Das stille Haus liegt direkt am Marmarameer. Als es gebaut wurde, stand es ganz allein. Doch inzwischen – 1980 – ist der schöne Fleck zu einem Ort mit Touristenrummel gewachsen. Alles verändert sich. Nur die Bewohnerin des Hauses nicht. Fatma ist 90. Aber eigentlich will sie noch immer so verstockt sein, wie als 17-jähriges Mädchen.
„Das stille Haus“ von Orhan Pamuk bündelt das Leben dieser Frau. Und aller Katastrophen, die aus ihrem Handeln gewachsen sind. Denn das Haus ist zwar still, weil es fast das ganze Jahr nur von der Tyrannin Fatma und ihrem Diener Recep bewohnt wird. Aber diese Stille birgt böse Geheimnisse.
Der Leser erfährt von diesen aus der Perspektive Fatmas, die auf ihr Leben zurückblickt. Recep ist der zweite Erzähler des Buches. Auch er blickt auf sein Leben zurück, ist aber viel stärker in der Gegenwart verankert. Denn er beobachtet seine Umgebung ganz genau. Und dazu gehören die drei Enkel Fatmas, die im Sommer 1980, kurz vor dem Militärputsch in der Türkei, wie jedes Jahr das Haus beleben. Metin, ein Student, und Faruk, ein Historiker sind die nächsten Stimmen, die dem Leser das Leben im und um das stille Haus erzählen. Enkelin Nilgün bekommt keine eigene Stimme. Sie wird vor allem als Objekt der Liebe Hasans beschrieben, der als fünfter und letzter Ich-Erzähler zu Wort kommt.
Hasan hat mit den Enkeln früher gespielt, da er der Neffe Receps ist. Und wie sich im Laufe des Romans herauskristallisiert auch mit den Enkeln verwandt ist. Denn Fatmas Mann ist Receps und Hasans Vater. In dem Roman geht es also um die großen Familienthemen Liebe, Hass, Verachtung, Gewalt und Verdrängung durch Suff. Dem verfiel Fatmas Mann, derm verfiel deren beider Sohn und Enkel Faruk ist auch auf dem besten Weg sein leben dem Raki zu weihen.
Orhan Pamuks zweiter Roman knüpft teilweise an seinen Erstling „Cevdet und seine Söhne“ an. Zum einen tauchte Fatma in diesem als Randfigur bereits auf. Zum anderen ist Cevdet auch Gesprächsthema. Dadurch wird Pamuks eigene Familiengeschichte weitergeschrieben. So wie eigentlich in allen seinen Büchern der autobiografische Anteil sehr groß ist. Sein literarischer Kniff, die Geschichte aus der Perspektive von fünf Ich-Erzählern zu beleuchten, erzeugt für eine große Spannung. Die unterschiedlichen Charaktere kommen durch ihre eigenen Worte besonders gut zur Geltung. Und ihr Denken.
Pamuks Familienroman erzeugt ein bedrückendes Bild von der Türkei, die sich dem Westen öffnete und der Tradition doch verhaftet blieb. Für diese Zerrissenheit stehen Fatma und ihr Mann. Zwei Generationen später spielt die Tradition keine Rolle mehr, aber der Faschist Hasan und die Kommunistin Nilgün stehen für eine neue Zerrissenheit, die der Militärputsch dann mit Gewalt zu kitten versuchte. All diese Dinge spielen im Roman nur eine untergeordnete Rolle – der Putsch sogar gar keine, da er erst nach Ende des Buches passiert. Aber das Private ist in diesem Buch eben immer auch gesellschaftlich relevant, ohne dass es gesagt werden muss. Diese Schicht erschließt sich dem Leser erst auf dem zweiten Blick, nachdem er einen packenden Roman gelesen hat, der sich bis zum Totschlag steigert.