des Widersachers spielen sie dieses Thema durch: Der Tod des Anderen ist auch immer ein eigener Tod?
Überhaupt die Verbindung zum Feind, zum Anderen und sich selbst. Beide spiegeln sich in diesem Verhältnis. Sie können sich auch fruchtbar spiegeln.
In einer Szene schänden Jugendliche einen jüdischen Friedhof. Und zwar mit dem Satz: „Wir waren gekommen, die Toten umzubringen.“
Das ist eine Seite des Antisemitismus. Die Jugendlichen haben etwas in sich selbst umgebracht. Das ist ein guter Satz. Er erklärt sehr viel. Ich hatte ihn völlig vergessen.
Warum gibt es noch Schändungen jüdischer Friedhöfe?
Das ist das Leben der Juden. Das Leben hat diese Antinomie. Ich finde, dass die Kirchen total versagt haben. Wenn sie einen Beweis für Notwendigkeit ihrer Existenz als moralischer Stellvertreter Gottes auf Erden hätten erbringen wollen, dann hätten sie dagegen aufstehen müssen. Bis hin zum: Ich opfere mein Leben.
Was einige Pfarrer ja taten.
Sicherlich. Aber nicht die Höchsten. Hätte es Hitler gewagt, etwas gegen den Papst zu unternehmen?
Das hätte er wohl nicht. Die Verwurzelung der Kirchen in der Bevölkerung war ja noch eine ganz andere als heute.
Das denke ich auch. Der Umgang mit den Juden ist eine profunde menschliche Problematik: Wie gehe ich mit meinen Feinden um? Wie gehe ich mit Menschen um, die auch geboren wurden, die auch leben, die auch aus einer Samenzelle und einer Eizelle entstanden sind. Genau ist das doch das Wunder des Lebens. Wenn ich jetzt als Mann von 100 Jahren meine Enkelkinder bestaune, 15 Monate und fünf Monate alt, dann sage ich zu meiner Frau und meiner Tochter: ‚Das ist das Wunder. Die Verbindung einer Samenzelle und einer Eizelle, aus der ein Mensch wird‘. Damit akzeptiere ich jeden als Teil der Menschlichkeit.
Sie glauben nicht, dass Antisemitismus besiegt werden kann?
Nein, aber diese Grausamkeiten könnten überwunden werden.
Wie konnten Sie all die Probleme der jüdischen Kinder verkraften, die Sie als Psychotherapeut auf sich geladen haben?
Ich bin oft auf der Schneekoppe gewesen. Von Krumhübel an der Talsperre hoch, zur Prinz-Heinrich-Baude, wo wir übernachteten. Das ist auch eine Anstrengung. Wer Freude und schöne Dinge erleben will, muss sich anstrengen können, viel schlucken können.
Wer trainiert, kann seinen Körper anders erleben, und wer sich mit Problemen beschäftigt, kann Geist und Seele abhärten?
Er flüchtet nicht. Ich bin auch nicht geflüchtet. Aber ich weiß, wie schwer das ist. Wenn mir Leute in meiner Praxis erzählten, wie schwer sie es haben, konnte ich so zu hören, dass sie das Gefühl hatten, der Doktor erhört sie. Der Patient erwartet, erhört zu werden, nicht nur gehört.
Das führte dazu, dass Sie kleinere Texte veröffentlichten.
Wenn man diesen Beruf hat, muss man sich entscheiden, ob man schreiben oder ob man seinen Beruf ausüben will. Ich habe mich für meinen Beruf entschieden.
Ist Ihnen das schwer gefallen?
Nein. Man muss sich dazu verleiten können wie Richard Wagner, der mit dem Tod seines Christus nichts anfangen konnte. Tod und Musik. Musik hat in meinem Leben auch eine große Rolle gespielt. Ich schätze Richard Wagner. So schreiben zu können, davor ziehe ich meinen Hut. Dazu muss man ein sehr großes Talent haben.
Aber Wagner war kein sonderlich angenehmer Mensch. Bestimmt nicht. Viele Genies sind nicht angenehm.
Ich bin angenehm als Mensch.
Das ist wahr. Entschuldigen Sie.
Ich bin ja auch kein Genie. Als Genie kann man kein Psychotherapeut sein. Ich weiß auch nicht genau, ob ich privat immer so angenehm bin. Meine Frau bezweifelt das manchmal.
Wagner gilt als typisch Deutsch.
Tja, das deutsche Wesen hat auch etwas Anziehendes. Wenn ich Haydn oder Mozart höre, dann ist das für mich deutsch. Französische Musik ist anders, englische auch.
Was unterscheidet Deutsch und Niederländisch? Sie habe ein ganzes Leben Deutsch geschrieben und ein halbes Niederländisch gesprochen.
Ich spreche gern Niederländisch. Niederländisch ist bis in die Tiefe der Seele die Überlebenssprache. Sie ist das Leben, das Überleben. Überleben ist etwas anderes als Leben. Auch in meiner Praxis war das Überleben in mir sehr stark. Das sagten die Leute zu mir. Sie kannten meine Biografie.
Sie haben über Fußball-Reportagen im Radio Holländisch gelernt. Schauen Sie heute noch Fußball?
Wenn ich Zeit habe, ja. Aber ich schone meine Augen, deshalb schaue ich wenig.
Sind Sie dann für Deutschland oder für Holland?
Für Holland. Die spielen wunderbaren Fußball. Das sind auch ganz andere Typen als die deutschen Spieler.
Dachten Sie nach dem Krieg jemals daran, nach Deutschland zurückzukehren?Nein, niemals.Sie sind 1990 Ehrenbürger Ihrer Heimatstadt Bad Freienwalde geworden.
Die Bibliothek trägt meinen Namen. Sie versuchen alles, um die Schande auszulöschen. Das ist sehr nett. Ich schätze das wirklich. Ich bin ja zweimal in Bad Freienwalde gewesen. Es ist ja Unsinn zu sagen, da gehe ich nicht hin, als könnte ich mir eine ansteckende Krankheit holen.
Wollen Sie hier in Holland beerdigt werden?
Ja, auf dem jüdischen Friedhof in Amsterdam, neben meiner ersten Frau. Ich bin Mitglied der liberalen jüdischen Gemeinde in der Nähe von Amsterdam.
Hat der Tod für Sie seinen Schrecken verloren?
Dass ich meine Eltern nicht retten konnte, bereitet mir heute noch Pein. Das ist furchtbar. Und wenn ich meine Tochter, sie ist 35, mit ihren Kindern sehe, dann wird für mich der Abschied schwer. Es geht nicht um den Tod, es geht um den Abschied. Meine Neugierde ist so groß: Was wird aus meiner Tochter, was wird aus ihren Mädchen.
Inzwischen lösen sich die Grenzen auf. Es gibt die Europäische Union, es gibt eine gemeinsame Währung.
Es ist alles so verändert. Das nationale Moment ist nicht mehr so beherrschend.
Die Lehre aus der Geschichte?
Ja. Jetzt heißt es: Lerne, miteinander zu leben, auch mit den Problemen, Bankkonten und allem anderen. Das ist die Normalität. Das ist wunderbar.
In Ihrem ersten Buch schildern Sie, wie die Wirtschaftskrise die Existenz ihrer Eltern vernichtet. Hat die momentane Krise Ängste geweckt?
Wissen Sie, ich habe so viele Ängste in meinem Leben gehabt, dass ich jetzt etwas immun dagegen bin. Das ist so wie Zahnschmerzen.
Darf ich fragen, wie der Tagesablauf eines 100-Jährigen aussieht?
Ich fühle mich in vielen Dingen gehandicapt. Meine Augen, ich sitze zu lang und laufe nicht genug. Schon in meiner Praxis habe ich stundenlang gesessen. Und das, obwohl ich staatlich geprüfter Sportlehrer bin. In letzter Zeit tue ich dafür zu wenig. Deshalb helfe ich im Haus, mache das Schlafzimmer und helfe meiner Frau in der Küche. Das ist meine Gymnastik.
Aber Sie kochen nicht selber?
Wenn ich noch einmal auf die Welt komme, dann lerne ich bestimmt kochen. Es ist ein Fehler von mir, dass ich nicht kochen kann.
Das Gespräch führte Andreas Oppermann. Er ist Redakteur bei der Märkischen Oderzeitung