Wenn dem Arzt der Anstand fehlt

„Das Melanom ist der gefährlichste Krebs.“ Da sagt der Hautarzt mit dem nötigen ernst. Lediglich zwei oder drei andere wären vergleichbar fatal. Deshalb sei die Vorsorge auch so wichtig. Das leuchtet ein. Deshalb lässt man sich die Haut vom Spezialisten absuchen. Mit dem bloßen Auge macht das der Herr im weißen Kittel. Denn die Benutzung einer Lupe würde 15 Euro extra kosten.

Nun mag es schon absonderlich sein, dass die Gebührenordnung für Kassenärzte die Verwendung der Lupe nicht vorschreibt. Vielleicht wird sie sogar bewusst ausgeschlossen, weil das die Ärztelobby durchgesetzt hat. Aber das heißt doch noch lange nicht, dass der Arzt ernsthaft darauf verzichtet sie einzusetzen. Wie würde er denn reagieren, wenn der Handwerker sagt: „Elektrische Bohrmaschine kostet extra. Wir bohren von Hand!“

Wahrscheinlich würde genau dieser Arzt am Verstand des Handwerkers zweifeln. So wie ich am Anstand des Weißkittels. Wenn das Melanom so gefährlich ist, wie er und die Fachliteratur es sagen, dann müsste er die Suche danach doch so ernst nehmen, dass er dafür nicht die Hand extra aufhält.

Kluun erzählt vom Brustkrebs seiner Frau

Die Nachricht ist ein Schlag mitten ins Gesicht: Carmen hat Brustkrebs. Sie ist 35, verheiratet und hat ein Kind. Außerdem ist sie erfolgreiche Geschäftsfrau. Was wie der Plot eines rührseligen Betroffenheitsdramas klingt, ist der Stoff eines der besten Bücher
des Jahres: Mitten ins Gesicht.

Kluun heißt eigentlich Raymond van de Klundert (41). Als er anfing zu schreiben, ging es tatsächlich um die Aufarbeitung des Krebstodes seiner Frau. Die starb mit 36. Doch seine Lektorin und viel eigene Arbeit am Text machten aus den Aufzeichnungen einen Roman.
Der schlug in den heimischen Niederlanden wie eine Bombe ein. Er kletterte auf Platz eins der Bestsellerlisten und entfachte die Debatte über Sterbehilfe neu.

Kein Wunder. Denn Kluun schildert eine starke, selbstbewusste Kranke, die beschließt, wann sie sterben will. Nämlich dann, als die Chemotherapie durchgestanden, die Brust amputiert ist und die nächsten Chemos nach der Streuung der Metastasen in die Leber keine Wirkung mehr erzielen. Da kommt der Punkt, an dem der Schmerz der einst so lebensfrohen Carmen den Nerv raubt.

Wer liest, wie sich die Krankheitsgeschichte darauf zu bewegt, kann sich diesem Sterbehilfe-Plädoyer nicht entziehen. Viel wichtiger ist jedoch die Sicht des Mannes. Stijn zerbricht fast. In der Beziehung, in der Sexualität ein so wichtiges Element war, zerstört die Nachricht vom Brustkrebs das ganze Gefüge. Stijn leidet wie ein Hund, weil er jedes nur denkbare Verständnis für Carmen aufbringt, aber dennoch nicht ohne Sex leben kann. Er stürzt sich in Affären, beginnt ein Verhältnis, schluckt XTC (Ecstasy) und versucht auch sonst, immer wieder aus dem Käfig mit der kranken Carmen zu fliehen.

Das ist aber nur die eine Seite. Die andere ist seine vollständige Bereitschaft, bei jedem Arzttermin dabei zu sein, stets die emotionale Stütze für die Liebe seines Lebens – so Stijn immer wieder – zu bleiben. Es ist diese Perspektive, die das Buch so lesenswert macht. Natürlich ist Carmen krank. Sie kämpft mit dem Tod und stirbt. Doch Kluun zeigt auch, was es für die Partnerschaft bedeutet, wenn die Brust als Sinnbild für Erotik und Sinnlichkeit entfernt wird. Wenn Diagnose und zerstörerische Therapie alles radikal verändern. „Mitten ins Gesicht“ ist ein Roman über eine tiefe Liebe. Songzitate, SMSen, Tagebucheinträge und Kneipentipps bilden den Rahmen der unsentimentalen Erzählung.
Kluun schreibt ruhig und sachlich. Die Wirkung ist aber ganz anders: Wer das Buch ohne eine Träne zu vergießen liest, hat ein Herz aus Stein.

Kluun: Mitten ins Gesicht, Scherz Verlag