Der Roman ist 800 Seiten dick – und das auch noch in einer kleinen Schrift. Wer sich auf „Die Erfindung der RAF durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ einlässt, muss also viel Zeit investieren. Da stellt sich schnell die Frage, ob sich das lohnt? Für all jene, die sich auf barocke Vielfalt bei Inhalt und Form einlassen können unbedingt. Und für all jene, denen Lesen mehr als ein netter Zeitvertreib ist, wird dieses Buch eine schier unglaubliche Fülle an Entdeckungen bereithalten.
Witzel nimmt uns mit in die Gedanken- und Vorstellungswelt eines Teenagers, der die Beatles liebt, seinen Vater, den Fabrikanten, fürchtet, seine kranke Mutter wahrnimmt und der voller Komplexe in den 1960er-Jahren scheitert, normal erwachsen zu werden. Der Mann, der aus diesem Buben wurde, blickt bei Vernehmungen und bei therapeutischen Sitzungen zurück. Und dabei entspinnt er immer neue Geschichten darüber, wie sich sein Leben entwickelte oder hätte entwickeln können. Im Kosmos der Möglichkeiten entsteht ein facettenreiches Bild von den Ängsten und Hoffnungen, den Aufbrüchen und Dämpfern, die in der bundesrepublikanischen Provinz das Leben in den 1960er- und 1970er-Jahren prägten. Da der Junge eine gespaltene Persönlichkeit hat und auch noch manisch-depressiv ist, ergeben sich allein aus diesen Krankheitsbildern mehrere Interpretationen nur eines Erlebnisses.
Obwohl das auf manchen Seiten irre Geschichten produziert, ist das Buch nicht wirr. Vielmehr versammelt es alle wesentlichen Denkschulen der Philosophie, Theologie und Psychologie dieser Jahre. Aus deren Denkstrukturen und -gebäude konstruiert und dekonstruiert Witzel in 98 Kapiteln seine vielschichtige Geschichte. Diese Kapitel variieren in Inhalt und Form, wie es unterschiedlicher kaum vorstellbar ist. Da werden phantastische Erzählungen erzählt, Gedichte entworfen, Dialoge und innere Monologe geführt. Und das dann wieder ironisch gebrochen. „Ich meine, ich, der Erzähler dieses inneren Monologs, dieser überholten und noch mal aufgequirlten Bekentnisprosa, die sich in nichts von Kugelschreiberaugen auf Schreibmaschinenpapier unterscheidet. Nur nicht ganz so zwingend. So entstehen nämlich Kriege. Folter und Verfolgung. Jeder hält seinen Sinn für von Gott oder von oben oder von unten oder von wo auch immer gegeben, während die anderen mit ihren jämmerlichen Sinnkonstruktionen umeinandlaufen. Ich bin kein Bayer, noch nicht mal mein Erzähler ist ein Bayer, aber man kann das einfach nicht anders sagen. Anders schon, aber nicht besser.“
Der Autor sucht für seinen Erzähler (oder besser seinen multiplen Erzähler) stets nach der passenden Form, dem besten Ausdruck. Und das bei so unterschiedlichen Aspekten wie den Unterschieden von Beatles und Rolling Stones, den Besuch eines katholischen Kloster-Internats, einem Besuch in der DDR oder dem langen stationären Aufenthalt in der geschlossenen Psychiatrie. Frank Witzel gelingt das. Weil er mit den Möglichkeiten der Literatur spielt, sie ausreizt und den Leser mit immer neuen Gedankenexperimenten konfrontiert. Wie gesagt, ein Buch für Leser, die sich irritieren und faszinieren lassen. Ein großartiges Buch!