Sie war in der Literaturszene des frühen 20. Jahrhunderts in Russland eine wichtige Größe: Sinaida Hippius. Sie war mit allen wichtigen Intelektuellen bekannt, ihre Gedichte wurden gelesen und ihre Mitarbeit bei Zeitschriften und Zeitungen geschätzt. In der Anderen Bibliothek jetzt ein besonderes Buch von ihr erschienen: die „Petersburger Tagebücher 1914 – 1918“.
In ihnen schildert sie ihre Sicht auf den 1. Weltkrieg. Sie beschreibt die schwache Regierung von Zar Alexander, den schwankenden Nationalismus und vor allem die schlechte Regierungskunst, die dann 1917 zu deren Sturz und einem permanentem revolutionären Zustand führte. Ihre Wohnung in St. Petersburg ist ein Ort, an dem sich liberale und linke Politiker treffen. Hier werden Resolutionen diskutiert, politische Aktionen vorbereitet und das Agieren der Generalität an der Front, des Zaren auf dem Thron oder der Regierung analysiert. Und das erstarken der revolutionären Kräfte, das Versagen Kerenskis und der Aufstieg der Bolschewisten.
Vor allem aber hat Sinaida Hippius von Anfang an einen Blick für die Brutalität und institutionalisierte Rechtlosigkeit der Bolschewisten. Gerade vor dem Hintergrund des aktuellen Ukraine-Kriegs ist die Lektüre deshalb sehr aufschlussreich. Das bezieht sich auf das Agieren Russlands in der Ukraine in den Jahren 1917 und vor allem 1918. Aber auch auf die Kultur der Desinformation, die heute zu einer erschreckenden Perfektion ausgebaut wurde. Hippius schildert in klaren Worten, wie sich Maxim Gorki den Bolschewisten andiente und wie er sich letztlich moralisch korrumpierte. Vor allem aber beschreibt sie die Sehnsucht zu Europa zu gehören – und nicht zu einem Russland, das das Leben und die Rechte des Einzelnen nicht achtet. Nicht umsonst ist sie selbst 1919 aus Russland geflohen. Zu viele der eigenen Freunde waren zu diesem Zeitpunkt den Mördern im Dienste Lenins und Trotzkis schon zum Opfer gefallen.
Bettina Eberspächer und Helmut Ettinger haben die Tagebücher aus dem Russischen in ein klares Deutsch übersetzt. Da Tagebücher keine Lektüre sind, die von Form und Inhalt per se Spannung aufbauen, ist es auch ihr Verdienst, dass das Lesen stets fortgesetzt werden will. Christa Ebert hat den Text mit einem guten Apparat versehen und in einem Nachwort eingeordnet.
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