Mein Kopf ist von gestern

Ertappt. Da habe ich mich bei einem Gedanken ertappt, den ich bei allen anderen immer als – nun ja, nicht gerade zeitgemäß – einordnen würde. Das Flugzeug von Berlin nach Ankara ist ziemlich voll. Ein Blick in die Kabine und ich denke: Wahnsinn, ich bin der einzige Deutsche. Doch bei der Einreise wird alles anders.

Die Schlange vor dem Schalter für Türken und dem für die anderen Nationalitäten ist gleich lang. Vor mir wird fleißig deutsch gesprochen. Die Pässe sind auch alle EU-rot. Die Türken sind gar keine Türken mehr. Sie sind Deutsche. Auch wenn ich auf diese Selbstverständlichkeit erstmal gar nicht gekommen bin. Deutschland ist bunter. Das wollten wir doch immer. Aber der Kopf ist leider noch nicht so selbstverständlich bunt. Der sortiert noch immer nach fragwürdigen Äußerlichkeiten.

Matthias Matusseks abstruses Traktat „Wir Deutschen“

Matthias Matusseck: Wir Deutsche
Matthias Matusseck: Wir Deutsche

15 Jahre war Matthias Matussek als Spiegel-Korrespondent im Ausland. Dann kehrte er zurück und hat „Wir Deutschen“ geschrieben. Ach wäre er doch nur weggeblieben, dann gäbe es dieses abstruse Traktat nicht.

Inzwischen ist Matussek Kulturchef beim Spiegel. Er hat eine lupenreine Karriere als  Konvertit hinter sich. In den 70er Jahren war er Mitglied abstruser K-Gruppen (also westdeutscher kommunistischer Sektierer). Und jetzt ist er glühender Nationalist.
Matussek feiert Selbstverständlichkeiten als Argument für einen neuen deutschen
Nationalismus. Er freut, sich, dass die Landschaft so schön ist, dass das Brot gut
schmeckt, die Infrastruktur gut ist und das Land sicher ist. Und Rockmusik mit intelligenten deutschen Texten hat er auch gehört. Das ist doch allerhand.

Man muss schon sein gesamtes bisheriges Leben blind durch Deutschland gegangen
sein, um all diese Schönheiten erstaunlich zu finden. Wer daraus einen neuen deutschen Nationalismus ableitet, der sollte dringend mal kalt duschen. Denn die Infrastruktur ist auch ohne Nationalismus so fein aufgebaut worden.  Matusseks Buch ist besonders  ärgerlich, weil es so viel Unsinn so verdammt gut erzählt. Denn der Kerl kann schreiben. Ob das all die Nationalisten zu würdigen wissen, denen Matussek mit seinem Text dient, ist aber fraglich.

Matthias Matussek : Wir Deutschen. S. Fischer; Gebunden. 352 Seiten.18,90 Euro.