Bei Lemberg fallen uns ganz schnell Namen wie Joseph Roth, Leopold von Sacher-Masoch oder Soma Morgenstern ein. Die Stadt war immer viel mehr als ein Ort für deutsche Literatur. Hier wurde Jiddisch geschrieben und natürlich Polnisch und Ukrainisch. Und in all diesen Sprachen wurde Lemberg als ein besonderer Ort gefeiert. Alois Woldan hat schon 2008 einen einen schönen Überblick darüber veröffentlicht; in der Reihe: „Europa erlesen“.
76 Texte, teils Gedichte, teils Erzählungen oder Reportagen, hat Woldan auf 283 Seiten versammelt. Die Auswahl bietet einen Überblick über das literarische Schaffen mehrerer Jahrhunderte und mehrerer Sprachen. Einziges Manko der Sammlung ist die chronologische Anordnung der Texte. Die ist zwar logisch, um dem Leser die Entwicklung der Stadt erlesen zu lassen. Aber sie erschwert den Zugang zum Buch. Denn alte Chroniken erschließen sich bestimmt nicht jedem Leser sofort. Weil Woldan das wohl auch befürchtete, hat er auch einen historischen Abriss aus neuerer Zeit vorne mit eingefügt. Aber das mildert das Problem nur.
Wer allerdings über die ersten 60 bis 80 Seiten hinweg kommt, der kann dann wie in einem wunderbaren Fundus in die Vielfalt Lembergs, Lwows oder Lvivs eintauchen. Der kann polnische, ukrainische und jiddische Schriftsteller kennenlernen, ihren Blick auf die Stadt bestaunen oder sich einfach forttreiben lassen in eine Welt, die durch die Ismen der Moderne vernichtet wurde. Woldan nimmt keine Texte auf, die die verschiedenen Nationalismen befördern. Vielmehr zeigt er, wie Intellektuelle gleich welcher Nationalität das multikulturelle Lemberg liebten. Auch die Texte der zeitgenössischen Ukraine arbeiten mit dem Wissen um das alte Lemberg, Lwow oder Lviv. Und dabei erzeugen sie eine ungeheure Lust, diese Stadt, die man gerade erlesen hat, auch tatsächlich zu besuchen. Das lohnt sich doppelt. Das Lesen und das Reisen.