„Wir können warten“. So lautet der Titel eines außergewöhnlichen Romans. Aber der Autor konnte gar nicht warten. Die Zeit ist über das Manuskript hinweg gegangen. 1935 war das Manuskript in einem Zustand, der noch eine weitere Überarbeitung erfordert hätte. Aber Stefan Großmann starb in Wien. Im Exil in seiner ursprünglichen Heimatstadt, nachdem er Berlin verlassen hatte. Jetzt, fast 80 Jahre später ist sein Roman erschienen. Und wenn man ihn gelesen hat, dann stellt man fest: Eigentlich konnten wir auf diesen Schlüsselroman nicht warten. Zu gut, zu packend ist die Geschichte vom Niedergang des Pressehauses Ullstein in den 1930er-Jahren.
Ullstein, das war: die Berliner Morgenpost, die B.Z. am Mittag oder Vossische Zeitung – aber auch Zeitungsexperimente wie Tempo, eine Zeitung für junge urbane Leser. Die Blätter des Ullstein Verlags zählten in den 1920er Jahren zu den wichtigsten Berlins. Das Familienunternehmen führten fünf Brüder in der zweiten Generation. Zum Konzern gehörten aber noch weitere Blätter, bedeutende Zeitschriften und ein Buchverlag. Schon Anfang der 1930er Jahre griffen die Nationalsozialisten den Verlag heftig an, weil die Ullsteins liberale Juden mit Einfluss waren.
Das ist der historische Rahmen des erstaunlichen Romans, der im Verlag Berlin Brandenburg erschienen ist. „Wir können warten oder Der Roman Ullstein“ heißt das Buch von Stefan Großmann vollständig. Stefan Großmann war ein bedeutender Intellektueller im Berlin der Weimarer Republik. Er war Herausgeber des Tage-Buch, der wöchentlichen Zeitschrift, in der im Dialog mit der berühmten Weltbühne die Debatten der Zeit geführt wurden. Zeitgleich war er Kulturchef der Vossischen Zeitung, der wichtigsten bürgerlichen Tageszeitung. Die wiederum erschien im Ullstein-Verlag. Deshalb kannte Großmann die Ullstein-Brüder und die Strukturen des Hauses in- und auswendig.
Sein Roman verdichtet die Phase des Untergangs auf wenige Wochen. Getrieben von einem Bruderkrieg, der teilweise an die TV-Serie „Dallas“ erinnert, zerlegt sich das Familienunternehmen selbst. Und wird so anfällig für Angriffe von Konservativen und Nazis. Der Wunsch der Ullstein-Brüder mit den Zeitungen vor allem Geld verdienen zu wollen verstärkte das nach. Und waren zu vielen Kompromissen mit der Politik bereit. Eine Schwäche, die Großmann so auf den Punkt bringt:
„Aber du mußt doch wissen, daß die Brüder alle Geschäftsleute sind! Das erste ist das Geschäft und das letzte. Nutzt deine Idee dem Verlagsgeschäft, so bist du ein Genie. Schadet sie ihm, so bist du ein Idiot, der schnellstens weggejagt werden muß. Presse ist genauso ein Geschäft wie bedruckter Kattun oder Branntwein. Wer den größten Absatz erzielt, verdient die größte Stellung. Das mußt du dir vor Augen halten. Der Abonnent und der Inserent, das ist der Käufer, um dessen Seele wir ringen. Es ist das Angenehme an den Kronsteins, daß sie in stillen Stunden zugeben, Zeitungsgeschäftsleute zu sein“
Stefan Großmann beobachtet scharf und ist mit einem dramaturgischen Sensorium gesegnet. Es gelingt ihm, die vielfältigen Charaktere scharf zu zeichnen und auf die zentralen Konflikte zu konzentrieren. So entsteht ein Schlüsseltext über den Niedergang der freien Presse und einer ganzen Republik.
Großmann hat den Brüdern in seinem Roman den Namen Kronstein gegeben. Natürlich gibt es noch eine Reihe weiterer Verfremdungen. Aber im Kern verarbeitet er den Untergang des Ullstein-Zeitungsimperiums zwischen 1930 und 1936. Und das in einem packenden Text, der die Hoffnung des Titels nicht erfüllt: Denn die Ullsteins konnten nicht warten. Genausowenig wie die anderen Juden Deutschlands und Europas. Aber das hat Stefan Großmann nicht mehr erlebt.