Journalistisches Handwerk in Zeiten der Flüchtlings-Hysterie

Engen uns unsere handwerklichen Grundregeln und Leitplanken ein? Das ist eine für Journalisten sehr typische Frage. Eine Frage, wie sie alle paar Jahre, manchmal auch nur alle paar Monate neu gestellt wird. Ich erinnere mich an einen großen Seite-3-Atrikel von Herbert Riehl-Heyse aus den frühen 1990er-Jahren. In ihm ging es anlässlich der damaligen Asyldiskussion auch um Presseethik und Pressekodex. Er schrieb damals, dass es keinen Berufsstand gebe, der sich so oft in Frage stelle, wie der Journalismus. Und um das zu verdeutlichen fragte er: Könne sich irgendjemand vorstellen, dass etwa die Landesinnung der Metzger jedes Jahr bei der Jahreshauptversammlung aufs Neue die Frage nach der Moral des eigenen Handelns stelle? 

Pegida und die Lügenpresse – Verweigerung der Wirklichkeit

Dresden und die angrenzenden Landkreise sind fest in der Hand der „Sächsischen Zeitung“. 1,6 Millionen Menschen leben in der Region. Knapp 235.000 von ihnen haben die Regionalzeitung abonniert. Das ist gut jeder siebte. Wenn man bedenkt, dass jedes Exemplar von zwei bis drei Menschen gelesen wird, dann kommt man auf eine Reichweite der „Sächsischen Zeitung“ von 28 bis 42 Prozent. Das heißt im Umkehrschluss, dass zwischen 58 und 72 Prozent der Sachsen ihr Regionalblatt nicht lesen.

Dieser Befund ist nicht wirklich überraschend. Die Zahlen sind vergleichbar mit vielen Regionen in Deutschland. Weshalb sie für Dresden jetzt so interessant sind, liegt an der Ablehnung der „Lügenpresse“ durch die fremdenfeindlichen Pegida-Anhänger in Dresden. Zwar gibt es in Dresden noch die kleine Zeitung „Dresdner Neueste Nachrichten“ und die „Morgenpost“. Aber auch zusammen mit deren Auflage lesen in der Region höchstens die Hälfte Zeitung. Die andere Hälfte hat mit Printprodukten nichts zu tun. Oder nichts mehr. Denn der Auflagenverlust der vergangenen zehn bis 20 Jahre belegt, dass die Zeitung für immer weniger Menschen notwendig ist. Vor 15 Jahren abonnierten noch 361.981 die „Sächsische Zeitung“. Das ist in 15 Jahren ein Auflagenrückgang von 35 Prozent.

Die Regionalzeitungen waren immer die Medien, die von den meisten Deutschen rezipiert wurden. Sie erklärten die Welt, sortierten, wer auf welcher politischen Ebene für was verantwortlich ist. Sie hatten das lokale Umfeld des Lesers genauso im Blick wie Landes-, Bundes- und Außenpolitik. Und das tun sie noch heute. Die Pegida-Anhänger denunzieren diese Leistung. Sie behaupten, dass alle Journalisten von „Sächsischer Zeitung“, überregionalen Zeitungen, Hörfunk, TV und Online-Medien gleichgeschaltet seien. Und dass sie sich weigern, die Wirklichkeit wahrzunehmen. Dabei ist gerade ihre Weigerung, sich mit den Median auseinanderzusetzen und sie als „Lügenpresse“ zu diffamieren, ein Beleg für ihre Wirklichkeitsverweigerung.

Nun machen Journalisten Fehler. Sie können nicht über alles schreiben. Der Sparzwang in den Redaktionen führt dazu, dass nicht mehr über jeden Ort, jedes Ereignis berichtet werden kann. Wer über das, was ihn umgibt, nichts mehr in der Zeitung findet, verliert langsam das Interesse an ihr – oder hat es nie gewinnen können. Aber auch das ist zu einfach. Damit kann man erklären, warum sich nicht mehr informiert wird. Aber vor allem zeigt es, dass die Grundfunktion der Regionalzeitung, nämlich die bürgerliche Öffentlichkeit zu konstituieren, von den Dresdner Demonstranten nicht mehr gewollt wird. Und das ist das eigentlich dramatische.

Die Pegida-Anhänger missbrauchen den Ruf der friedlichen Revolution. Sie skandieren: “ Wir sind das Volk.“ Im Gegensatz zu 1989 bringen sie damit zum Ausdruck, dass sie sich nicht als Bürger verstehen, sondern als Teil eines völkischen Ganzen. Als Bürger müssten sie sich informieren und einbringen, müssten Diskussionen führen und eine Kompromisskultur leben. Aber sie wollen keine Kompromisse. Sie wollen nicht teilen, weder mit Flüchtlingen noch mit irgend jemandem anderen. Sie wollen sein, was sie schon immer waren. Und auf keinen Fall wollen sie mit der Wirklichkeit konfrontiert werden. Sonst würden sie sich mit der „Sächsischen Zeitung“ oder anderen Medien auseinandersetzen. Und sie nicht als Lügenpresse niederbrüllen. „Wir sind das Volk“ wird von ihnen völkisch umgedeutet. Und „Lügenpresse“ ist mindestens seit Joseph Goebbels der Terminus technicus der Rechtsextremen, um freie Medien und die Demokratie zu diffamieren. Das ist der Rahmen, in dem sich Pegida bewegt.

Der gefährliche Mix aus Medienverachtung, völkischem Ressentiment und Beleidigt-Sein auf der einen Seite, veränderter Medienlandschaft und der damit verbunden Abkoppelung eines großenTeils der Gesellschaft von den demokratischen Beteiligungsprozessen auf der anderen, das sind die großen Herausforderungen im Umgang mit Pegida. Das erfordert vor allem neue Ideen für eine andere mediale Landschaft, die Journalismus nicht als konstitutiv begreift und notfalls auch unabhängig von den Regionalzeitungen finanziert, oder in Kombination mit ihnen.

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Mehr zum Thema: Politische Kommunikation – oder Wie sage ich es den Bürgern? – Zusammenfassung meines Vortrags bei einem Workshop vom „Bündnis für Demokratie und Toleranz“ und „Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.“ am 24. September 2011 in Kassel.

(1) – Einführung
(2) – Kommunikations-Versagen: Stuttgart 21
(3) – Kommunikations-Versagen: Flughafen Schönefeld
(4) – Kommunikations-Versagen bei den Stromtrassen

(5) – Veränderte Rolle der Tageszeitungen
(6) – Gefährdete Öffentlichkeit in Mecklenburg-Vorpommern
(7) – Wie lässt sich regionale Öffentlichkeit dennoch herstellen?
(8) – Piraten als Ausdruck veränderter Kommunikation
(9) – Bürgerengagement im Netz