Es dröhnt beim Betreten des Zuschauerraums am BE. Mit lauter Musik – einer Mischung aus Techno und Rock – begrüßt das Berliner Ensemble das Publikum. Die Bühne ist nackt. Die Kabel und die Notleitern sind zu sehen. Und ein Ensemble, das wild durcheinander auf der Bühne tanzt. Schon dieser erste Eindruck macht klar, dass hier kein klassischer Faust-Abend droht. Stattdessen Schauspieler in Bewegung, die bis zur Selbstaufgabe Bilder zu Musik formen und dabei mit ihren Stimmen den alten Goethe als Lied mit voller Wucht vor dem Verstummen in Reclam-Heftchen oder repräsentativen Klassiker-Ausgaben bewahren.
Sobald der lange Abend mit „Faust I und II“ am Berliner Ensemble beginnt, ist also Erstaunen. Und das nimmt noch zu, wenn das eigentliche Spiel beginnt. Denn was es an diesem Abend nicht gibt, macht das Stück eigentlich aus: lange Monologe und Dialoge. Aber hier wird selbst der berühmte Eingangsmonolog zerschmettert, weil nicht ein Faust über die Wissenschaft räsoniert, sondern gleich vier. Die haben es mit drei Gretchen zu tun. Aber mit keinem einzigen Studenten. Robert Wilson hat bei seiner Inszenierung konsequent auf alles verzichtet, was den (einstigen) Schüler an seinen Deutsch-Unterricht erinnern könnte. Stattdessen hat er eine Art Nummernrevue aus den Stücken geformt, in der der großartige Christopher Nell als Mephisto wie eine Art Conférencier durch die musikalischen Bilder führt.
Jede Szene wird zu einem belebten Bild, das mehr sein will, als Aktion auf der Bühne. Es will Film sein und Gemälde, es will Foto und vor allem Abstraktion sein. Wilson destilliert das Wesentliche aus Goethes Faust in bewegte Bilder, die immer mehr sind als von Goethe intendierte Bühnengeschehen. Sie wollen sich den Zuschauern einbrennen. Sie sollen die Erinnerung bestimmen. und möglichst auch die Gedanken bei nächsten Gespräch über Faust oder den e oder die Hexen in der Walpurgisnacht.
Herbert Grönemeyer hat die Nummern in Musik verwandelt. Was Robert Wilson als optisch verdichtete Dichtung auf die Bühne bringt, ist ohne die abwechslungsreiche, kraftvolle und vor allem dominante Musik nicht denkbar. Grönemeyer hat aus der Textfassung von Jutta Ferbers Musiktheater kreiert. Irgendwo zwischen Oper und Musical bewegt sich das Ganze. Jeder Ton des acht Personen starken Orchesters sitzt, die Schauspieler können alle singen. Und so wird am BE aus Goethes Faust ein Goethe-Wilson-Grönemeyer Faust. Das ist ganz schön gewagt, aber vor allem ist es eindringlich und zeitgemäß.
Der erste Teil ist dabei der bessere. Wie auch im echten Leben, wo am zweiten Teil des Fausts fast alle Leser scheitern. Aber Wilson und Grönemeyer schaffen es, auch den zweiten Teil für die Zuschauer so zu öffnen, dass mehr als nur Effekte im Gedächtnis bleiben.