Serhij Zhadan aus Charkiw ist eine der bekanntesten Stimmen der Ukraine. Seine Bücher sind in etliche Sprachen übersetzt und mit seiner Band zeigt er, wie kraftvoll Poesie sein kann. Im Herbst wurde er mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt. Er übersetzt Rilke ins Ukrainische, lehrt an der Uni, sammelt seit Kriegsbeginn 2014 spenden für Soldaten und organisiert Hilfstransporte. An der Viadrina in Frankfurt (Oder) war er zu einer Lesung und einem Konzert zu Gast – auch weil seine Übersetzerin Claudia Dathe hier lehrt. Und um Geld für seine Charkiwer Uni zu sammeln, die wiederum Partneruni der Viadrina ist. In diesem Zusammenhang konnte ich mit ihm für rbb24 Inforadio ein Interview führen.
Herr Zhadan, Deutschland und die Ukraine haben eine schwierige gemeinsame Geschichte. Das Thema Ukraine hat hier lange kaum jemanden interessiert. Wie nehmen Sie die Deutschen in diesem Krieg, der gegen die Ukraine geführt wird, aktuell wahr?
Serhij Zhadan: Ich würde nicht sagen, dass das Thema so schwierig ist. Natürlich nehmen wir Ukrainer die deutsche Gesellschaft als Bündnispartner wahr. Es stimmt zwar, dass Deutschland sehr vielseitig ist. Es gibt viele Strömungen und Haltungen. Aber wir sind hier schon etliche Tage auf Tournee und ich stelle fest, dass wir wirklich sehr viel Unterstützung vom deutschen Publikum erfahren.
Wird diese Unterstützung vor allem durch die ukrainische Community, durch ukrainische Flüchtlinge in Deutschland getragen oder auch von der deutschen Zivilgesellschaft?
Ich spreche hier von den Deutschen. Ich möchte das auch nicht idealisieren. Ich verstehe, dass die Einstellung und die Ansichten sich unterscheiden. Und ich weiß, dass Russland eine sehr starke Lobby sowohl in der Kultur als auch der Politik hat, die Russland unterstützt. Ich sehe, dass die deutsche Gesellschaft durchaus so erwachsen und verantwortungsbewusst ist, um zu erkennen, wer in diesem Krieg der Aggressor und wer das Opfer ist.
Dennoch haben wir nach wie vor in Deutschland eine heftige Diskussion über den Export von Waffen in die Ukraine, beispielsweise von Panzern. Ein Argument, welches dagegen vorgetragen wird, ist immer, dass wir das wegen unserer Geschichte nicht machen könnten. Wir könnten keine deutschen Panzer gegen Russland kämpfen lassen. Was sagen Sie zu diesem Argument?
Die militärische Hilfe oder die Hilfe in diesem Krieg beschränkt sich ja nicht auf die Lieferung von Panzern. Ich glaube, es ist heute viel wichtiger, dass Luftabwehrsysteme an die Ukraine geliefert werden. Gerade als wir hier in Frankfurt sprechen, hat es vor zehn Minuten das Ende des Luftalarms für den heutigen Tag gegeben. Es hat heute einen weiteren schweren Angriff von russischer Seite mit Raketen auf die Ukraine gegeben. Die Angriffe werden gegen die Städte und vor allem die Energieversorgung geflogen. Man kann sich natürlich gut vorstellen, dass die Hauptopfer dieser Angriffe Zivilisten sind. Man kann das natürlich machen, dass man keine Hilfe leistet. Aber man sollte sich eben vor Augen führen – wenn diese Luftabwehrsysteme nicht geliefert werden – opfert man sehenden Auges Zivilisten und liefert sie dem Tod aus.
Wenn ich mich richtig erinnere, ist heute der Jahrestag zur Unterzeichnung des Budapester Memorandums. Das ist genau das Abkommen, in dem die die Länder in Westeuropa der Ukraine die Garantie gegeben haben, die Ukraine zu verteidigen, wenn die Ukraine ihre Atomwaffen abgibt. Deswegen ist es nicht ganz korrekt, wenn man heute behauptet, dass die Ukraine Dinge verlangt, die nicht in Ordnung sind.
Sie sind inzwischen der wahrscheinlich am meisten übersetzte ukrainische Schriftsteller in Deutschland. Nicht nur ihr Buch „Himmel über Charkiw“ ist in diesem Jahr erschienen. Auch an der Deutschen Oper Berlin gab es eine Aufführung, für die Sie den Text geschrieben haben und aktuell wird in Landshut ein Theaterstück mit Ukrainern im Exil aufgeführt, das Sie geschrieben haben. Sie sind omnipräsent. Wie bekommen Sie das persönlich hin, in Charkiw so aktiv und in Deutschland und Europa so präsent zu sein?
Ganz so ist es nicht und ich schaffe leider nicht alles. Es finden auch einige Sachen statt, an denen ich nicht beteiligt sein kann. Man muss auch bedenken, dass heutzutage jede Reise ein Abenteuer bedeutet. Wir brauchen immer erst eine Genehmigung, ehe wir ausreisen können und wir können auch nur mit dem Bus unterwegs sein. Das ist emotional nicht einfach, denn eigentlich ist unser Platz in der Ukraine: dort wo wir leben, herkommen und unser Zuhause ist. Ich bin einerseits sehr froh und dankbar, freue mich über die Deutschen und Ukrainer, die zu unseren Konzerten kommen. Aber wenn es Heim geht, freue ich mich noch mehr.
Fährt da auch die Angst mit, wenn Sie mit dem Bus fast durch die gesamte Ukraine fahren müssen und auch Sie ein Opfer dieses Krieges werden könnten?
Nein, ich freue mich sehr zurückzukehren. Ich mag Charkiw sehr gerne und liebe den Ort, in dem ich lebe. Außerdem gibt es sehr viel zu tun.
Sie haben Charkiw als einen Ort der kulturellen Vielfalt beschrieben. Es gab früher viele Minderheiten, wie Italiener, Griechen oder Armenier. Sehen Sie eine Chance, dass diese Vielfalt in der Ukraine weiter existiert oder haben Sie Sorge, dass durch diesen Krieg und die Besinnung auf das Ukrainische die Vielfalt auch leiden könnte?
Das ist eine wirklich sehr schwierige Frage, denn die Vielfalt, von der Sie sprechen, war in erster Linie dadurch hervorgerufen, dass in Charkiw sehr viele Ausländer gelebt und viele Sprachen gesprochen haben. Viele von ihnen mussten die Stadt schon in den ersten Kriegstagen verlassen. Ich hoffe sehr, dass sie nach dem Ende des Krieges zurückkehren. Charkiw ist immer eine Stadt mit einem ukrainischen Hintergrund gewesen, aber auch immer eine Stadt der Vielfalt und sehr offen. Diese Vielstimmigkeit hat dieser Stadt immer gut zu Gesicht gestanden.
Jetzt gehen wir auf Weihnachten und das neue Jahr zu. In Charkiw gibt es eine Tradition, dass auf dem zentralen Platz ein großer Weihnachtsbaum aufgestellt wird. Daran sind immer viele Studenten, die aus dem Ausland kommen, beteiligt. Wenn man während des Ereignisses auf den Platz kam, befand man sich auf einmal inmitten vieler Türken, Chinesen, Inder oder Studenten aus afrikanischen Ländern wieder. Nach 12 Uhr in der Nacht kamen dann auch die Ukrainer dazu. Das war dann eine schöne, gemeinsame Feier. In diesem Jahr wird uns beides fehlen. Wir werden keinen Weihnachtsbaum haben und die Studenten werden auch nicht da sein.
In einigen Tagen geben sie gemeinsam mit Yuriy Gurzhy, dem Berliner Russendisko-Partner von Wladimir Kaminer, in Charkiw ein Konzert. Gurzhy schrieb kur Kurzem, dass er auf einmal nur noch Ukrainisch spricht und die russische Sprache unwichtiger wird. Beobachten Sie dieses Phänomen, das Yuriy Gurzhy beschreibt, in Ihrer Umgebung auch?
Ich spreche schon mein ganzes Leben lang Ukrainisch. Ich habe kein Russisch abgelegt. Ich bin ein ukrainischsprachiger Ukrainer. Mein verstorbener Vater und meine Mutter haben Ukrainisch gesprochen.
Das ist ein sehr wichtiger und auch schmerzhafter persönlicher Prozess, und auch eine schmerzhafte Erfahrung. Es gibt tatsächlich viele Charkiwer, die vom Russischen ins Ukrainische wechseln. Das hängt einfach damit zusammen, dass die ukrainische Sprache ein gewisser Marker für die Einstellung, für die Lebenseinstellung aber auch für die Identität ist. Man muss das noch einmal sehr deutlich machen, weil in Westeuropa viele Menschen der russischen Propaganda erlegen sind. Es gibt diesen Begriff „russischsprachiger Ukrainer“ und das ist eigentlich nicht korrekt. Denn die Ukrainer, die im Osten der Ukraine leben, sind zweisprachig. Sie sprechen Ukrainisch und auch Russisch. Deswegen fällt es ihnen auch nicht schwer, ins Ukrainische zu wechseln. Das ist kein Wechsel einer Identität oder der Übergang in eine fremde, sondern einfach das Sichtbarmachen einer ukrainischen Identität, die es schon immer gegeben hat. Und Yuriy Gurzhy spricht hervorragend Ukrainisch.
Vor was haben Sie in diesem Winter am meisten Angst?
Die meiste Angst habe ich um die Zivilbevölkerung – Frauen, Kinder, alte Menschen -, die eben sehr in dem eingeschränkt sind, was sie noch machen können und auch leiden. Die sind die Geiseln dieses Winters und dieses Krieges.
Vielen Dank für das Gespräch!