Kurz nach dem Zusammenbruch des Warschauer Blocks hat Karl Schlögel seinen Band „Das Wunder von Nishnij“ veröffentlicht. In ihm sind Texte versammelt, die vor allem in der „Zeit“ und der „FAZ“ erschienen sind. Ihr Thema: „Die Rückkehr der Städte“ – so der Untertitel – im ehemaligen Osten, der eigentlich Mitteleuropa ist.
Bei der Vorbereitung meiner Reise nach Lemberg ist mir der Band wieder in die Hände gefallen. Eigentlich wollte ich etwas Aktuelles über die Stadt lesen, doch dann bin ich an dem Essai über die ehemalige Hauptstadt Galiziens hängengeblieben. Denn Karl Schlögel fasst auf gut 20 Seiten nicht nur die Geschichte der Stadt anschaulich knapp zusammen, sondern er schafft es, die Gegenwart der Vergangenheit im Alltag der Stadt kurz vor Ende der Sowjetunion zu beschreiben. Dadurch entsteht ein ganz besonderer Blick auf die Stadt, die damals noch sehr schwer zu erreichen war.
Heute fliegt man von Berlin über Wien in weniger als vier Stunden nach Lemberg. Damals war es ein zweitägige Zugfahrt. Durch den Hitler-Stalin-Pakt war dei Stadt an die Sowjetunion gefallen und war so zu einer ihrer westlichsten Städte geworden. Für Schlögel war die Stadt trotz ihrer Isolation und ihrer Abgeschnittenheit von den Räumen zu denen sie eigentlich gehörte, ein Teil Zentraleuropas. Das Warum legt er in diesem Essai so gut nachvollziehbar frei, dass er auch heute noch seine Gültigkeit hat. Besonders faszinierend ist der Weitblick, den Schlögel damals hatte. Viele seiner Prognosen sind eingetreten.
Ganz nebenbei ist die Buchgestaltung dieses Bandes 71 der “Anderen Bibliothek” sehr schön. Bleisatz auf gutem Papier, bei dem der Abstand zwischen den einzelnen Buchstaben nicht immer identisch ist, weil das in dieser alten Drucktechnik nicht ging. Und dennoch entsteht ein klares Druckbild, dessen einzelne Buchstaben sich manchmal fast ertasten lassen. Wunderbar!
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