Die Rückkehr des Zuges in Eisenhüttenstadt

Bahnhof Eisenhüttenstadt
Bahnhof Eisenhüttenstadt

„Das gibt es doch gar nicht!“ „Scheiß Bahn!“ „Das ist doch unglaublich, der kann doch jetzt vor unserer Nase wegfahren!?“ Bahnhof Eisenhüttenstadt. Auf dem Bahnsteig versammeln sich immer mehr Reisende, die in genau diesen Zug nach Cottbus einsteigen wollen. Doch der fährt direkt vor unserer Nase weg. Als letzte erreicht die Schaffnerin des Zuges den Bahnsteig. Sie hatte uns alle vor dem Bahnhofsgebäude in Empfang genommen, als uns der Bus des Schienenersatzverkehrs zwischen Frankfurt (Oder) und Eisenhüttenstadt ausspuckte. „Gehen Sie gleich durch den Durchgang zum Zug. Er wartet schon!“ Das hatte sie gesagt. Doch das Warten stellte der Lokführer ein, als die ersten von uns den Bahnsteig erreichten. Er fuhr einfach los.

„Das gibt es doch gar nicht,“ meint die Schaffnerin. „Jetzt fährt mein Lokführer ohne uns los.“ Da lacht sie noch. Schüttelt den Kopf und ist auch schwer verwundert über das, was die Bahn so alles macht. Die Stehengelassenen schimpfen natürlich. Sie haben mit der Frau in der Bahnuniform eine Schuldige entdeckt. Sie stürmen auf sie ein. Machen ihr Vorwürfe, obwohl sie ja auch eine Zurückgelassene ist. Aber der härtesten Pöbler interessiert das nicht. Abe rdie Schaffnerin bleibt ruhig. Sie nimmt ihr Handy und ruft den Lokführer an. Sie spricht mit ihm – und dann? Dann sagt sie das Unfassbare: „Der Zug kommt in wenigen Minuten zurück. Der Lokführer muss nur noch anhalten und dann die fünf Waggons nach vorne laufen. Dann kommt er wieder und nimmt uns mit.“

Gibt es das wirklich? Fährt ein Zug zurück, um Fahrgäste doch noch mitzunehmen? Kaum zu glauben. Aber es stimmt. Fünf Minuten später rollt der Zug wieder in den Bahnhof ein, nimmt die wartende Menge auf. Die stürmt die Türen, will sich schnell setzen. Als trauten sie dem Frieden nicht. Als könnte der Zug erneut direkt vor ihrer Nase kehrt machen. Die Schaffnerin steigt als letzte ein. Ein Danke hat sie nicht gehört. Ein Lob für das Rückbeordern eines Zuges? Kein Wort. Weder von den Lauten noch von den Leisen. Sie alle sitzen im Zug. Viele ärgern sich noch immer. Sie haben ja Zeit verloren. Zeit verloren! Anstatt sich darüber zu freuen, dass für sie etwas in Bewegung gesetzt wurde, was es sonst ncht gibt.

In der Bahn wird das Leben erklärt

Im Kabarett lacht man über solche Figuren: Sie tragen Anzug. Sie sind laut. Sie haben Bauch. Und sie sind sich ihrer selbst ganz sicher. Aber wenn man ihnen in echt begegnet, wenn man ihnen nicht ausweichen kann, wenn man ihnen zuhören muss, weil sie selbst von den Stöpseln im Ohr nicht übertönt werden, dann ist Schluss mit lustig.

In der Bahn war es, morgens auf dem Weg zur Arbeit. Da setzte sich so ein Mann um die 50 mit einem Mittzwanziger direkt neben mich. Er gab dem jüngeren Ratschläge fürs Leben. Dabei war er sich ganz sicher, dass er weiß, wie das Leben funktioniert! Das Leben ist nämlich ganz einfach. Es gibt nur ein paar Grundsätze, an die man sich halten muss:

– Mit 35 musst du wissen, was du beruflich willst. Und dazu musst du wissen, worauf du stolz bist!
– Des muss man so sehen.
– Und dann kannst du dich um ein Weibchen kümmern.
– Des muss man so sehen. Das ist Lebenserfahrung.
– Dann hast du gute Chancen bei den Weibern, weil du dann Erfolg ausstrahlst. Dann kannst du dir eins aussuchen.
– Des muss man so sehen.
– Schau dir doch die Konkurrenz an. Da lach ich doch. All die verweichlichten Kerle. Weibisch, weinerlich. Ab in den Steinbruch oder ab in die Armee mit denen! Die Weiber stehen auf andere!
– Des muss man so sehen. Da gibt es nichts zu rütteln.
– Und dann machst du dem Weibchen zwei Kinder. Da sind die scharf drauf.
– Des muss man ganz genau so sehen. Glaub mir.
– Wir brauchen starke, dezidiert stabile Männer, nicht so Typen, wie sie überall rumlaufen.
– Des muss man so sehen.
– Du bist so einer. Jetzt musst du nur noch deinen Erfolg planen. Und dann läuft das.
– Glaub mir. Des muss man so sehen.
– Das Leben ist Erfolg, Gesundheit, Arbeit, Familie und Weibchen.
– Des musst du so sehen. Dann klappt alles.
– Nur die ganzen Schlappschwänze stören. Die gehören echt alle ins Arbeitslager, in den Steinbruch. Die Jugendlichen, die in ein Drill-Camp kommen, sind nach ein paar Wochen alle geheilt. Das muss man mit den anderen Schmarotzern auch machen.
– Da geht kein Weg dran vorbei. Des ist meine Meinung. des muss so sein.

So verlief das Gespräch. Wobei nur einer sprach. Der Mann im Anzug. Der Mann, der weiß, wo es lang geht. Dann ist er zum Glück ausgestiegen. Hat aber weiter gedröhnt. In mir drin. Und dröhnt noch immer. Mit dem dem Wunsch, dass er mal in ein Drill-Camp kommt. Als Unter und nicht als Ober.

Verlassen am Ostbahnhof

Berliner Ostbahnhof, wenn der Zug weg ist.
Berliner Ostbahnhof, wenn der Zug weg ist.

Wenn Dich die S-Bahn in der tiefsten Kälte stehen lässt.
Wenn Du es dann doch noch zum Ostbahnhof schaffst, wo Du in den Zug steigen willst.
Wenn Du den Zug doch noch auf dem Bahnsteig stehen siehst und erleichtert tief die kalte Luft einatmest.
Wenn die Tür aber nicht aufgeht und der Zug Dich einsam auf dem Bahnsteig zurücklässt.
Wenn Du dann vor lauter Fassungslosigkeit gar nicht in der Lage bist, Dich zu ärgern.

Dann.

Ja dann schafft es nicht einmal die Sonne, die noch tief stehend Dich blendet, Dir ein Lächeln zu entlocken.
Dann ist Dein Blick leer wir der Bahnsteig.

Und Deine Lust auf den Tag ist verschwunden wie dieser Zug.